Der Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz Mainz, den 26. April 2012
An den Präsidenten des Bundesrates
Herrn Ministerpräsidenten
Horst Seehofer
Sehr geehrter Herr Präsident,
die Landesregierungen von Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen haben beschlossen, beim Bundesrat den in der Anlage beigefügten Antrag für eine Entschließung des Bundesrates - Faire und sichere Arbeitsbedingungen bei der Arbeitnehmerüberlassung herstellen einzubringen.
Ich bitte Sie, den Entschließungsantrag gemäß § 36 Absatz 2 der Geschäftsordnung auf die Tagesordnung der 896. Sitzung des Bundesrates am 11. Mai 2012 zu setzen und anschließend den Ausschüssen zur Beratung zuzuweisen.
Mit freundlichen Grüßen
Kurt Beck
Entschließung des Bundesrates - Faire und sichere Arbeitsbedingungen bei der Arbeitnehmerüberlassung herstellen
I. Der Bundesrat stellt fest:
Die Anzahl der Personen in atypischen Beschäftigungsverhältnissen (befristete und geringfügige Beschäftigung, Teilzeitarbeit bis zu 20 Wochenstunden, Leiharbeit) steigt seit Jahren bundesweit an. Nach Mitteilungen des Statistischen Bundesamtes Deutschland waren 1999 19,7 Prozent aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in atypischen Beschäftigungsformen beschäftigt. Bis 2010 stieg der Anteil auf rund 25,4 Prozent aller abhängig Beschäftigten an. Damit befanden sich im Jahr 2010 ca. 7,84 Mio. Personen in atypischen Beschäftigungsverhältnissen.
Ausweislich der Angaben der Bundesagentur für Arbeit erhielten 2010 ca. 23 Prozent der in Vollzeit beschäftigten Erwerbstätigen weniger als 2/3 des Median-Brutto-Lohnes.
Der Gesetzgeber ist gefordert, die gesetzlichen Rahmenbedingungen für gute und sichere Arbeit für die Beschäftigten zu schaffen. Eine sinnvolle Regulierung in diesem Bereich ist ein zentraler Beitrag für eine neue Ordnung für Arbeit. Ziel muss es sein, Armutslöhne und prekäre Beschäftigung zurückzudrängen und das unbefristete, sozial abgesicherte und angemessen bezahlte Normalarbeitsverhältnis zu stärken. Ein wesentlicher Ansatzpunkt ergibt sich hierbei im Rahmen der Leiharbeit.
Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit waren im Juni 2011 bundesweit insgesamt ca. 910.000 Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer beschäftigt, 552.000 oder 155 Prozent mehr als 10 Jahre zuvor (vgl. Arbeitnehmerüberlassungsstatistik der Bundesagentur für Arbeit in "Der Arbeitsmarkt in Deutschland - aktuelle Entwicklungen in der Zeitarbeit", Januar 2012)
Leiharbeit ist zumeist eine kurzfristige Beschäftigungsform: So enden nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit (vgl. "Der Arbeitsmarkt in Deutschland - aktuelle Entwicklungen in der Zeitarbeit, Januar 2012) ca. 50 Prozent der Leiharbeitsverhältnisse bereits nach drei Monaten. Nach wie vor scheinen Verleiher ihren Personalbestand "möglichst elastisch" ihrer Auftragslage anzupassen.
Damit besteht ein überdurchschnittlich hohes Entlassungsrisiko. Die erhoffte unmittelbare Brücken- bzw. Klebefunktion der Leiharbeit ist eher marginal. Lediglich 7 Prozent der Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer, die zuvor arbeitslos waren, schaffen dauerhaft den Sprung aus der Leiharbeit (Quelle: IAB Kurzbericht 013/2010).
Leiharbeitskräfte verdienen durchschnittlich 40 bis 50 Prozent weniger als Stammbeschäftigte, rund jede achte Leiharbeitskraft ist zusätzlich zu ihrem Gehalt auf unterstützende staatliche Leistungen angewiesen (Quelle: DGB-Studie von Februar 2011). Die eigentliche Funktion der Leiharbeit, auf kurzfristige Auftragsschwankungen flexibel reagieren zu können, tritt zunehmend in den Hintergrund. Die Ausweitung der Leiharbeit setzt sich nach der Finanz- und Wirtschaftskrise kontinuierlich fort. Es entsteht in vielen Fällen die Gefahr von Rand- oder Parallelbelegschaften, die Stammbelegschaften teilweise ersetzen. Dies bedeutet für die betroffenen Beschäftigten höhere Risiken und schlechtere Arbeitsbedingungen - insbesondere im Hinblick auf die Entlohnung, aber auch beim Zugang zu betrieblicher Weiterbildung und bei der Mitbestimmung.
Das Erste Gesetz zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG) - Verhinderung von Missbrauch der Arbeitnehmerüberlassung vom 28.4.2011 (BGBl I, 642) beinhaltet im Wesentlichen keine effektiven Regelungen zur Bekämpfung des Missbrauches in der Leiharbeit. Es fehlen klare Regelungen gegen Lohndumping und zum Austausch von Stammbelegschaften durch geringer entlohnte und schlechter abgesicherte Beschäftigte. Insbesondere folgende Punkte sind zu bemängeln:
- - Die gesetzlichen Regelungen in § 3 Abs. 1 Nr. 3 und § 9 Satz 1 Nr. 2 AÜG ermöglichen es nach wie vor, durch Tarifvertrag (bzw. sogar durch rein vertragliche Inbezugnahme eines Tarifvertrages) vom Gleichbehandlungsgrundsatz abzuweichen. Insbesondere durch diese Möglichkeit ist Leiharbeit zu einem Beschäftigungsverhältnis zweiter Klasse geworden. Die Tarifverträge der Leiharbeit sehen durchweg eine Absenkung des Schutzniveaus im Vergleich zu den Arbeitsbedingungen der Stammbelegschaften vor. Die Tariföffnungsklausel führt damit in einer erheblichen Zahl von Fällen zu einer nicht nachvollziehbaren Spaltung der Belegschaft. Rein tarifvertragliche Lösungen sind nicht ausreichend, weil sie gegenüber ausländischen Unternehmen bekanntlich nicht verbindlich sind. Hier zu einer Lösung zu gelangen ist im Lichte der seit dem 01. Mai 2011 geltenden weitgehenden Arbeitnehmerfreizügigkeit unverzichtbar. Die mittlerweile eingeführte Lohnuntergrenze nach § 3a AÜG stellt hier jedenfalls keine Lösung dar. Zudem verhindert diese Untergrenze nicht die Ungleichbehandlung der Beschäftigten in der Leiharbeit gegenüber der Stammbelegschaft.
- - Die Konzernleihe wird nicht effektiv begrenzt. Zwar ist die Einführung der "Drehtürklausel" zu begrüßen, diese erfasst indes nur einen Teilbereich möglicher Missbrauchsfälle. Weitere begrenzende Regelungen, insbesondere wenn gezielt durch Neueinstellungen über eine Personalführungsgesellschaft eine Belegschaft zweiter Klasse aufgebaut wird, fehlen gänzlich. Die Bundesregierung privilegiert vielmehr Konzerngesellschaften noch, wenn sie für bestimmte Fälle der konzerninternen Arbeitnehmerüberlassung die Anwendung der wesentlichen Vorschriften des AÜG ausschließt. Im Hinblick auf die europarechtlichen Vorgaben aus der Leiharbeitsrichtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 19. November 2008 erweisen sich die im Gesetz normierten Privilegierungen der konzerninternen Arbeitnehmerüberlassung (vgl. § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG) einschließlich der nur gelegentlichen Arbeitnehmerüberlassung zwischen Arbeitgebern (§ 1 Abs. 3 Nr. 2a AÜG) zudem als europarechtlich äußerst zweifelhaft (so auch Lembke, DB 2011, S. 415 f. m.w. N.).
- - Die Definition der Bundesregierung der Arbeitnehmerüberlassung als "vorübergehend" ist völlig unbestimmt und schafft Rechtsunsicherheit, es fehlt an einer festen zeitlichen Obergrenze der Überlassung. Zudem fehlt eine Regelung dahingehend, welche Rechtsfolgen im Falle einer nicht vorübergehenden Überlassung gelten sollen.
- - Die Regelung der rechtlichen Voraussetzungen für die Festlegung einer Lohnuntergrenze für die Leiharbeit im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz ( § 3a AÜG) ist rechtssystematisch verfehlt und trägt zu einer weiteren unbefriedigenden Zersplitterung der gesetzlichen Mindestlohnregelungen bei.
- - Die Praxis lässt vermuten, dass das Beschäftigungsrisiko oftmals einseitig von den Leiharbeitsfirmen auf die Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer verlagert wird, indem Beschäftigungsverhältnisse mit Leiharbeitskräften, formal oder faktisch lediglich auf die Dauer eines Einsatzes im Entleihbetrieb beschränkt werden. Dem ist durch die Wiedereinführung von Synchronisations- und Wiedereinstellungsverbot in § 3 Abs. 1 AÜG abzuhelfen.
II. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf,
im Bereich der Leiharbeit unverzüglich gesetzliche Regelungen zur Bekämpfung von Missbrauch in der Leiharbeit und zur Sicherung fairer Arbeitsbedingungen der Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer mit nachfolgenden Inhalten vorzulegen:
1. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit
Um eine weitere Spaltung der Belegschaften zu verhindern, ist die in § 3 Abs. 1 Nr. 3 und § 9 Satz 1 Nr. 2 AÜG vorgesehene Tariföffnungsklausel, die eine Abweichung vom Gleichbehandlungsgrundsatz ermöglicht, zu streichen. Allenfalls für eine kurze Einarbeitungszeit wäre eine Abweichungsmöglichkeit durch Tarifvertrag zu akzeptieren, wenn der für die Stammbelegschaft einschlägige Tarifvertrag dieselben Absenkungsregelungen in der Einarbeitungszeit vorsieht.
2. Keine Verträge von Fall zu Fall (Wiedereinführung von Synchronisations- und Wiedereinstellungsverbot in § 3 Abs. 1 AÜG)
Beschäftigungsverhältnisse mit Leiharbeitskräften, die sich formal oder faktisch lediglich auf die Dauer eines Einsatzes im Entleihbetrieb beschränken, müssen verhindert werden. Das Beschäftigungsrisiko ist von der Leiharbeitsfirma, nicht von den Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmern zu tragen.
Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer müssen dauerhaft bei der Leiharbeitsfirma eingestellt werden. Die Dauer des Arbeitsverhältnisses mit der Leiharbeitskraft darf nicht auf die Einsatzdauer beim Entleihbetrieb beschränkt werden. Hierfür ist das sog. Synchronisationsverbot wieder einzuführen. Auch müssen Regelungen geschaffen werden, die verhindern, dass Leiharbeitsverhältnisse, obwohl formal unbefristet abgeschlossen, faktisch gleichwohl mit dem Ende des Einsatzes beendet werden. Hierzu ist das sog. Wiedereinstellungsverbort wieder einzuführen, wonach es untersagt ist, unbefristete Arbeitsverträge abzuschließen, diese dann durch Kündigung zu beenden und die Leiharbeitskraft vor Ablauf von drei Monaten erneut einzustellen.
3. Mehr Mitbestimmungs- und Mitwirkungsrechte für Betriebsräte
Die bisher beim Einsatz von Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmern bestehenden Mitbestimmungsrechte bzw. Mitwirkungsrechte der Betriebsräte sind zu erweitern und zu verbessern, insbesondere um auch einer Spaltung der Belegschaft entgegenzuwirken. So ist insbesondere dafür Sorge zu tragen, dass
- - § 14 Absatz 2 AÜG um eine Regelung erweitert wird, die bestimmt, dass bei der Berechnung der Schwellenwerte für die Einrichtung des Betriebsrates im Entleihbetrieb Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer wie Arbeitnehmerinnen und - arbeitnehmer des Entleihbetriebes, die der Entleiher für die gleiche Dauer unmittelbar beschäftigen würde, berücksichtigt werden, wenn die Überlassung länger als drei Monate dauert. Dadurch würde eine Verbindung zwischen Wahlrecht (§ 7 S. 2 BetrVG) und Anrechnung als Arbeitnehmer bzw. Arbeitnehmerin im Entleihbetrieb erreicht, die eine effektive Vertretung der Interessen der eingesetzten Leiharbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sicherstellt. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer regelmäßig faktisch die gleichen Interessen haben wie die Stammbelegschaft.
- - § 87 Abs. 1 BetrVG dahingehend ergänzt wird, dass der Betriebsrat über Grundsätze über den Einsatz von Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmern einschließlich der Festlegung einer Obergrenze (Quote oder absolute Höchstzahl) der im Betrieb höchstens einsetzbaren Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer mitzubestimmen hat. Dadurch würde ein eindeutiges Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates des Entleihbetriebes insb. hinsichtlich der zum Leiharbeitseinsatz berechtigenden Ereignisse (z.B. Auftragsspitzen oder krankheitsbedingte Engpässe), des jeweiligen Umfangs der zu überlassenden Leiharbeitskräfte, der Dauer der jeweiligen Überlassung sowie der entsprechenden Einsatzbereiche statuiert.
4. Begrenzung der Konzernleihe
Die Praxis der Konzernleihe muss durch gesetzliche Regelungen deutlich eingeschränkt werden. Ein erster Schritt hierzu ist, schon im Hinblick auf die drohende Europarechtswidrigkeit der gesetzlichen Regelung, die im Gesetz vorgesehene Privilegierung der konzerninternen Arbeitnehmerüberlassung (§ 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG) zu streichen, gleiches gilt für die Privilegierung der nur gelegentlichen Arbeitnehmerüberlassung zwischen Arbeitgebern (§ 1 Abs. 3 Nr. 2a AÜG).
5. Einführung einer Höchstüberlassungsdauer
Der Begriff der "vorübergehenden" Arbeitnehmerüberlassung in § 1 Abs. 1 S. 2 AÜG ist flankierend dahingehend zu ergänzen, dass eine zusammenhängende Überlassungsdauer über zwölf Monate nicht mehr als vorübergehend angesehen werden kann und untersagt ist. Als Rechtsfolge sollte insbesondere die Möglichkeit der Versagung bzw. des Widerrufs der Arbeitnehmerüberlassungserlaubnis bzw. die Statuierung eines Unwirksamkeitsgrundes, der mit der Fiktion eines Arbeitsverhältnisses zum Entleiher verknüpft ist, vorgesehen werden. Mit einer derartigen Regulierung kann der Tendenz, Stammbeschäftigte dauerhaft durch Leiharbeitskräfte zu ersetzen, entgegengewirkt werden.
6. Verbot des Einsatzes von Leiharbeitskräften als Streikbrecher
Um einen missbräuchlichen Einsatz von Leiharbeitskräften zu verhindern und diese nicht einem faktischen Druck auszusetzen, ist die Regelung des § 11 Abs. 5 AÜG, wonach Leiharbeitskräfte einen Einsatz in einem bestreikten Entleihbetrieb ablehnen dürfen (geltend zu machendes Leistungsverweigerungsrecht), zu ändern. Vielfach wird eine Einsatzablehnung aus Unkenntnis oder im Hinblick auf befürchtete Konsequenzen durch die Leiharbeitskraft nicht erfolgen, so dass es einer strikten Verbotsnorm (einschließlich der Statuierung von Sanktionen im Falle eines Verstoßes) bedarf.
7. Aufnahme der Leiharbeit in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz
In § 4 Arbeitnehmer-Entsendegesetz ist eine neue Nr. 9 anzufügen, die die Arbeitnehmerüberlassung nach dem Gesetz zur Regelung der Arbeitnehmerüberlassung (Arbeitnehmerüberlassungsgesetz - AÜG) als Branche in den Anwendungsbereich des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes einbezieht.
Als Folgeänderungen sind
- - § 6 AEntG in einem anzufügenden Absatz 10 um die auch für die anderen einbezogenen Branchen vorgenommene Geltungsbereichsbestimmung zu erweitern, dass im Falle eines Tarifvertrages nach § 4 Nr. 9 dieser Abschnitt Anwendung findet, wenn der Betrieb oder die selbstständige Betriebsabteilung überwiegend Leistungen der Arbeitnehmerüberlassung nach dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz - AÜG - erbringt,
- - § 8 Abs. 3 AEntG redaktionell an die Erweiterung des § 4 AEntG um die Arbeitnehmerüberlassung anzupassen,
- - die mit dem Ersten Gesetz zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes Verhinderung von Missbrauch der Arbeitnehmerüberlassung vom 28.4.2011 (BGBl. I S. 642) geschaffenen Regelungen zur Einführung einer Lohnuntergrenze in der Arbeitnehmerüberlassung und alle damit im Zusammenhang stehenden weiteren Rechtsänderungen aufzuheben.