903. Sitzung des Bundesrates am 23. November 2012
Der Rechtsausschuss empfiehlt dem Bundesrat, zu dem Gesetz zu verlangen, dass der Vermittlungsausschuss gemäß Artikel 77 Absatz 2 des Grundgesetzes aus folgenden Gründen einberufen wird:
1. Zur Aufnahme des Rechtsinstituts der nachträglichen Therapieunterbringung
In das Gesetz soll die Möglichkeit der nachträglichen Therapieunterbringung psychisch gestörter, hochgefährlicher Gewalt- oder Sexualstraftäter aufgenommen werden, um ein Rechtsinstitut zu schaffen, anhand dessen derartige Täter, deren Gefährlichkeit erst nach dem Strafurteil erkennbar wird, zum Schutz der Allgemeinheit untergebracht werden können.
Hierbei sind folgende Eckpunkte vorzusehen:
- - Die nachträgliche Therapieunterbringung soll möglich sein, wenn nach einer Verurteilung wegen eines Verbrechens gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung oder eines Verbrechens nach den §§ 250, 251 StGB, auch in Verbindung mit § 252 StGB oder § 255 StGB, oder wegen eines der in § 66 Absatz 3 Satz 1 StGB genannten Vergehen vor Ende des Vollzugs dieser Freiheitsstrafe oder einer oder mehrerer unmittelbar im Anschluss daran vollstreckten Freiheits- oder Ersatzfreiheitsstrafen Tatsachen erkennbar werden, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit der verurteilten Person für die Allgemeinheit hinweisen, wenn bei der verurteilten Person eine psychische Störung vorliegt, eine Gesamtwürdigung ihrer Persönlichkeit, ihrer Taten, ihres Vorlebens, ihrer Lebensverhältnisse und ergänzend ihrer Entwicklung während des Vollzugs konkrete Umstände ergibt, wonach die hochgradige Gefahr besteht, dass sie infolge ihrer psychischen Störung schwerste Gewalt- oder Sexualstraftaten begehen wird und die übrigen Voraussetzungen des § 66 StGB erfüllt sind, wobei § 66 Absatz 1 Satz 1 Nummer 4 StGB außer Betracht bleibt. - Wenn die vorbezeichneten Tatsachen nach einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren wegen eines oder mehrerer Verbrechen gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit, die sexuelle Selbstbestimmung oder nach den §§ 250, 251 StGB, auch in Verbindung mit § 252 StGB oder § 255 StGB, vor Ende des Vollzugs dieser Freiheitsstrafe oder einer oder mehrerer unmittelbar im Anschluss daran vollstreckten Freiheits- oder Ersatzfreiheitsstrafen erkennbar werden, soll die Anordnung auch ohne die Anknüpfung an frühere Verurteilungen möglich sein.
- - Für die Annahme einer psychischen Störung ist dabei nicht Voraussetzung, dass durch sie eine Einschränkung der Schuldfähigkeit nach den §§ 20, 21 StGB bewirkt worden ist.
- - Der Vollzug der nachträglichen Therapieunterbringung soll in geeigneten Einrichtungen stattfinden, die wegen ihrer medizinischtherapeutischen Ausrichtung eine angemessene Behandlung der im Einzelfall vorliegenden psychischen Störung auf der Grundlage eines individuell zu erstellenden Behandlungsplans und mit dem Ziel einer möglichst kurzen Unterbringungsdauer gewährleisten können und unter Berücksichtigung therapeutischer Gesichtspunkte und der Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit eine die Untergebrachten so wenig wie möglich belastende Unterbringung zulassen. Dabei soll der Vollzug auch in Einrichtungen für Sicherungsverwahrte möglich sein, wenn die vorbenannten Voraussetzungen gewährleistet sind.
- - Die gerichtliche Aussetzung der nachträglichen Therapieunterbringung bei nicht ausreichender Betreuung des Untergebrachten sollte ebenso wie deren Erledigterklärung für den Fall, dass die Voraussetzungen der Maßregel nicht mehr vorliegen, vorgesehen werden. -In regelmäßigen Abständen von einem Jahr, nach zehn Jahren des Vollzugs der nachträglichen Therapieunterbringung im Abstand von neun Monaten soll das zuständige Gericht verpflichtet sein, das Vorliegen der Voraussetzungen für eine weitere Unterbringung zu überprüfen.
- - Die Möglichkeit der Anordnung der nachträglichen Therapieunterbringung soll bestehen, wenn die Tat oder mindestens eine der Taten, wegen deren Begehung die nachträgliche Therapieunterbringung angeordnet werden soll, nach dem 31. Mai 2013 begangen worden ist.
Begründung:
Mit der Möglichkeit, psychisch gestörte Täter, deren hochgradige Gefährlichkeit erst nach dem Strafurteil erkennbar wird, zum Schutz der Allgemeinheit unterzubringen, sollen Schutzlücken geschlossen werden, die durch die weitgehende Abschaffung der nachträglichen Sicherungsverwahrung durch das Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22. Dezember 2010 entstanden sind. Nach derzeitigem Recht müssen Täter, deren Gefährlichkeit zum Urteilszeitpunkt nicht erkennbar war, sondern erst später zu Tage getreten ist, trotz erkannter, erheblicher Gefährlichkeit nach Verbüßung ihrer zeitigen Strafe in Freiheit entlassen werden. In eng umrissenen und abschließend normierten Fällen soll daher die Möglichkeit der nachträglichen Unterbringung dieser Personen geschaffen werden. Der Schutz der Allgemeinheit vor derartigen Personen steht im überragenden Interesse des Gemeinwohls. Die nachträgliche Therapieunterbringung ist dabei weder mit der nachträglichen Sicherungsverwahrung noch mit der Therapieunterbringung nach dem Therapieunterbringungsgesetz identisch, jedoch an beide Institute angelehnt. Die für die Anordnung erforderlichen Voraussetzungen orientieren sich an dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2365/09 u.a. - mit dem klargestellt wurde, dass unter engen Voraussetzungen auch eine rückwirkend angeordnete Freiheitsentziehung noch als verhältnismäßig angesehen werden kann.
Bei dem Vollzug der nachträglichen Therapieunterbringung soll der Therapiegedanke im Vordergrund stehen. Die Einrichtung, in der die nachträgliche Therapieunterbringung vollstreckt werden soll, muss daher wegen ihrer medizinischtherapeutischen Ausrichtung eine angemessene Behandlung der psychischen Störung auf der Grundlage eines individuell zu erstellenden Behandlungsplans und mit dem Ziel einer möglichst kurzen Unterbringungsdauer gewährleisten können. Für die Auswahl der Einrichtung soll deshalb die Art der zu behandelnden psychischen Störung maßgeblich sein. Wenn eine ausreichende Behandlung gewährleistet werden kann, soll der Vollzug der nachträglichen Therapieunterbringung daher auch in Einrichtungen, in denen die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung vollzogen wird, zulässig sein.
Nach dem vom Bundesverfassungsgericht in seinem vorgenannten Urteil vom 4. Mai 2011 aufgestellten Ultima-Ratio-Prinzip soll - ebenso wie beim Vollzug der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung - die Aussetzung der Maßregel zur Bewährung möglich sein, wenn das zuständige Gericht feststellt, dass der untergebrachten Person keine ausreichende Betreuung im Vollzug der nachträglichen Therapieunterbringung angeboten wurde. Das zuständige Gericht soll die Maßregel zudem für erledigt erklären können, wenn die Anordnungsvoraussetzungen entfallen sind, da das Bedürfnis für die weitere Unterbringung in diesen Fällen gänzlich entfallen ist oder unter Beachtung des verfassungsrechtlichen Übermaßverbotes als unverhältnismäßig erscheint. In regelmäßigen Abständen von einem Jahr, nach zehnjährigem Vollzug der nachträglichen Therapieunterbringung im Abstand von neun Monaten soll das zuständige Gericht verpflichtet sein, die Fortdauer der Maßregel zu überprüfen. Hierdurch soll zum einen dem verfassungsrechtlichen Freiheitsanspruch der Untergebrachten Rechnung getragen, zum anderen den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts aus seinem Urteil vom 4. Mai 2011 nachgekommen werden, wonach mit zunehmender Dauer des Vollzugs die gerichtliche Kontrolle weiter zu intensivieren ist.
Eine Anordnung der nachträglichen Therapieunterbringung soll schließlich nur bei Anlasstaten, die nach dem 31. Mai 2013 begangen werden, in Betracht kommen. Angesichts der fehlenden rückwirkenden Anwendbarkeit werden verfassungs- und konventionsrechtliche Schwierigkeiten vermieden.
2. Zu Artikel 8 Nummer 1 Buchstabe a (§ 1 Absatz 1 ThUG), Buchstabe b (§ 1 Absatz 2 ThUG), Nummer 2 (§ 2 Absatz 2 ThUG)
Artikel 8 ist wie folgt zu fassen:
'Artikel 8
Änderung des Therapieunterbringungsgesetzes
Das Therapieunterbringungsgesetz vom 22. Dezember 2010 (BGBl I S. 2300, 2305) wird wie folgt geändert:
- 1. § 1 wird wie folgt geändert:
- a) In Absatz 1 werden in dem Satzteil vor Nummer 1 die Wörter "deshalb nicht länger" durch die Wörter "nur deshalb nicht oder nicht länger" ersetzt.
- b) In Absatz 2 werden nach dem Wort "Sicherungsverwahrung" die Wörter "oder eines Unterbringungsbefehls gemäß § 275a der Strafprozessordnung" eingefügt.
- 2. § 2 wird wie folgt geändert:
- a) Der Wortlaut wird Absatz 1.
- b) Folgender Absatz 2 wird angefügt:
"(wie Gesetzesbeschluss)" '
Begründung:
Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat mit Beschluss vom 12. Juli 2012 (Az: V ZB 106/12) entschieden, dass eine Therapieunterbringung gemäß § 1 Absatz 1 ThUG nur gegen Betroffene angeordnet werden kann, die sich in Sicherungsverwahrung befinden oder befunden haben, nicht jedoch gegen gemäß § 275a Absatz 5 StPO a.F. (jetzt: § 275a Absatz 6 StPO) einstweilig Untergebrachte. Dabei konzediert er, dass es sich bei den Betroffenen, die in dem Zeitpunkt, in welchem sie auf Grund der EGMR-Rechtsprechung zu entlassen waren, gemäß § 275a StPO einstweilig untergebracht waren, um eine Fallgruppe handelt, deren Einbeziehung in das Gesetz "erwägenswert" gewesen wäre, zu der es jedoch einer Textänderung bedurft hätte.
In der Tat droht in der Konsequenz dieser Entscheidung in bestimmten Fallkonstellationen, wie sie etwa im Saarland aufgetreten sind, eine empfindliche Regelungslücke, die im Interesse eines auch vom Bundesverfassungsgericht betonten effektiven Schutzes der Allgemeinheit vor schweren Rechtsgutsverletzungen durch psychisch gestörte Gewalt- und Sexualstraftäter dringend einer Schließung durch die intendierte Klarstellung bedarf. Dabei geht es nicht um eine materielle Ausweitung des Anwendungsbereichs des ThUG, sondern nur um eine rechtsstaatskonforme Erfassung der vom Regelungskonzept des Gesetzgebers erfassten Fallgestaltungen, in denen eine gerichtlich angeordnete Sicherungsverwahrung nur deshalb aufgehoben oder nicht rechtskräftig geworden ist, weil ein Verbot rückwirkender Verschärfungen im Recht der Sicherungsverwahrung zu berücksichtigen war.
Geht man auf der Grundlage der Entscheidung des BGH vom 12. Juli 2012 (Az: V ZB 106/12) davon aus, dass die vorgenannten Fallkonstellationen vom Wortlaut des ThUG nicht erfasst sind, so würde die Anwendbarkeit des ThUG davon abhängen, ob die Entlassung des Verurteilten auf Grund der Berücksichtigung des Verbots rückwirkender Verschärfungen im Recht der Sicherungsverwahrung vor oder nach Eintritt der Rechtskraft der Anordnung der Sicherungsverwahrung erfolgte. Dies überzeugt vor dem Hintergrund des vom Gesetzgeber verfolgten Regelungskonzepts nicht. Entscheidend muss sein, dass die materiellrechtlichen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung endgültig festgestellt worden sind. Diese Betrachtungsweise trägt auch den näheren Umständen des Ablaufs der Interaktion zwischen EGMR, Bundesgesetzgeber und Bundesverfassungsgericht in diesen Fragen Rechnung. Die Frage der Unterbringungsmöglichkeit kann nicht davon abhängig gemacht werden, zu welchem Zeitpunkt das Bundesverfassungsgericht die befristete Fortgeltung der vorliegend bedeutsamen Regelung des § 66b Absatz 3 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung vom 23. Juli 2004 (Urteil vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2333/08, 2 BvR 2365/09, 2 BvR 571/10, 2 BvR 740/10, 2 BvR 1152/10 -) angeordnet hat. Eine Klarstellung, wonach es allein auf die endgültige Feststellung der materiellrechtlichen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung ankommt, ist daher auch aus Gleichbehandlungsgründen geboten.
Dem Ziel der Klarstellung wird schon dadurch Rechnung getragen, dass in Absatz 1 die Wörter "deshalb nicht länger" durch die Wörter "nur deshalb nicht oder nicht länger" ersetzt werden. Damit wird nämlich implizit festgestellt, dass jedenfalls die materiellrechtlichen Voraussetzungen einer Unterbringung in der Sicherungsverwahrung vorgelegen haben.
Bei der Ergänzung des § 1 Absatz 2 ThUG handelt es sich um eine notwendige Folgeänderung.