Bundesministerium für Gesundheit
Berlin, 2. November 2015
Parlamentarische Staatssekretärin
An den Präsidenten des Bundesrates
Herrn Ministerpräsidenten
Stanislaw Tillich
Sehr geehrter Herr Präsident,
zu der vom Bundesrat in seiner 930. Sitzung am 6. Februar 2015 gefassten Entschließung "Kosten der Behandlungspflege in Einrichtungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch" (Drs. 612/14(B) )* übersende ich die als Anlage beigefügte Stellungnahme der Bundesregierung.
Mit freundlichen Grüßen
Annette Wiedmann-Mauz
Stellungnahme der Bundesregierung zur Entschließung des Bundesrates vom 6. Februar 2015 "Kosten der Behandlungspflege in Einrichtungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch"
(Drs. 612/14(B) )
Mit der Entschließung "Kosten der Behandlungspflege in Einrichtungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch" wird die Bundesregierung gebeten, "umgehend die gesetzlichen Voraussetzungen zu formulieren, unter denen in einer stationären Einrichtung der Behindertenhilfe Leistungen nach § 37 SGB V bezogen werden können. Alternativ käme eine Öffnung des Begriffs,andere geeignete Orte' für alle stationären Einrichtungen der Eingliederungshilfe in Betracht."
Begründet wird die Entschließung damit, dass es für Menschen, die in Einrichtungen der Behindertenhilfe leben, immer wieder zu Problemen bei der Kostenübernahme durch Krankenkassen für ambulante Pflegeleistungen nach § 37 SGB V komme. Es lägen divergierende Entscheidungen verschiedener Landessozialgerichte zu der Frage vor, ob stationäre Einrichtungen der Behindertenhilfe als "sonstige geeignete Orte" im Sinne des § 37 SGB V bzw. der Krankenpflege-Richtlinie anzusehen seien. Da seitens der Rechtsprechung eine Auslegung des Begriffs "sonstige geeignete Orte" immer nur für den Einzelfall erfolge, könne nur eine klarstellende gesetzliche Regelung zu mehr Rechtssicherheit und Leistungsgerechtigkeit führen.
Dabei geht es um die Frage, ob Versicherte in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe Anspruch auf Leistungen der medizinischen Behandlungspflege (z.B. Medikamentengabe, Blutdruckmessen, Insulininjektionen, Wundverbände) als Leistung der häuslichen Krankenpflege gegenüber ihren Krankenkassen haben können.
In dem zum 1. April 2007 in Kraft getretenen GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) ist geregelt worden, dass häusliche Krankenpflege nach § 37 SGB V nicht nur im Haushalt und in der Familie der Versicherten, sondern auch an "anderen geeigneten Orten" erbracht werden kann. Die nähere Bestimmung geeigneter Orte wurde dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) überlassen. Dieser hat abstrakt in der Häuslichen Krankenpflege-Richtlinie bestimmt, dass Leistungen an Orten erbracht werden können, an denen sich Versicherte regelmäßig wiederkehrend aufhalten, die Maßnahme zuverlässig durchgeführt werden kann und geeignete räumliche Verhältnisse vorliegen. Entsprechend der gesetzlichen Begründung des GKV-WSG wurde bestimmt:
"Für die Zeit des Aufenthalts in Einrichtungen, in denen nach den gesetzlichen Bestimmungen Anspruch auf die Erbringung von Behandlungspflege durch die Einrichtungen besteht (z.B. in Krankenhäusern, Rehabilitationseinrichtungen, Hospizen, Pflegeheimen), kann häusliche Krankenpflege nicht verordnet werden. Ob ein solcher Anspruch besteht, ist im Einzelfall durch die Krankenkassen zu prüfen."
Das Bundessozialgericht (BSG) hat jüngst in drei Verfahren Rechtsstreite zu den vorliegenden Fragen entschieden (Urteile vom 25. Februar 2015, Az. B 3 KR 10/14 R und B 3 KR 11/14 R sowie vom 22. April 2015, Az. B 3 KR 16/14 R). Das BSG hat in seinen Entscheidungen die in der Häuslichen Krankenpflege-Richtlinie des G-BA bestimmten Leistungsvoraussetzungen für rechtmäßig erachtet und nähere Hinweise zur Leistungszuständigkeit der GKV in Abgrenzung zur Eingliederungshilfe der Sozialhilfe in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe gegeben. Damit ist eine höchstrichterliche Klärung zu wesentlichen Streitfragen erfolgt. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Rechtsprechung der Sozial- und Landessozialgerichte sich an den Entscheidungen des BSG orientieren wird und unterschiedliche Gerichtsentscheidungen, die in der Entschließung des Bundesrates für ein erforderliches gesetzgeberisches Handeln genannt werden, künftig vermieden werden.
Das BSG hat die den Regelungen der Häuslichen Krankenpflege-Richtlinie zugrundeliegende differenzierende Sichtweise bestätigt. Hiernach hängt die Leistungsverpflichtung der Krankenkasse in einer stationären Einrichtung der Behindertenhilfe davon ab, dass Versicherte im konkreten Fall keinen Anspruch auf die Erbringung der Maßnahme durch die Einrichtung haben. Das BSG hat bestätigt, dass die Einrichtungen nach dem Recht der Eingliederungshilfe zu Pflegeleistungen verpflichtet sind. Dies gelte für Leistungen der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung. Medizinische Behandlungspflege sei wegen des Nachrangs der Sozialhilfe vorrangig von den Krankenkassen zu erbringen. Allerdings gelte dies nicht für einfachste Maßnahmen der Krankenpflege, für die es keiner besonderen medizinischen Sachkunde oder medizinischer Fertigkeiten bedürfe, und die von dem in der Einrichtung bes chäftigtem Personal, wie von jedem erwachsenen Haushaltsangehörigen, ohne Weiteres ausgeführt werden könnten. Wenn die Einrichtung nach ihrem Aufgabenprofil allerdings auf eine besondere Zielgruppe ausgerichtet sei, bei der bestimmte handlungspflegerische Maßnahmen erforderlich sein würden, und sei die Einrichtung deshalb entsprechend sächlich und personell auszustatten, müsse die Einrichtung diese behandlungspflegerischen Maßnahmen auch erbringen, weil ohne sie die Eingliederungsaufgabe im Hinblick auf die Zielgruppe der Einrichtung nicht erreicht werden könne. Der Grundsatz des Nachrangs der Sozialhilfe sei dadurch nicht betroffen, weil die sächliche und personelle Ausstattung der Einrichtung ohnehin vorzuhalten sei und die Leistungen der Behandlungspflege untrennbarer Bestandteil der Eingliederungshilfe seien.
Die vom BSG zur geltenden Rechtslage, insbesondere zur Aufteilung der Aufgabenbereiche der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und der Eingliederungshilfe der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII), aufgestellten Grundsätze bedeuten, dass zur Zuständigkeit der Krankenkasse weiterhin eine Entscheidung im Einzelfall unter Berücksichtigung der Art der Maßnahme und den Verpflichtungen der Einrichtung getroffen werden muss. Wesentliche Entscheidungsgrundlage bleibt die Regelung in der Häuslichen Krankenpflege-Richtlinie des G-BA, nach der für die Zeit des Aufenthalts in Einrichtungen, in denen nach den gesetzlichen Bestimmungen Anspruch auf die Erbringung von Behandlungspflege besteht, häusliche Krankenpflege nicht verordnet werden kann: ob ein solcher Anspruch besteht, ist im Einzelfall durch die Krankenkassen zu prüfen. Bei der Prüfung eines möglichen Anspruchs des Versicherten gegenüber den Einrichtungen sind die genannten Ausführungen des BSG zu berücksichtigen.
Der zweiten Alternative der Entschließung des Bundesrates (ausdrückliche Nennung der "stationäre Einrichtungen der Eingliederungshilfe" als "geeignete Orte" in § 37 SGB V) kann aus diesen Gründen nicht gefolgt werden. Für eine gesetzliche Klarstellung in § 37 SGB V dürften nur eindeutige Zuordnungen geeignet sein. Würden Einrichtungen der Behindertenhilfe als geeignete Orte in § 37 SGB V ausdrücklich genannt werden, würde dies für eine ausschließliche Zuständigkeit für Leistungen der medizinischen Behandlungspflege sprechen. Dies würde aber nicht der geltenden Struktur entsprechen.
Der ersten Alternative der Entschließung (Darstellung der Leistungsvoraussetzungen im Einzelnen in § 37 SGB V) kann ebenfalls nicht gefolgt werden. Im SGB V werden generelle Regelungen und in Richtlinien des G-BA Näheres zu Leistungsansprüchen festgelegt. Klarstellend ist in § 37 Absatz 6 Satz 1 SGB V ausdrücklich geregelt, dass der G-BA in Richtlinien nach § 92 SGB V festlegen soll, an welchen Orten und in welchen Fällen Leistungen der häuslichen Krankenpflege auch außerhalb des Haushalts und der Familie des Versicherten erbracht werden können.
Die Entscheidungen des BSG haben eine Klärung der Rechtslage herbeigeführt. Die vorn G-BA in den Häusliche Krankenpflege-Richtlinien genannten Leistungsvoraussetzungen, ggf. mit weiteren Ergänzungen, in den Gesetzeswortlaut aufzunehmen, ist deshalb nicht erforderlich und würde die Regelung des § 37 SGB V überfrachten.
Das Bundesministerium für Gesundheit wird den GKV-Spitzenverband in einem Schreiben bitten, die Entscheidungen des BSG mit den Krankenkassen, insbesondere im Hinblick auf die vom BSG zu den Leistungspflichten der Krankenkassen getroffenen Aussagen, zu erörtern.
Sollte sich wider Erwarten in Zukunft Handlungsbedarf ergeben, wird die Bundesregierung prüfen, ob eine gesetzliche Klarstellung im Sinne der Vorstellungen des Bundesrates erforderlich ist