A. Problem und Ziel
- Mit dem GKV-Modernisierungsgesetz sind eine Reihe von Leistungen aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung gestrichen worden. Hierzu gehören grundsätzlich auch die nichtverschreibungspflichtigen Medikamente (OTC-Medikamente) und die Sehhilfen. Um die zusätzlichen finanziellen Belastungen der gesetzlich krankenversicherten Menschen zu begrenzen, wurden Belastungsgrenzen für die Zuzahlung eingeführt (§ 62 SGB V). Trotz dieser Belastungsgrenzen kommt es für viele Menschen mit geringem Einkommen, darunter insbesondere die Empfängerinnen und Empfänger von Sozialhilfe und Grundsicherung für Arbeitsuchende, zu großen Härten.
- Nach der gesetzlichen Wertung in § 28 Abs. 1 Satz 1 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) wird der gesamte Bedarf des notwendigen Lebensunterhalts außerhalb von Einrichtungen mit Ausnahme von Leistungen für Unterkunft und Heizung und etwaiger Sonderbedarfe nach den §§ 30 bis 34 SGB XII nach Regelsätzen erbracht. Die Leistungen umfassen insgesamt nicht ein absolutes, sondern ein sog. soziokulturelles Existenzminimum.
- Insofern enthält das derzeitige Sozialhilferecht keine Regelungen mehr, nach der es dem Sozialhilfeträger möglich wäre, im Einzelfall weitere Leistungen, etwa für nichtverschreibungspflichtige Medikamente oder Sehhilfen, zu gewähren. Nach § 2 Abs. 2 Nr. 5 der aufgrund der Verordnungsermächtigung des § 40 SGB XII erlassenen Regelsatzverordnung (RSV) umfasst vielmehr der Regelsatz auch Mittel für die Gesundheitspflege. Aus diesen Mitteln sind die Bedarfe für nichtverschreibungspflichtige Medikamente oder eine (normale) Brille zu decken.
- Da OTC-Medikamente und Sehhilfen zu den üblichen Bedarfen des täglichen Lebens gehören wie sie in einer Vielzahl von Leistungsfällen auftreten, besteht auch nicht die Möglichkeit einer ausnahmsweisen abweichenden Bedarfsbemessung i.S.v. § 28 Abs. 1 Satz 2 SGB XII. Denn danach werden Bedarfe (nur) dann abweichend festgelegt wenn im Einzelfall ein Bedarf unabweisbar seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht.
- Bei bedürftigen Menschen in Einrichtungen wird der weitere notwendige Lebensunterhalt durch den "angemessenen Barbetrag" nach § 35 Abs. 2 Satz 1 SGB XII sicher gestellt. Dieser beträgt für volljährige Personen mindestens 27 vom Hundert des Eckregelsatzes. Dies entspricht derzeit einem Betrag von 94,77 Euro monatlich.
- Unter Beachtung der Rechtsprechung sind aus diesem "Barbetrag" auch die Aufwendungen für nichtverschreibungspflichtige Medikamente und Sehhilfen zu tragen. In vielen Fällen reichen die verfügbaren Mittel jedoch nicht aus, die notwendigen Kosten hierfür zu decken. Insoweit ist eine Lösung für Menschen in Einrichtungen anzustreben.
B. Lösung
- Der Grundsatz, dass nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel nicht von der gesetzlichen Krankenversicherung erstattet werden, wird durch § 34 Abs. 1 Satz 5 SGB V für zwei Personengruppen durchbrochen. So gilt der Leistungsausschluss nicht für Kinder bis zum vollendeten zwölften Lebensjahr und für Jugendliche mit Entwicklungsstörungen bis zum vollendeten 18. Lebensjahr. In diesen Fällen erstatten die Kassen nichtverschreibungspflichtige Arzneimittel auf Rezept. Die Aufzählung in § 35 Abs. 1 Satz 5 SGB V wird um Versicherte, die einen Anspruch auf einen angemessenen Barbetrag nach § 35 Abs. 2 Satz 2 SGB XII haben, erweitert.
- Durch § 52 Abs. 1 SGB XII ist eine Leistungsidentität zwischen den Hilfen zur Gesundheit im Rahmen der Sozialhilfe und den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung nach dem SGB V gewährleistet. Es ist klargestellt, dass Leistungen der Sozialhilfe weder hinter denen der gesetzlichen Krankenversicherung zurückbleiben noch über sie hinausgehen dürfen. Mit einer Ergänzung des § 52 Abs. 1 SGB XII wird dieser Grundsatz durchbrochen und die Möglichkeit der Kostenübernahme für medizinisch notwendige Sehhilfen geschaffen. Berechtigte Personen sind auch hier die Empfängerinnen und Empfänger mit einem Anspruch auf einen angemessenen Barbetrag nach § 35 Abs. 2 Satz 2 SGB XII.
C. Alternativen
D. Finanzielle Auswirkungen auf die öffentlichen Haushalte
Haushaltsausgaben ohne Verwaltungsaufwand
- Erstattung von nicht verschreibungspflichtigen Arzneimitteln Für die Erstattung von nicht verschreibungspflichtigen Arzneimitteln für Personen in stationären Einrichtungen, die einen Barbetrag nach § 35 Absatz 2 SGB XII erhalten, können der gesetzlichen Krankenversicherung Mehrausgaben von rund 27 Mio. Euro entstehen.
- Den Trägern der Sozialhilfe entstehen zusätzliche Aufwendungen für die Versorgung nicht versicherter Hilfeempfänger, die sich jedoch nicht beziffern lassen.
- Erstattung der Aufwendungen für eine medizinisch notwendige Brille Ausgehend von rund 450.0001 Empfängerinnen und Empfängern mit einem Anspruch auf einen Barbetrag nach § 35 Abs. 2 SGB XII und unter der Annahme, dass rund 70 Prozent2 dieser Menschen eine Brille benötigen, wären rund 315.000 Personen anspruchsberechtigt. Ausgehend von einem Durchschnittspreis von 100 Euro und einem Brillenwechsel nach durchschnittlich 3 Jahren, entstehen den Trägern der Sozialhilfe Mehrausgaben in Höhe von rund 10 Mio. Euro jährlich.
Vollzugsaufwand
- Die Einführung der neuen Leistungen führt zu einem überschaubaren Verwaltungsaufwand für die Krankenkassen und die Träger der Sozialhilfe. Die Zahl der Streitverfahren wird in diesen Bedarfsfeldern voraussichtlich zurückgehen.
E. Sonstige Kosten
Gesetzesantrag des Landes Rheinland-Pfalz
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Fünften und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch
Der Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz Mainz, 3. Juli 2009
An den
Präsidenten des Bundesrates
Herrn Ministerpräsidenten
Peter Müller
Sehr geehrter Herr Präsident,
die Regierung des Landes Rheinland-Pfalz hat beschlossen, dem Bundesrat den in der Anlage mit Vorblatt und Begründung beigefügten
- Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Fünften und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch
zuzuleiten.
Ich bitte Sie, diesen Gesetzesantrag gemäß § 36 Absatz 2 der Geschäftsordnung des Bundesrates in die Tagesordnung der 860. Sitzung des Bundesrates am 10. Juli 2009 aufzunehmen und eine sofortige Entscheidung in der Sache herbeizuführen.
Mit freundlichen Grüßen
Kurt Beck
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Fünften und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch
Vom ...
Der Bundestag hat mit Zustimmung des Bundesrates das folgende Gesetz beschlossen:
Artikel 1
Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch
Das Fünfte Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Krankenversicherung - (Artikel 1 des Gesetzes vom 20. Dezember 1988, BGBl. I S. 2477, 2482), das zuletzt durch Artikel 3 des Gesetzes vom 17. März 2009 (BGBl. I S. 534) geändert worden ist, wird wie folgt geändert:
Artikel 2
Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch
Das Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch - Sozialhilfe - (Artikel 1 des Gesetzes vom 27. Dezember 2003, BGBl. I S. 3022, 3023), das zuletzt durch Artikel 4 des Gesetzes vom 22. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2955) geändert worden ist, wird wie folgt geändert:
Artikel 3
Inkrafttreten
- Dieses Gesetz tritt am Tage nach der Verkündung in Kraft.
Begründung
A. Allgemeiner Teil
Durch das GKV-Modernisierungsgesetz sind u.a. nichtverschreibungspflichtige Arzneimittel und Sehhilfen (Brillen, Kontaktlinsen) grundsätzlich von der Versorgung im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen worden. Nach gefestigter Rechtsprechung sind diese Aufwendungen bei bedürftigen Personen (Empfängerinnen und Empfänger von SGB II- bzw. SGB XII-Leistungen) aus der Regelleistung bzw. dem Regelsatz zu erbringen.
Personen in stationären Einrichtungen erhalten zur Sicherung ihres Lebensunterhalts jedoch keine Regelsatzleistungen, sondern einen angemessenen Barbetrag zur persönlichen Verfügung; zur Zeit 94,77 Euro monatlich. Dieser Betrag reicht regelmäßig nicht aus, Ansparungen für den Kauf von OTC-Medikamenten oder Sehhilfen vorzunehmen.
Diese Problematik wird durch die vorgesehene Änderung des § 34 SGB V und des § 52 SGB XII entschärft.
B. Besonderer Teil
Zu Artikel 1 (§ 34 SGB V)
Nichtverschreibungspflichtige Arzneimittel sind grundsätzlich von der Erstattung durch die gesetzliche Krankenversicherung ausgenommen und können nur in Ausnahmefällen zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnet werden. Besonders Personen in stationären Einrichtungen, die einen Barbetrag nach § 35 Absatz 2 Satz 2 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch erhalten, sind finanziell stark belastet.
Dieser Personenkreis hat einen hohen medizinischen Versorgungsbedarf und verfügt gleichzeitig über eine geringe wirtschaftliche Leistungsfähigkeit.
Durch eine Änderung im Fünften Buch Sozialgesetzbuch (§ 34) wird erreicht, dass Personen, die einen Barbetrag nach § 35 Abs. 2 Satz 2 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch erhalten bei ärztlicher Verordnung einen Anspruch auf alle medizinisch notwendigen nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel haben.
Mit einer weiteren personenbezogenen Rückausnahme vom Leistungsausschluss nach § 34 wird dem Versorgungsbedarf und der Leistungsfähigkeit von Personen in stationären Einrichtungen, die einen Barbetrag nach § 35 Absatz 2 Satz 2 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch erhalten, im Rahmen einer typisierenden Betrachtungsweise in Bezug auf nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel Rechnung getragen. Der Anspruch gilt für alle Empfängerinnen und Empfänger des Barbetrags nach § 35 Absatz 2 Satz 2 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch in stationären Einrichtungen, besonders in stationären Pflegeeinrichtungen oder in stationären Einrichtungen der Eingliederungshilfe.
Durch die Änderung wird erreicht, dass diese Versicherten auf ärztliche Verordnung alle medizinisch notwendigen nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel erhalten. Auch für diese Verordnungen gilt § 12 (Wirtschaftlichkeitsgebot).
Versicherte haben gegenüber der behandelnden Ärztin oder dem behandelnden Arzt nachzuweisen dass sie Anspruch auf einen Barbetrag nach § 35 Absatz 2 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch haben. Unter dieser Voraussetzung ist die verordnende Ärztin beziehungsweise der verordnende Arzt berechtigt, die Verordnung auf dem entsprechenden Rezeptvordruck als Sachleistung zu veranlassen. Versicherte in stationären Einrichtungen werden oft von Vertragsärztinnen und -ärzten im Heim selbst betreut. Die Träger der stationären Einrichtung können diesen Nachweis im Auftrag des Bewohners gegenüber dem Arzt erbringen. Die Krankenkasse erhält zur Prüfung der Anspruchsberechtigung bereits nach geltendem Recht einen Nachweis nach § 61 Absatz 2 für die Zuzahlungsbefreiung.
Zu Artikel 2 ( § 52 SGB XII)
Die Regelung stellt die Versorgung von volljährigen bedürftigen Personen in stationären Einrichtungen mit medizinisch notwendigen Sehhilfen sicher, soweit nicht die gesetzliche Krankenversicherung vorrangig leistungspflichtig ist.
Bei diesem Personenkreis kann davon ausgegangen werden, dass sie auf Grund ihres Alters und/oder ihres Gesundheitszustandes in stärkerem Maße als üblich auf Sehhilfen angewiesen sind.
Darüber hinaus ist auch zu berücksichtigen, dass dieser Personenkreis nur einen Barbetrag für die persönlichen Bedürfnisse erhält, der sich auf mindestens 27 Prozent des Eckregelsatzes beläuft. Deshalb kann bei diesen Menschen nicht pauschal unterstellt werden, dass die Betroffenen die Kosten für die Beschaffung medizinisch notwendiger Sehhilfen ansparen oder ein vom Träger der Sozialhilfe hierfür gewährtes Darlehen zurückzahlen können.
Zum Nachweis der medizinischen Notwendigkeit einer Sehhilfe ist eine augenärztliche Verordnung erforderlich.
Zu Artikel 3 (Inkrafttreten)
Regelung zum Inkrafttreten des Gesetzes.
- 1 In Rheinland-Pfalz erhalten derzeit rund 22.000 Menschen Barbetragsleistungen, der Anteil von Rheinland-Pfalz an den bundesweit stationär untergebrachten Hilfebedürftigen beträgt rund 4,8 Prozent, unter Berücksichtigung von 22.000 Barbetragsempfängerinnen und unter Zugrundelegung des vorstehenden Prozentanteils für Rheinland-Pfalz dürften bundesweit rund 450.000 Personen einen Barbetrag erhalten
- 2 Der Anteil der Brillenträger beträgt insgesamt rund 50 Prozent, bei den über 60-jährigen rund 94 Prozent, da in Einrichtungen sowohl junge als auch alte Menschen versorgt werde, wird ein Mittel von 70 Prozent angenommen