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Regelwerk Strahlenschutz

Radiologische Grundlagen für Entscheidungen über Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung bei unfallbedingten Freisetzungen von Radionukliden

RdSchr. d. BMU v. 27.10.2008 - RS II 5 - 15930 - 1/3 -
(GMBl. Nr. 62/63 vom 19.12.2008 S. 1278; 19.09.2014 BAnz AT B5aufgehoben)



Zur aktuellen Fassung

Archiv 1999

Vorwort zur redaktionell überarbeiteten Fassung

Nachdem die Überarbeitung der " Rahmenempfehlungen für den Katastrophenschutz in der Umgebung kerntechnischer Anlagen" mit positiven Voten durch die SSK (213. Sitzung am 6.12.2006 und 217. Sitzung am 21.9.2007), des Länderausschusses für Atomkernenergie (im Umlaufverfahren am 29.2.2008) und des Arbeitskreises V der Innenministerkonferenz (18./19.10.2007) abgeschlossen wurde, war es wie bei den jeweiligen Vorgänger-Empfehlungen das Ziel, die Rahmenempfehlungen und die "Radiologischen Grundlagen für Entscheidungen über Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung bei unfallbedingten Freisetzungen von Radionukliden" gemeinsam zu veröffentlichen, da die Rahmenempfehlungen auf den Radiologischen Grundlagen aufbauen.

Hierzu wurde die Fassung der Radiologischen Grundlagen aus dem Jahr 1999 einer redaktionellen Bearbeitung unterzogen. Dabei wurden die zwischenzeitlich erfolgten Ergänzungen und Korrekturen (z.B. Änderung des Alters von Kindern und Jugendlichen von zwölf auf 18 Jahre bei den Dosisrichtwerten für die Einnahme von Iodtabletten sowie im Anhang die neuen Iodmerkblätter gemäß SSK-Empfehlung aus dem Jahr 2004) berücksichtigt sowie Hinweise auf aktualisierte Fassungen des Schrifttums gegeben. Zusätzlich wurden in Kapitel 6 "Strahlenschutz der Einsatzkräfte" eine neue Vorschrift der Strahlenschutzverordnung (§ 59) sowie die neuen Einsatzgrundsätze für Feuerwehr und Polizei eingearbeitet.

Unabhängig davon hat das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit das Bundesamt für Strahlenschutz beauftragt, zu prüfen, ob aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse eine weitere inhaltliche Überarbeitung notwendig ist, und diese dann vorzunehmen. Zu berücksichtigen sind hier insbesondere die gerade veröffentlichte ICRP-Empfehlung "Recommendations an the protection of man and the environment against ionising radiation" aus dem Jahr 2007 (ICRP 103), der UNSCEAR-Bericht "Effects of ionizing radiation" aus dem Jahr 2006 (zur Veröffentlichung vorgesehen im Jahr 2008) und die gemeinsam von der IAEO, der ILO, der FAO, der OECDNEa und der WHO in Bearbeitung befindlichen "Basic safety standards for protection against ionizing radiation and for the safety of radiation sources". Die Strahlenschutzkommission soll dann gebeten werden, zu der überarbeiteten Fassung umfassend Stellung zu nehmen.

1 Einführung

1.1 Grundlage und Zweckbestimmung

Deutsche Kernkraftwerke verfügen über Sicherheitseinrichtungen sowie vorgeplante Maßnahmen, die das Eintreten eines kerntechnischen Unfalls mit relevanten radiologischen Auswirkungen in der Umgebung praktisch ausschließen sollen. Zu einem solchen Ereignisablauf könnte es nur dann kommen, wenn die vorhandenen, mehrfach gestaffelten Sicherheitsmaßnahmen nicht greifen sollten und die zusätzlichen Maßnahmen zur Verhinderung schwerer Kernschäden und zur Eindämmung ihrer radiologischen Folgen nicht erfolgreich wären. Für diesen Fall werden Katastrophenschutzplanungen für die Umgebung von Kernkraftwerken erarbeitet.

Bei einer drohenden, stattfindenden oder bereits - abgeschlossenen Freisetzung von Radionukliden nach Eintritt eines kerntechnischen Unfalls können Maßnahmen des Katastrophenschutzes und der Strahlenschutzvorsorge erforderlich werden. Beide typen von Maßnahmen werden unter dem Begriff "Notfallschutzmaßnahmen" zusammengefasst. Ihr gemeinsames Ziel ist es, deterministische Wirkungen vollständig zu vermeiden und stochastische Wirkungen auf der Grundlage der Verhältnismäßigkeit zu minimieren.

Grundlage von Maßnahmen des Katastrophenschutzes sind die entsprechenden Gesetze der Länder, die Planung und Durchführung derartiger Maßnahmen erfolgt in Anlehnung an die "Rahmenempfehlungen für den Katastrophenschutz in der Umgebung kerntechnischer Anlagen" /RAH 99/ 1. Der Vollzug des Strahlenschutzvorsorgegesetzes wird durch die Länder in Bundesauftragsverwaltung durchgeführt, soweit nicht (z.B. im Bereich großräumiger Überwachung der Umweltradioaktivität) bundeseigene Verwaltungsbehörden tätig werden.

Unabhängig von der jeweiligen Zuständigkeit sind die gesicherten Erkenntnisse des Strahlenschutzes sowie die nationalen, europäischen und internationalen Erfahrungen und Empfehlungen auf dem Gebiet des Notfallschutzes eine wesentliche Grundlage der Planung von Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung vor unfallbedingter Strahlenexposition in Deutschland. Als radiologische Basis verabschiedete der Länderausschuss für Atomkernenergie - Hauptausschuss - am 6. April 1999 die "Radiologischen Grundlagen für Entscheidungen über Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung bei unfallbedingten Freisetzungen von Radionukliden", im folgenden Text kurz "Radiologische Grundlagen" genannt. Sie ersetzen die "Radiologischen Grundlagen" von 1988/89/RAD 88/.

Die Radiologischen Grundlagen basieren auf dem strahlen-biologischen Wissen, besonders hinsichtlich der Dosis-Risiko- und Dosis-Wirkungs-Beziehungen für stochastische bzw. deterministische Wirkungen, und einem Vergleich der unfallbedingten Strahlenexposition mit der Höhe und der Schwankungsbreite der natürlichen Strahlenexposition der Bevölkerung, summiert über die Lebenszeit. Um dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung zu tragen, wird außerdem die Schwere des Eingriffs der verschiedenen Maßnahmen in das persönliche Leben berücksichtigt. Bei Abwägung aller genannten Gesichtspunkte ergibt sich eine Zuordnung von Eingreifrichtwerten der Dosis zu jeder der Maßnahmen Aufenthalt in Gebäuden, Einnahme von Iodtabletten, Evakuierung und Umsiedlung (maßnahmenspezifische Eingreifrichtwerte). Diese Abwägung und Zuordnung lässt sich zu Planungszwecken im Rahmen der Vorsorge für eventuelle zukünftige Ereignisse unabhängig vom Einzelereignis durchführen.

Im Ereignisfall kommen bei der Entscheidungsfindung über Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung zu den so definierten radiologischen Grundlagen weitere Gesichtspunkte hinzu. Dazu gehören Einflussfaktoren, die erst im Ereignisfall bekannt - z.B. die Charakteristika des betroffenen Gebietes und die Durchführbarkeit von Maßnahmen - oder nur schwer quantifizierbar sind, wie z.B. Reaktionen der Bevölkerung oder sozio-psychologische Aspekte. Die in den Radiologischen Grundlagen dargestellten Eingreifrichtwerte und die ereignisspezifischen Einflussfaktoren bilden in ihrer Gesamtheit die Grundlagen der Entscheidungsfindung über Maßnahmen im Ereignisfall.

1.2 Bezug zu internationalen Empfehlungen

In der internationalen Literatur werden unterschiedliche Konzepte zur Planung und Durchführung von Maßnahmen des Notfallschutzes beschrieben. Darüber hinaus werden im Rahmen desselben Konzepts oft unterschiedliche Dosiswerte empfohlen. Ein allgemein anerkanntes Konzept, das von der Bundesrepublik Deutschland übernommen werden könnte, gibt es somit nicht.

Die am 11. Mai 1988 vom Länderausschuss für Atomkernenergie verabschiedeten "Radiologischen Grundlagen" /RAD 88/ basieren auf dem so genannten Bandbreitenkonzept, das 1982 von der Europäischen Gemeinschaft /EG 82/ und 1984 von der Internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP) in ihrer Veröffentlichung Nr. 40 /ICR 84/ beschrieben wurde. Die in /RAD 88/ angegebenen Zahlen-werte für die Eingreifrichtwerte stammen überwiegend aus /EG 82/.

In ihrer Veröffentlichung Nr. 63 /ICR 96/ führte die ICRP die Grundsätze der Rechtfertigung und Optimierung von Maßnahmen ein und publizierte ein Konzept, das auf maßnahmenspezifischen Eingreifrichtwerten basiert, bei deren Erreichen die Maßnahmen im allgemeinen gerechtfertigt sind. Darüber hinaus werden maßnahmenspezifische Dosisbereiche angegeben, in denen der im Ereignisfall zu optimierende Eingreifwert vermutlich liegt. Bei diesem Konzept stellt die durch Maßnahmen vermeidbare Dosis eine Schlüsselgröße dar.

Beide ICRP-Konzepte /ICR 84, ICR 96/ sind sehr flexibel hinsichtlich der Anpassung an die Umstände des Einzelfalls (Anzahl der betroffenen Personen, Durchführbarkeit von Maßnahmen, Reaktion der Bevölkerung, vermeidbare Individual- und Kollektivdosis etc.), es ist ihnen aber auch gemeinsam, dass sie eine nur sehr unzureichende Hilfe bei der praktischen Durchführung dieser Anpassung im Ereignisfall bieten. Die Festlegung von Eingreifrichtwerten ist im Rahmen dieser Konzepte deshalb schwierig, weil eine Reihe der o. g. Umstände erst im Ereignisfall bekannt sind und erst dann die von der ICRP geforderte Optimierung durchgeführt werden kann. Außerdem empfiehlt die ICRP, sowohl die Maßnahmen zu optimieren als auch Einflüsse aus dem politischen und sozialen Bereich zu berücksichtigen. Diese Einflüsse sind a priori gar nicht und auch im Ereignisfall nur sehr schwer zu quantifizieren. Die gleichzeitige Erfüllung beider Forderungen ist daher nicht einfach.

Andererseits wird in ICRP 63 ausdrücklich gefordert, bereits bei der Planung für zukünftige Ereignisse Eingreifrichtwerte festzulegen, die im Ereignisfall sofort zur Verfügung stehen.

In den International Basic Safety Standards /IAE 96/, die gemeinsam von FAO, IAEA, ILO, OECD/NEA, PAHO und WHO publiziert wurden, werden Zahlenwerte - keine Bereiche oder Bandbreiten - für die maßnahmenspezifischen Eingreifrichtwerte angegeben. Damit stehen einerseits in der frühen Phase eines Ereignisfalls sofort Eingreifrichtwerte zur Verfügung, andererseits ist aber auch dem Erfordernis der Flexibilität Genüge getan, da die im Rahmen der Notfallschutzplanung erarbeiteten Eingreifrichtwerte beim Vorliegen schwerwiegender Gründe den Charakteristika und Randbedingungen des Ereignisses angepasst werden können. Dieses Konzept wird im folgenden Text "Startwert-Konzept" genannt.

Ausgehend von den o. g. Empfehlungen der ICRP und der IAEa sowie der bei verschiedenen Übungen gewonnenen Erfahrung, dass es unzureichend ist, im Rahmen der Notfallschutzplanung nur wie bisher Bandbreiten und Bereiche, aber keine Eingreifrichtwerte zu erarbeiten, wird in Deutschland dem Startwertkonzept der Vorzug gegeben.

Die Verwendung eines Startwert-Konzeptes für den Notfallschutz in Deutschland entspricht auch dem Vorgehen der Europäischen Kommission bei der Festlegung von Höchstwerten der Kontamination von Nahrungs- und Futtermitteln/EUR 87, EUR 89a, EUR 89b, EUR 90/.

1.3 Übersicht

Bei einer systematischen Darstellung von Entscheidungsgrundlagen und Maßnahmen unterscheidet man zweckmäßigerweise zwischen drei Unfallphasen und mehreren Expositionspfaden. Dies wird im zweiten Kapitel dieser Radiologischen Grundlagen behandelt.

Das dritte Kapitel "Gesundheitliche Folgen der Strahlenexposition" gliedert sich in zwei Teile: Strahlenwirkungen und Dosisbegriffe. Im ersten Teil ( 3.1-.3.3) werden diejenigen Strahlenwirkungen besprochen, die für die Festlegung von Eingreifrichtwerten relevant sind. Im zweiten Teil wird eine Reihe von Dosisbegriffen, die in den folgenden Kapiteln verwendet werden, erläutert.

Das vierte Kapitel ist den Schutzmaßnahmen gewidmet. Es werden die Maßnahmen und das Konzept für ihre Planung vorgestellt. Kernstück des Kapitels sind die als Startwerte definierten (Dosis-)Eingreifrichtwerte für die einzelnen Maßnahmen. Die Eingreifrichtwerte werden begründet und für die einzelnen Schutz: und Gegenmaßnahmen erläutert. Es wird dargestellt, dass bei Erreichen einer Dosis in Höhe der Eingreifrichtwerte aus radiologischer Sicht Handlungsbedarf besteht.

Gegenstand des fünften Kapitels ist die Entscheidungsfindung im Ereignisfall. Es werden die wichtigsten Einflussfaktoren beschrieben, die bei der Entscheidung über die Einleitung von Schutz- und Gegenmaßnahmen von Bedeutung sind. Der Vorgang der Entscheidungsfindung als iterativer Prozess der Bewertung von Einflussfaktoren wird erläutert und abschließend auf verfügbare methodische und mathematische Hilfsmittel hingewiesen.

Im sechsten und siebten Kapitel wird der Strahlenschutz der Einsatzkräfte und besonderer Berufsgruppen behandelt.

2 Unfallphasen und Expositionspfade

Es ist zweckmäßig, den Ablauf eines kerntechnischen Unfalls in drei Phasen zu unterteilen und dabei Gesichtspunkte wie den Status der Aktivitätsfreisetzung, Art und Dringlichkeit der Maßnahmen, Art und Verfügbarkeit von Entscheidungsgrundlagen sowie Relevanz von Expositionspfaden zu berücksichtigen. Deshalb wird in diesen Radiologischen Grundlagen zwischen der Vorfreisetzungsphase und der Freisetzungsphase, die sich beide über Stunden oder Tage erstrecken können, sowie der Nachfreisetzungsphase, die sich daran anschließt und je nach Freisetzung Wochen, Monate oder Jahre dauern kann, unterschieden.

Die Vorfreisetzungsphase (Bedrohungsphase) beginnt mit dem Zeitpunkt, zu dem die Möglichkeit einer größeren Freisetzung von Radionukliden aus der Anlage erkannt wird. Sie endet mit dem Beginn einer größeren Freisetzung oder der Beherrschung des Ereignisses. Die Vorfreisetzungsphase kann Stunden oder Tage dauern. In der Vorfreisetzungsphase können vorsorgliche Maßnahmen durchgeführt werden (z._ B. eine vorsorgliche Evakuierung im Nahbereich). Falls die Einnahme von Iodtabletten erforderlich werden könnte, sollte diese Zeit für ihre Verteilung/Abholung genutzt werden. Die Verwendung von Dosiskriterien als Grundlage für Entscheidungen über vorsorgliche Maßnahmen hängt von der Qualität der Vorhersage der Art und Menge der freigesetzten radioaktiven Stoffe, des Freisetzungsbeginns und -verlaufs sowie der Ausbreitungs- und Ablagerungsvorgänge ab. Bei schlechter Qualität dieser Vorhersagen tritt der gegenwärtige Anlagenzustand als Entscheidungsgrundlage in den Vordergrund. Kleine Freisetzungen, die auf die Durchführung von Maßnahmen keinen Einfluss haben, berühren die Definition der Vorfreisetzungsphase nicht.

Die Freisetzungsphase schließt an die Vorfreisetzungsphase an. Vorsorgliche Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung, insbesondere die Evakuierung im Nahbereich, sind vorzugsweise nur noch in den Gebieten möglich, die nicht in Ausbreitungsrichtung liegen oder von der radioaktiven Wolke noch nicht erreicht wurden. Die Freisetzungsphase endet, wenn im betrachteten Gebiet die Ausbreitungs- und Ablagerungsvorgänge beendet sind. Die Freisetzungsphase kann sich über mehrere Stunden oder Tage erstrecken. Sie ist charakterisiert durch den Übergang von der reinen Prognose der radiologischen Lage zur Feststellung der tatsächlichen Umgebungskontamination unter Einbeziehung von vermehrt vorliegenden Messwerten von stationären oder mobilen Messeinrichtungen. Unvorhersehbare oder unerwartete zeitliche Änderungen im Freisetzungsverlauf oder den atmosphärischen Ausbreitungsbedingungen können Änderungen oder Ergänzungen von bereits initiierten Schutzmaßnahmen erforderlich machen. Die direkt mit dem Durchzug der radioaktiven Wolke verbundenen Expositionspfade und der Strahlenschutz der Einsatzkräfte, die überwiegend keine beruflich strahlenexponierten Personen sind, erfordern in dieser Phase besondere Aufmerksamkeit. Beim lokalen Eintreffen der radioaktiven Wolke sollten die Warnung der Bevölkerung und gegebenenfalls die vorsorglichen Schutzmaßnahmen erfolgt sein.

Die Nachfreisetzungsphase erstreckt sich über den Zeitraum, in dem einerseits die Wolkenstrahlung und die Deposition völlig beendet oder zumindest nicht mehr von Bedeutung sind, aber die Rückkehr zu völlig normalen Lebensbedingungen noch nicht vollzogen ist. Anfänglich ist sie durch die genaue Analyse der radiologischen Lage charakterisiert, für die nun in ausreichender Zahl und Qualität Messwerte der Kontamination von Nahrungsmitteln, Trinkwasser, Oberflächen, Böden, Pflanzen und Gewässern zur Verfügung stehen. Zur ereignisbezogenen Rechtfertigung und Optimierung von Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung sowie zur Rechtfertigung und Optimierung der Strahlenexposition der Einsatzkräfte und besonderer Gruppen der Bevölkerung stehen nun die nötigen Daten, Hilfsmittel und auch die Zeit zur Verfügung. Bei der Entscheidung über Änderungen von Maßnahmen, die in den vorhergehenden Phasen beschlossen wurden oder zusätzliche Maßnahmen, z.B. Umsiedlung, ist zu bedenken, dass zu diesem späten Zeitpunkt nur noch ein Teil der ohne Maßnahmen auflaufenden Gesamtdosis vermieden werden kann (vermeidbare Dosis). Schließlich muss über die (schrittweise) Aufhebung der Maßnahmen entschieden werden.

Bei einem Unfall austretende radioaktive Stoffe können auf unterschiedlichen Pfaden zu einer Strahlenexposition des Menschen führen. Diese sind Abbildung 2.1 dargestellt und in Tabelle 2.1 zusammengefasst:

Abb. 2.1: Schematische Darstellung von Expositionspfaden, die zu äußerer oder innerer Strahlenexposition des Menschen führen können

Tab. 2.1: Expositionspfade

Äußere Strahlenexposition durch
  • Strahlung aus der radioaktiven Wolke
  • Strahlung aufgrund der Bodenkontamination
  • Strahlung aufgrund der Kontamination von Haut,
  • Kleidung oder Gegenständen
  • Direktstrahlung aus der Anlage1
    1) Die Direktstrahlung aus der Anlage kann im Vergleich zu den anderen Expositionspfaden nur im unmittelbaren Nahbereich von Bedeutung sein und wird daher im folgenden Text nicht mehr berücksichtigt.

Innere Strahlenexposition durch

  • Inhalation luftgetragener radioaktiver Stoffe aus der radioaktiven Wolke
  • Ingestion kontaminierter Lebensmittel
  • Inhalation aufgewirbelter Radionuklide, die zuvor schon auf dem Boden, auf den Gegenständen und der Kleidung abgelagert waren2
    2) In gemäßigten Zonen - wie Mitteleuropa - ist der Beitrag der nach Ablagerung aufgewirbelten Radionuklide klein gegenüber der äußeren Exposition aufgrund der Bodenkontamination, es sei denn, es handelt sich um eine überwiegende Freisetzung von α-Strahlern.

3 Gesundheitliche Folgen der Strahlenexposition

3.1 Strahlenwirkungen: Stochastische Wirkung

Jede biologische Wirkung ionisierender Strahlung entsteht durch statistisch verteilte Energiedeposition in der Zelle. Sie führt zu Ionisationen in den verschiedenen Molekülen der Zelle, die dadurch verändert werden können. Besonders folgenreich sind dabei Veränderungen an der Erbinformation der DNA, die

zur Folge haben können.

Jede Zelle verfügt über ein großes Potenzial zur Reparatur von Veränderungen der DNA. Daher werden die meisten molekularen Veränderungen folgenlos bleiben. Es ist aber möglich, dass eine Reparatur fehlerhaft verläuft und dadurch eine mutierte Zelle entsteht, die sich teilt und ihre veränderte genetische Information weitergibt. Aus einer veränderten Zelle kann sich über eine noch nicht vollständig aufgeklärte Ereigniskette eine Gruppe (ein Klon) von Zellen ohne Wachstumskontrolle bilden, die sich zu einem Karzinom oder einer Leukämie entwickeln können. Diese Wirkung wird auch als somatische Wirkung bezeichnet.

Wenn die Mutation in einer Keimzelle erfolgt, kann der zelluläre Defekt auf die Nachkommen vererbt werden. Man spricht dann von der genetischen Wirkung der Strahlung.

Für diese Mutations-Wirkungen wird angenommen, dass keine Dosisschwelle besteht. Die Folgen werden erst nach einer Latenzzeit von Jahren erkennbar. Eine Erhöhung der Strahlendosis erhöht die Wahrscheinlichkeit des Wirkungseintritts, nicht aber die Schwere des Schadens (Abbildung 3.1). Die Kurvendarstellung beginnt daher am Nullpunkt mit einem linearen Anstieg im untersten Dosisbereich und nimmt bei höheren Dosen und zunehmender Wahrscheinlichkeit eine quadratische Form an. Wenn sich die Dosis dem Bereich deterministischer Wirkungen nähert, flacht der Anstieg der Kurve ab, weil der Zelltod als Folge hoher Dosen die Wahrscheinlichkeit reduziert, dass sich aus überlebenden aber mutierten Zellen ein Klon bösartiger Zellen und damit ein Krebstumor oder eine Leukämie bildet.

In dieser Form wird die biologische Strahlenwirkung als stochastische Wirkung bezeichnet.

Ihre quantitative Erfassung ist nicht einfach, da sich bei heutigem Kenntnisstand nicht erkennen lässt, ob sich ein Tumor aufgrund ionisierender Strahlung oder aus einem anderen Grund entwickelt hat. Daher wird mit Hilfe epidemiologischer Untersuchungen von größeren Populationen, die strahlenexponiert wurden (Atombombenopfer von Hiroshima und Nagasaki), die Zahl von Krebstodesfällen ermittelt, die die Zahl auch ohne Strahlung auftretender Krebstodesfälle übersteigt. Diese Zahl kann in Beziehung gesetzt werden zu der Dosis einer vorausgegangenen Strahlenexposition. Aus beiden Daten lässt sich das Strahlenrisiko als Eintrittswahrscheinlichkeit pro Dosiseinheit mathematisch-statistisch ausdrücken. Die so berechneten Risikozahlen stellen keine unveränderliche Größe dar. Veränderungen in der Datenbasis können eine Änderung des berechneten Risikos bewirken. So nimmt die Zahl der Krebstodesfälle mit dem Alterungsprozess der untersuchten Population zu, die zusätzliche Einbeziehung von Krebserkrankungen (Inzidenz) zu den Krebstodesfällen (Mortalität) verändert die statistische Basis ebenso wie neue Erkenntnisse bei der Abschätzung der Strahlendosis.

Abb. 3.1: Eintrittswahrscheinlichkeit einer stochastischen Wirkung in Abhängigkeit von der Dosis (in Anlehnung an /SSK 96/ 2)

Der Notfallschutz hat dabei bezüglich der stochastischen Wirkungen das Ziel, die Wahrscheinlichkeit zusätzlicher Krebsfälle durch eine Strahlenexposition der Bevölkerung mit Hilfe geeigneter Maßnahmen so weit wie möglich zu vermindern, ohne dass es aufgrund der Durchführung der Maßnahmen zu unakzeptablen Nachteilen für die Bevölkerung kommt.

3.2 Strahlenwirkungen: Deterministische Wirkung

Während stochastische Wirkungen ohne Schwellen auch bei niedrigen Strahlendosen auftreten können, entstehen deterministische Wirkungen, wenn infolge der hohen Energiedeposition Zellen in funktionell bedeutsamer Zahl geschädigt werden oder absterben, eine Regeneration nicht möglich ist oder erheblich zeitverzögert eintritt. Diese Wirkungen können vorübergehend oder dauerhaft sein.

Sekundäre deterministische Wirkungen können erkennbar werden, wenn durch Strahlung die Blutversorgung (durch Schädigung der Blutgefäße) von Organen verändert oder eingeschränkt wird oder wenn durch Strahlung zerstörtes Funktionsgewebe (z.B. Drüsengewebe) durch Bindegewebe ersetzt wird, das die spezifischen Funktionen nicht übernehmen kann.

Da diese deterministischen Wirkungen eine höhere Energiedeposition voraussetzen, gibt es dafür Schwellendosen, die für Gewebe, Organe und Individuen unterschiedlich sind (Bereich der Schwellendosis, siehe Abbildung 3.2). Oberhalb des Bereichs der Schwellendosis ist das Ausmaß des Schadens dosisabhängig, die Eintrittswahrscheinlichkeit dagegen 100 Prozent.

Abb. 3.2: Schwere einer deterministischen Wirkung in Abhängigkeit von der Dosis (in Anlehnung an /SSK96/ 3

Die meisten Gewebe lassen bei einer Strahlenexposition unter einem Sievert 4 (siehe Abschnitt "Dosisbegriffe") keine klinischen Krankheitsbilder erkennen (ICRP-Veröffentlichung Nr. 60 /ICR 93/).

Eine Ausnahme bilden folgende Organe:

Die Augenlinse zeigt bei einer einmaligen Strahlendosis von mehr als 2 Sv nach einer Latenzzeit von mehreren Jahren eine Trübung, die das Sehvermögen beeinträchtigt.

Das erste Ziel des Notfallschutzes ist es, deterministische Wirkungen zu verhindern.

In Abhängigkeit von der Dosis und dem exponierten Körperbereich (Ganz- oder Teilkörper) lassen sich typische klinische Syndrome unterscheiden.

Im Folgenden werden beispielhaft deterministische Wirkungen in der Form klinischer Krankheitsbilder beschrieben:

Das akute Strahlensyndrom

Es tritt nach Ganzkörperbestrahlung in Dosisbereichen oberhalb von 1 Sv (Expositionszeit wenige Stunden) auf, diese Dosis kann bei einem schweren kerntechnischen Unfall nur in unmittelbarer Nähe der Anlage auftreten. Es zeigt drei klinische Erscheinungsformen, die unterschiedlichen Dosisbereichen zugeordnet werden können /Fli 92, SSK 95b/ 5:

Die hämatologische Form (Überwiegende Schädigung des blutbildenden Knochenmarks, Dosisbereich ca. 1 Sv-10 Sv) beginnt mit einer eher uncharakteristischen Frühsymptomatik: Übelkeit, Erbrechen und allgemeine Körperschwäche, evtl. Früherythem = Hautrötung). Im Blutbild finden sich charakteristische Veränderungen, die in der Folge einen dosisabhängigen Verlauf zeigen.

Das Ausmaß der Störung der Blutbildung und die eingesetzte Therapie entscheiden darüber, ob das bestrahlte Unfallopfer überlebt.

Die gastrointestinale Form (Zusätzliche Schädigung der Darmschleimhaut, nach einer Ganzkörperexposition von ca. 10 Sv-30 Sv). Die Frühsymptomatik ist auch hier uncharakteristisch (Übelkeit, Erbrechen, Körperschwäche, stets Früherythem), aber sie beginnt früher und ist ausgeprägter. Außer der Blutbildung wird nun auch die Dünndarmschleimhaut schwer geschädigt. Darminfektionen und andauernde Durchfälle sind die Folge. Bis zu einer Dosis von ca. 20 Sv gibt es auch bei diesem Krankheitsbild bei intensiver Therapie in Einzelfällen eine Chance zu überleben.

Die zentralnervöse Form (Zusätzliche Schädigung des Zentralnervensystems, nach einer Ganzkörperbestrahlung von mehr als 30 Sv). Diese schwerste Form des akuten Strahlensyndroms zeigt eine sofort einsetzende Frühsymptomatik mit Benommenheit und einem ausgeprägten Erythem. Aufgrund des umfangreichen Untergangs von Zellen bzw. der massiven Störung ihrer Funktion endet dieser Zustand stets tödlich.

Die hier aufgeführten klinischen Symptome stehen im Vordergrund des Krankheitsgeschehens. Daneben sind auch immer andere Organe betroffen: die Mundschleimhaut und die Speicheldrüsen, die Schilddrüse und insbesondere die Lunge, deren strahleninduzierte Entzündung (Strahlenpneumonitis) eine erhebliche Komplikation darstellt.

Das kutane Strahlensyndrom (Strahlenwirkung auf die Haut)

Prinzipiell gehört diese Strahlenwirkung zum akuten Strahlensyndrom, weil höhere Dosen (ca. 3 Sv-5 Sv /ICR 93/) erforderlich sind, um durch äußere Bestrahlung eine Hautschädigung hervorzurufen.

Diese kann bei Teilkörperexposition auch ohne die klinischen Erscheinungen des akuten Strahlensyndroms entstehen und sie kann auch durch eine starke Kontamination der Haut mit Betastrahlern hervorgerufen werden.

Das Frühsymptom besteht in einem Früherythem, das nach 0,5 bis 36 Stunden auftritt. Nach einer Latenzzeit von bis zu 28 Tagen tritt dann ein zweites Erythem auf (Haupterythem), das in Blasen und Geschwürbildung übergeht. Die sich daran anschließende chronische Phase dauert Monate bis Jahre.

3.3 Wirkungen einer Bestrahlung während der vorgeburtlichen Entwicklung

Diese Strahlenwirkung muss besonders betrachtet werden, weil das Leben in dieser Entwicklungsphase besonders empfindlich auf ionisierende Strahlung reagiert. Deterministische und stochastische Wirkungen werden dabei gemeinsam besprochen. Folgende Wirkungen sind - z. T. nur im Tierversuch - beobachtet worden:

Diese Wirkungen sind abhängig von der vorgeburtlichen Entwicklungsphase, in der die Exposition erfolgt:

Für fast alle diese Wirkungen bestehen Schwellenwerte, bei deren Unterschreitung die Wirkung nicht mehr erkennbar ist. Die Schwellenwerte sind allerdings unterschiedlich je nach Strahlenwirkung und vorgeburtlichem Stadium, in dem die Exposition erfolgt.

In der ICRP-Veröffentlichung Nr. 60 /ICR 93/ wird als niedrigster Schwellenwert 100 mSv angegeben. Bei diesem Wert handelt es sich um eine Abschätzung aus Tierversuchen bei kurzzeitiger Strahlenexposition.

Die Entstehung maligner Erkrankungen (Krebs oder Leukämie) nach der Geburt bei Bestrahlung des Embryo oder des Feten im Uterus kann aufgrund epidemiologischer Untersuchungen nicht ausgeschlossen werden. Die für den Bereich 10 mSv-50 mSv berichtete Erhöhung der Leukämie- und Krebsrate ist allerdings nicht unumstritten, da andere Befunde dem widersprechen. Es wird heute davon ausgegangen, dass während der vorgeburtlichen Entwicklung und bei Kleinkindern eine höhere Strahlenempfindlichkeit vorliegt als beim Erwachsenen, die bei gleicher Dosis eine um den Faktor 2-3 höhere Rate an malignen Erkrankungen verursacht /SSK 89, ICR 93/.

3.4 Dosisbegriffe

Jede biologische Strahlenwirkung entsteht durch Energiedeposition in der Zelle. Ihre Größe wird durch die Energiedosis angegeben, d. h. durch die Energie, die in ein Volumenelement eingetragen wird, dividiert durch die Masse in diesem Volumen. Die Einheit der Energie ist das Joule, die Einheit der Masse das Kilogramm. Im Strahlenschutz interessieren in der Regel die über biologische Gewebe oder ein Organ gemittelten Energiedosen. Die Einheit der Energiedosis ist das Gray (Gy). Es ist 1 Gy = 1 J/kg.

Die biologische Wirkung ist nicht nur von der Energie, sondern auch von der Strahlenart abhängig. Alphateilchen und Neutronen haben eine andere biologische Wirksamkeit als Röntgen-, Beta- oder Gammastrahlung. Um ein für alle Strahlenarten gültiges Maß für die Strahlenwirkung zu erhalten, wird die Energiedosis mit einem Wichtungsfaktor multipliziert, der für jede Strahlenart definiert ist und die biologische Wirksamkeit relativ zu der von Photonen charakterisiert. Die mit dem Strahlungswichtungsfaktor multiplizierte mittlere Energiedosis in einem Gewebe oder Organ heißt dann Aquivalentdosis in einem Gewebe oder Organ. Sie wird in Sievert (Sv) angegeben. Es ist 1 Sv = 1 J/kg. In der Praxis wird oft auch die Einheit Millisievert (mSv) verwendet (1 Sv = 1000 mSv).

Die biologische Wirkung der ionisierenden Strahlung ist ferner in den verschiedenen Geweben und Organen des Körpers unterschiedlich. Diese Unterschiede sind besonders zu bewerten im Hinblick auf die stochastische Wirkung. Die Wahrscheinlichkeit der Krebsentstehung ist in den verschiedenen Geweben und Organen des Körpers unterschiedlich hoch. Um diese unterschiedliche Empfindlichkeit in der Dosis zahlenmäßig zum Ausdruck zu bringen, wurden Gewebewichtungsfaktoren eingeführt. Die Summe der so gewichteten Gewebe- und Organdosen wird effektive Dosis genannt. Auch sie wird in Sievert (Sv) angegeben. Im Notfallschutz wird die effektive Dosis generell verwendet, weil die Einleitung von Maßnahmen bei Dosen vorgesehen ist, bei denen noch keine deterministischen Wirkungen sondern nur stochastische Wirkungen auftreten können. 6

Von Bedeutung für die biologische Wirkung ist auch die Zeitspanne, innerhalb der ionisierende Strahlung auf ein biologisches Gewebe einwirkt, d. h. zum Beispiel, ob dort eine Dosis von 1 Sv innerhalb einer Stunde oder innerhalb eines Jahres erreicht wird. Der Quotient aus der Dosis und dem zugehörigen Zeitintervall wird als Dosisleistung bezeichnet. Sie wird in Sv/h angegeben. Im Notfallschutz wird das Zeitintervall, auf das sich ein Dosiswert bezieht, als Integrationszeit der Dosis bezeichnet.

Als Kollektivdosis wird die Summe der effektiven Dosen in einer betroffenen Bevölkerung bezeichnet.

Ionisierende Strahlung kann den Körper auf verschiedene Weise treffen. Gamma- und Röntgenstrahlung sowie Neutronen werden durch die Haut kaum abgeschwächt. Sie werden in unterschiedlichem Umfang durch die Körpergewebe absorbiert. Eine derartige äußere Bestrahlung führt, wenn sie den ganzen Körper trifft, zu einer Ganzkörperexposition, wenn nur Körperteile betroffen sind zu einer Teilkörperexposition.

Wenn sich Radionuklide auf der unbedeckten Haut ablagern, spricht man von Hautkontamination. Insbesondere in diesem Fall führen Betastrahler (z.B. Strontium 90, Iod 131) mit einer relativ geringen Eindringtiefe zu einer Energieabsorption in der Haut, erzeugen also im Wesentlichen eine Hautdosis.

Aufgrund der erheblich höheren Eindringtiefe der Gammastrahlung ist die durch sie verursachte Hautdosis im Vergleich zur effektiven Dosis vernachlässigbar. Alphateilchen haben eine so geringe Eindringtiefe, dass es bei Kontamination zu keiner relevanten Dosis in der strahlenempfindlichen Erneuerungsschicht der Haut kommt, da diese von der Strahlung nicht erreicht wird.

Es bestehen auch verschiedene Möglichkeiten der direkten Aufnahme radioaktiver Stoffe in den Körper:

Sind radioaktive Stoffe in den Körper gelangt, so werden sie teilweise wieder ausgeschieden (Atmung, Stuhl, Urin) oder aber in Organen für unterschiedliche Dauer eingelagert. Das Verbleiben im Körper wird durch die so genannte "biologische Halbwertszeit" charakterisiert, d. h. die Zeit, bei der die Hälfte der Radionuklide wieder aus dem Körper ausgeschieden ist. Sie kann sich stark von der "physikalischen Halbwertszeit" eines Radionuklides infolge des radioaktiven Zerfalls unterscheiden. Solange die Radionuklide sich im Körper befinden, erzeugen sie eine Dosis, die als Folgedosis bezeichnet wird. Je nachdem ob es sich um eine effektive Dosis oder eine Organdosis handelt, spricht man von effektiver Folgedosis oder Organ-Folgedosis. Beide Arten von Folgedosis werden bei Erwachsenen für einen Integrationszeitraum von 50 Jahren und bei Kindern für 70 Jahre ermittelt.

Jeder Mensch ist von seiner Geburt an ionisierender Strahlung ausgesetzt, die aus der natürlichen Umwelt stammt und kaum beeinflusst werden kann. Sie variiert in den verschiedenen Regionen der Erde. Aus dieser permanenten Einwirkung der natürlichen Strahlung lässt sich eine Lebenszeitdosis abschätzen. Sie beträgt in Deutschland bei einer Lebenserwartung von 70 Jahren im Mittel 170 mSv mit einer Schwankungsbreite von 100 mSv-400 mSv. Ein Zusammenhang zwischen der Schwankungsbreite der natürlichen Strahlenexposition und gesundheitlichen Folgen ist in Deutschland nicht festgestellt worden.

4 Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung

4.1 Maßnahmen und ihre Wirkung

Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung werden durch Entscheidungen der Einsatzleitungen des Katastrophenschutzes bzw. der Strahlenschutzvorsorge aufgrund der Kenntnis über den Anlagenzustand und nach Bewertung der radiologischen Lage und der aktuellen Situation in den betroffenen Gebieten ausgelöst. Eine Übersicht über die wichtigsten Maßnahmen, die geeignet sind, die Strahlenexposition zu vermeiden oder zumindest herabzusetzen, ist zusammen mit den dadurch beeinflussbaren Expositionspfaden in Tabelle 4.1 angegeben.

Bei der Maßnahme Aufenthalt in Gebäuden wird die Bevölkerung aufgefordert, sich in schützende Räume zu begeben und sich dort über den empfohlenen Zeitraum aufzuhalten. Schützende Räume sollten so gewählt werden, dass die Inkorporation von Radionukliden mit der Atemluft und die äußere Strahlung durch Abschirmung so weit wie möglich reduziert werden. Die erreichbare Abschirmwirkung gegen äußere Strahlung hängt stark vom Gebäudetyp, den Baumaterialien und der Umgebungsbebauung ab, Variationsbreiten von mehreren Zehnerpotenzen sind möglich (siehe Tabelle 4.2).

Tab. 4.1: Maßnahmen und damit beeinflussbare Expositionspfade

Maßnahmen Expositionspfade, zu deren Beeinflussung die Maßnahmen geeignet sind
Aufenthalt in Gebäuden Alle Expositionspfade außer Ingestion
Vorsorgliche Evakuierung in der Vorfreisetzungsphase Alle Expositionspfade außer Ingestion
Einnahme von Iodtabletten Inhalation von radioaktivem Iod (Radioiod)
Evakuierung in der Freisetzungsphase Alle Expositionspfade außer Ingestion
Zugangsbeschränkung, Absperrung von Gebieten Alle Expositionspfade außer Ingestion
Personendekontamination Äußere Exposition durch auf der Haut und in den Haaren abgelagerte Radionuklide
Eingriffe in die Versorgung mit Lebens- und Futtermitteln Ingestion von kontaminierten Lebensmitteln
Temporäre Umsiedlung, Langfristige Umsiedlung Äußere Exposition durch abgelagerte Radionuklide, Inhalation durch Resuspension
Dekontamination von Gegenständen, Immobilien und Gelände Äußere Exposition durch abgelagerte Radionuklide und Inkorporation

Besonderes Augenmerk ist auf Baugebiete mit Holzhäusern oder Holzrahmenkonstruktionen zu legen, da dort die erreichbare Abschirmung nur gering sein kann.

Die Maßnahme Aufenthalt in Gebäuden dient nicht nur dem Schutz vor Strahlenexposition, sondern erleichtert auch die Information der Bevölkerung durch die Behörden über Radio und Fernsehen.

Der Begriff Evakuierung kennzeichnet die rasche organisierte oder zumindest durch Hilfskräfte unterstützte Räumung eines Gebietes in der Vorfreisetzungs- und Freisetzungsphase; er enthält keine Aussage darüber, ob dic Bevölkerung kurzfristig an ihren Wohnort zurückkehren kann oder nicht. Rechtzeitig durchgeführt erzielt diese Maßnahme die höchstmögliche Schutzwirkung, nämlich die Vermeidung der äußeren und inneren Strahlenexposition über die in Tabelle 4.1 angegebenen Expositionspfade. Bei zu hoher Kontamination des Wohnorts kann der Übergang der Evakuierung in eine Umsiedlung erforderlich werden.

Umsiedlung bezeichnet die Räumung eines Gebiets in der Nachfreisetzungsphase; sie wirkt damit nur noch gegen die äußere Bestrahlung vom Boden und die Inhalation von in die Atemluft resuspendierten radioaktiven Stoffen. Sie wird im Allgemeinen erst nach dem Vorliegen flächendeckender Messwerte ausgesprochen, wobei im Hinblick auf die Durchführung und die Dauer zu unterscheiden ist zwischen temporärer und längerfristiger Umsiedlung.

Die temporäre Umsiedlung ist auf einen Zeitraum von einigen Wochen bis zu mehreren Monaten begrenzt; die betroffene Bevölkerung kann danach in ihre Wohngebiete zurückkehren; Dekontaminationsmaßnahmen in Wohngebieten und auf Landflächen können die Dauer der temporären Umsiedlung verkürzen. Die Infrastruktur und alle Produktions- und Versorgungseinrichtungen im betroffenen Gebiet können nach dem Ende der Maßnahme wieder genutzt werden. Damit sind die sozialen und wirtschaftlichen Konsequenzen im Vergleich zur langfristigen Umsiedlung geringer.

Tab. 4.2: Schutzfaktoren für äußere Exposition in Wohngebieten /Jac 89, Jac 98, Mec 88/

Aufenthaltsort Schutzfaktoren für äußere Exposition in Wohngebieten
aus der radioaktiven Wolkeb kurz nach Ablagerung
im Freien    
Umgebung mit Bepflanzung (Bäume) 1,0-1,4 0,6c-2,0
städtische Umgebung mit Nachbargebäuden, ohne Bepflanzung (Bäume) 1,2-3,3 3,3-10
in Wohnräumen vona    
Fertigteilhäusern 1,2-10 1,2-2,5
Doppelhaushälften und  
Einfamilienreihenhäusern 3,3-50
Mehrfamilienhäusern und Häuserblöcken 10-200 25-1.000
in Kellerna    
mit Fenstern über dem Erdboden 10-1.000  
ohne Fenster, Doppelhaushälfte 20-100
mit Lichtschächten und   330-5.000
Fenstern, in Häuserblöcken 500-10.000 1.000-20.000
a) Die Schutzfaktoren sind ohne mögliche Kontamination von Innenräumen berechnet. Falls die Flächenkontamination von Böden, Wänden und Decken etwa ein % der Kontamination von Wiesen beträgt, reduziert sich der tatsächliche Schutzfaktor auf etwa 100 und liegt damit für gut abgeschirmte Räume deutlich niedriger als in der Tabelle angegeben.

b) Abschätzung basierend auf einer homogenen Radioaktivitätsverteilung in der Atmosphäre.

c) Schutzfaktoren kleiner als eins ergeben sich aufgrund der erhöhten Ablagerung auf Bäumen bei trockener Deposition.

Die langfristige Umsiedlung über einen unbestimmt langen Zeitraum ist dann erforderlich, wenn eine hohe Dosisleistung im betroffenen Gebiet aufgrund der Kontamination mit langlebigen Radionukliden nur langsam abnimmt. Als Konsequenz muss die betroffene Bevölkerung in anderen Gebieten neu angesiedelt und in das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben integriert werden. Dies bedeutet nicht nur den Neubau von Wohnungen mit der notwendigen Infrastruktur und die Schaffung neuer Arbeitsplätze, sondern auch die Bewältigung sozialer Probleme durch den zumindest zeitweisen Verlust von Einkommen und die psychische Belastung der Betroffenen.

Die rechtzeitige Einnahme von Iodtabletten schützt die Schilddrüse gegen in den Körper aufgenommenes radioaktives Iod. Dies ist wichtig für diejenigen Bevölkerungsgruppen, bei denen während des Durchzugs der radioaktiven Wolke die Inhalation von radioaktivem Iod mit der Atemluft erfolgt. Die Aufnahme radioaktiven Iods über kontaminierte Lebensmittel wird über die Versorgung mit nicht kontaminierten Lebensmitteln unterbunden.

Bei den Eingriffen in die Versorgung der Bevölkerung wird zwischen der (vorsorglichen) Warnung der Bevölkerung vor dem Verzehr frisch geernteter Lebensmittel und von Frischmilch einerseits und Eingriffen in die Versorgung mit Nahrungs- und Futtermitteln auf der Grundlage von Höchstwerten der Kontamination andererseits unterschieden. Die genannte Warnung der Bevölkerung erfolgt in der Umgebung eines Emittenten spätestens zu Beginn einer gefahrenbringenden Freisetzung oder bei ungeklärter radiologischer Lage, im Fernbereich bei erheblichen Radionuklidkonzentrationen in der Luft. Die Höchstwerte an Radioaktivität in Nahrungs- und Futtermitteln im Falle eines nuklearen Unfalls oder einer anderen radiologischen Notstandssituation sind in EU-Verordnungen /EUR 87, EUR 89a, EUR 89b, EUR 90/ festgelegt sowie im Maßnahmenkatalog /MNK 98/ 7 ausführlich erläutert.

Wichtigste Voraussetzung zur Erzielung der bestmöglichen Schutzwirkung von Maßnahmen bei einem kerntechnischen Unfall ist die sachgerechte und umfassende Information der Bevölkerung.

4.2 Grundsätze für die Einleitung von Maßnahmen im Ereignisfall

Die Rechtfertigung von Schutz- und Gegenmaßnahmen aus radiologischer Sicht ist Gegenstand dieser Radiologischen Grundlagen. Bei Erreichen der Eingreifrichtwerte besteht aus radiologischen Gründen Handlungsbedarf.

In die Optimierung fließen die Bedingungen des Einzelfalls ein. Sie kann erst im Ereignisfall stattfinden und ist daher in diesen Radiologischen Grundlagen ausschließlich Gegenstand des Kapitels 5 über Entscheidungsfindung im Ereignisfall.

Aus den "Radiologischen Grundlagen" von 1988/89 /RAD 88/ werden folgende Grundsätze übernommen:

Der Grundsatz der Vermeidung deterministischer Wirkungen und hoher Risiken stochastischer Wirkungen ist die Basis der Arbeit des Katastrophenschutzes in der Umgebung kerntechnischer Anlagen. Den deterministischen Wirkungen wird ein so großes Gewicht beigemessen, dass die Forderung nach Optimierung der Maßnahmen mit der Forderung nach Minimierung der Schadensfälle gleichbedeutend ist.

Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit führt dazu, dass Maßnahmen, die einen geringen Eingriff in das Leben der Einzelpersonen bedeuten (z.B. der Aufenthalt in Gebäuden und Eingriffe in den Handel mit Lebens- und Futtermitteln) bei niedrigeren Strahlendosen durchgeführt werden, als Maßnahmen, die die Lebensumstände stark beeinflussen (z.B. Evakuierung und Umsiedlung).

Die Bedeutung der Kollektivdosis als Entscheidungsgrundlage kann erst im Ereignisfall beurteilt werden. Falls der größte Beitrag zur Kollektivdosis von vielen kleinen individuellen Strahlendosen herrührt, die eine große Anzahl von Personen erhält und die nur mit großem Aufwand reduziert werden können, ist die Kollektivdosis keine geeignete Entscheidungsgrundlage.

4.3 Konzept für die Festlegung von Eingreifrichtwerten

In diesen Radiologischen Grundlagen wird zwischen Eingreifrichtwerten und Eingreifwerten unterschieden. Eingreifrichtwerte sind Planungswerte, Eingreifwerte sind die im Ereignisfall zur Anwendung gelangenden Werte. Von den Eingreifrichtwerten sollte im Ereignisfall nur beim Vorliegen schwerwiegender Gründe abgewichen werden.

Beim Erarbeiten des Konzepts für die Festlegung von Eingreifrichtwerten war Folgendes zu berücksichtigen:

Diese Radiologischen Grundlagen sind ein Planungsinstrument, das sich ausschließlich auf diejenigen der o. g. Entscheidungsgrundlagen stützt, die von Art und Umfang eines kerntechnischen Unfalls unabhängig sind. Die hier abgeleiteten Eingreifrichtwerte sind daher allgemein anwendbare Zahlenwerte. Sie dienen im Ereignisfall als Eingreifwert (Startwert), der dann geändert werden sollte, wenn schwerwiegende Gründe vorliegen, z.B. wenn die so definierte Zuordnung von Maßnahmen und Gebieten im Konflikt mit schwerwiegenden Einflussfaktoren steht (siehe Kapitel 5).

Eingreifwerte, die über den Eingreifrichtwerten liegen, können dann gerechtfertigt sein, wenn die Durchführung der Maßnahme mit großen Nachteilen verbunden oder die vermeidbare Dosis gering ist.

Eingreifwerte, die unter den Eingreifrichtwerten liegen, sind aus radiologischen Gründen nicht gerechtfertigt.

Bei Strahlendosen unterhalb der Eingreifwerte muss die Bevölkerung unter Angabe geeigneter Vergleichsgrößen über das Strahlenrisiko informiert werden.

Die Anwendung unterschiedlicher Eingreifwerte in verschiedenen Regionen ist zu vermeiden.

Ausgehend von den genannten Überlegungen wurden Eingreifrichtwerte festgelegt, die mit Ausnahme des Wertes für die Evakuierung zwischen den Richtwerten des bisher gültigen Bandbreitenkonzeptes liegen, das heißt diese sind für die einzelnen Maßnahmen weder mit dem unteren noch mit dem oberen bisher empfohlenen Richtwert identisch.

In Veröffentlichungen der Internationalen Strahlenschutzkommission und der Europäischen Kommission werden Konzepte vorgestellt, die auch schwer quantifizierbare Einflüsse und Entscheidungsgrundlagen, die von Art und Umfang des Unfalls abhängen, zu berücksichtigen versuchen (siehe Einleitung). Beim Vergleich dieser Radiologischen Grundlagen mit den eben genannten internationalen und europäischen Veröffentlichungen ist es daher wichtig, klar zwischen den allgemein gültigen Radiologischen Grundlagen und umfassenden Entscheidungsgrundlagen zu unterscheiden, die z.B. auch ereignisspezifische - evtl. extreme - Bedingungen, nicht quantifizierbare Einflüsse oder die Prüfung der Durchführbarkeit von Maßnahmen berücksichtigen.

4.4 Eingreifrichtwerte für die Einleitung von Maßnahmen

4.4.1 Allgemeine Erwägungen

Beim Festlegen der Eingreifrichtwerte für die Einleitung von Maßnahmen sind die in der Strahlenschutzverordnung ( StrlSchV) festgelegten Dosisgrenzwerte nicht anwendbar, da diese nach den Grundsätzen der Rechtfertigung und Optimierung einer plan- und steuerbaren Strahlenexposition abgeleitet wurden. Außerdem regelt die StrlSchV i. a. Tätigkeiten, die kontinuierlich ausgeführt werden können (z.B. Betrieb von Kernkraftwerken, Anwendungen von Radionukliden in Medizin, Forschung und Technik).

Im Gegensatz dazu ist ein kerntechnischer Unfall ein zeitlich und räumlich singuläres Ereignis. Zur Beurteilung der durch ihn verursachten zusätzlichen Strahlenexposition kann darum die Schwankungsbreite der Lebensdosis infolge der natürlichen Strahlenexposition als geeignete Vergleichsgröße herangezogen werden. Die effektive Lebensdosis liegt ir Deutschland bei etwa 70a ⋅ 2,4 mSv/a = 170 mSv mit einer Schwankungsbreite zwischen ungefähr 100 mSv um 400 mSv, d. h. einer Schwankungsbreite von ca. 300 mS, Geht man davon aus, dass

  1. Maßnahmen, die einen schwerwiegenden Eingriff in da: Leben der Bevölkerung darstellen, wie z.B. Evakuierung oder Umsiedlung, nur gerechtfertigt sind, wenn durch sie unfallbedingte Dosiswerte mindestens in der Größenordnung der durch die natürliche Strahlenexposition während der gesamten Lebenszeit akkumulierten Strahlendosen vermieden werden können, und
  2. einfach realisierbare Maßnahmen, wie z.B. der Aufenthalt in Gebäuden, die Einnahme von Iodtabletten oder Einschränkungen beim Verzehr von Nahrungsmitteln bereits bei deutlich niedrigeren Dosiswerten initiiert werden sollten,

so kommt man zu einem Dosis-Eingreifrichtwert in der Größenordnung von 300 mSv.

Ein Zusammenhang zwischen der natürlichen Strahlenexposition und gesundheitlichen Wirkungen ist in Deutschland nicht festgestellt worden. Es gibt daher keinen Grund, bei sehr unwahrscheinlichen Ereignissen für so einschneidende Maßnahmen, wie Evakuierung und Umsiedlung, Eingreifrichtwerte unterhalb von 300 mSv pro Lebenszeit festzulegen. Wenn im folgenden trotzdem für langfristige Umsiedlung ein Eingreifrichtwert von 100 mSv pro Jahr festgelegt wird, so ist damit berücksichtigt, dass

Wird die für schwere Eingriffe (Evakuierung, Umsiedlung) maßgebliche Dosis von 100 mSv in einer Zeitspanne erreicht, die kürzer als ein Jahr ist, so ist über die Umsiedlung hinaus zu prüfen, ob der Eingreifrichtwert für die kurzfristige Maßnahme Evakuierung (Integrationszeit der Dosis = 7 Tage) erreicht wird.

Die Eingreifrichtwerte für die weniger einschneidenden Maßnahmen des Notfallschutzes sollten andererseits auch deutlich oberhalb der Bandbreite der jährlichen natürlichen Strahlenexposition in Deutschland liegen. Diese Überlegung ist unabhängig von der aktuellen Bewertung des Strahlenrisikos. Deswegen wird als niedrigster Eingreifrichtwert 10 mSv effektive Dosis für die relativ einfach durchführbare Maßnahme Aufenthalt in Gebäuden festgelegt.

Die Werte 10 mSv und 100 mSv bringen außerdem zum Ausdruck, dass sich die Eingreifrichtwerte im Rahmen des hier verwendeten Konzepts nicht nach mathematischen Formeln ableiten lassen, sondern das Ergebnis einer qualitativen Abwägung darstellen.

Die aus diesen allgemeinen Überlegungen heraus begründeten Größenordnungen von Eingreifrichtwerten müssen für die praktischen Anwendungen noch hinsichtlich der Integrationszeit der Dosis, d. h. dem Zeitraum, der bei der Berechnung der Strahlendosen zugrunde zu legen ist, der dabei zu berücksichtigenden Expositionspfade und der Art der Dosis festgelegt werden. Ausführungen dazu findet man bei den Dosis-Eingreifrichtwerten für die einzelnen Maßnahmen (siehe Abschnitte 4.4.2 bis 4.4.6).

Ziel der Maßnahmen des Katastrophenschutzes und der Strahlenschutzvorsorge ist die Vermeidung deterministischer Wirkungen und die Verringerung unfallbedingter stochastischer Wirkungen. Den oben genannten Eingreifrichtwerten entsprechend dienen die Maßnahmen Aufenthalt in Gebäuden, Einnahme von Iodtabletten, Eingriffe in den Handel mit Lebensmitteln und Umsiedlung der Verminderung stochastischer Wirkungen, während die Evakuierung darüber hinaus zur Vermeidung hoher Kurzzeitdosen bis hinein in den deterministischen Bereich geeignet ist. Daher ist die angemessene Integrationszeit der Dosis, die den Eingreifrichtwert für Evakuierung bildet, die für deterministische Wirkungen relevante Expositionszeit. Der Schutz vor stochastischen Wirkungen wird durch längere Integrationszeiten und/oder niedrigere Eingreifrichtwerte bei den übrigen Maßnahmen erreicht. Die Eingreifrichtwerte der übrigen Maßnahmen werden vor demjenigen für Evakuierung erreicht.

Die mit den Eingreifrichtwerten zu vergleichende Dosis ist grundsätzlich die Gesamtdosis über die Expositionspfade, gegen die die Maßnahme wirkt. Sie muss aus den zum Zeitpunkt der Entscheidungsfindung vorliegenden Basisinformationen ableitbar sein: Messwerten und/oder (gegebenenfalls daraus) berechneten räumlichen und zeitlichen Verteilungen von Strahlendosen/Dosisleistungen oder Aktivitätskonzentrationen. Dabei handelt es sich grundsätzlich um "potentielle" radiologische Größen, die keine möglichen Maßnahmen berücksichtigen.

Es wäre theoretisch möglich, die individuellen Lebensgewohnheiten zu berücksichtigen. Wegen der großen Unterschiede in den individuellen Lebensgewohnheiten - wenig oder viel Aufenthalt im Freien, Aufenthalt in Häusern mit kleiner oder großer Abschirmwirkung - und zur Vereinfachung und Vereinheitlichung des Rechenverfahrens ist es sinnvoll, permanenten Aufenthalt im Freien zugrunde zu legen.

4.4.2 Aufenthalt in Gebäuden

Der Aufenthalt in schützenden Räumen abseits von Türen und Fenstern oder in Kellern stellt einen im Vergleich zur Evakuierung und Umsiedlung geringen Eingriff in das Leben der Bevölkerung dar. Daher ist als Startwert ein Eingreifrichtwert von 10 mSv effektiver Dosis gerechtfertigt. Relevante Expositionspfade (siehe Tabelle 2.1) sind die äußere Bestrahlung aus der radioaktiven Wolke und durch auf Oberflächen abgelagerte Radionuklide sowie die innere Bestrahlung nach Inhalation. Als Integrationszeitraum der Dosis wird der Zeitraum von sieben Tagen festgelegt. Bei der Festlegung dieses Zeitraums wurde davon ausgegangen, dass sich über einen noch längeren Zeitraum der zuerst strikte und danach überwiegende Aufenthalt in Gebäuden nicht aufrechterhalten lässt. Der größte Teil der Bevölkerung würde in diesem Fall das betroffene Gebiet vermutlich ohne Aufforderung verlassen. Dies gilt auch bei Freisetzungen, die länger als wenige Tage andauern. Wird der Eingreifrichtwert für temporäre Umsiedlung (siehe Abschnitt 4.4.6) nicht erreicht, ist die Bevölkerung unter Angabe geeigneter Vergleichsgrößen über das Strahlenrisiko zu unterrichten. Da der Eingreifrichtwert deutlich unterhalb der Dosisschwellen für deterministische Wirkungen liegt, ist die effektive Dosis die angemessene Größe:

Eingreifrichtwert für die Maßnahme Aufenthalt in Gebäuden:

10 mSv als Summe aus effektiver Dosis durch äußere Exposition in sieben Tagen und effektiver Folgedosis durch die in diesem Zeitraum inhalierten Radionuklide

4.4.3 Einnahme von Iodtabletten

Die rechtzeitige Einnahme von Iodtabletten schützt die Schilddrüse gegen inkorporiertes Radioiod. Radioaktives Iod kann über die Atemwege (Inhalation) sowie über den Verzehr kontaminierter Lebensmittel (Ingestion) in den menschlichen Körper gelangen (Inkorporation). Ohne Schutzmaßnahmen kann in der Vegetationsperiode die Ingestionsdosis infolge des Verzehrs lokal erzeugter Nahrungsmittel erheblich größer sein als die Inhalationsdosis. Bei der Entscheidung über die Einnahme von Iodtabletten ist aber zu beachten, dass die Ingestion von Radioiod besser durch die Versorgung mit nicht kontaminierten Lebensmitteln als durch die Verabreichung von Iodtabletten vermieden wird.

Die Einnahme von Iodtabletten bedeutet einen geringen Eingriff in das Leben der Bevölkerung. Bei der Festlegung des Eingreifrichtwerts sind allerdings mögliche Nebenwirkungen zu berücksichtigen. Nach Abwägung von Nutzen und Risiken wurde ein Eingreifrichtwert von 50 mSv Schilddrüsendosis bei Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren sowie Schwangeren und von 250 mSv bei Personen von 18 bis 45 Jahren als angemessen erachtet /SSK 04a/. Angaben zu Art und Dosierung der tabletten befinden sich im Anhang.

Personen über 45 Jahren wird von einer Einnahme der tabletten abgeraten, da für diese das Risiko von Nebenwirkungen durch die Iodtabletteneinnahme größer ist als der Schutz vor möglichen Strahlenschäden. Sie sind durch die für alle Altersgruppen vorgesehenen Maßnahmen Aufenthalt in Gebäuden, Eingriffe in den Handel mit Lebens- und Futtermitteln und Evakuierung ausreichend geschützt.

Eingreifrichtwert für die Einnahme von Iodtabletten:

50 mSv Schilddrüsendosis (Organ-Folgedosis) bei Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren sowie Schwangeren und von 250 mSv bei Personen von 18 bis 45 Jahren durch das im Zeitraum von sieben Tagen inhalierte Radioiod.

Dabei wird vorausgesetzt, dass die Versorgung mit nicht kontaminierten Lebensmitteln gewährleistet ist.

4.4.4 Evakuierung

Wegen der Schwere des Eingriffs in das persönliche Leben ist ein Eingreifrichtwert von 100 mSv effektive Dosis angemessen. Relevante Expositionspfade (siehe Tabelle 2.1) sind die äußere Bestrahlung aus der radioaktiven Wolke und durch auf Oberflächen abgelagerte Radionuklide sowie die innere Bestrahlung nach Inhalation. Als Integrationszeitraum der Dosis wird der Zeitraum von sieben Tagen festgelegt. Mit dieser Integrationszeit sind die Beiträge zur Kurzzeitdosis, die für deterministische Wirkungen relevant ist, konservativ abgeschätzt. Außerdem ist der Beitrag kurzlebiger Spaltprodukte (T1/2 < 1 Tag) ausreichend berücksichtigt. Bei vorwiegend äußerer Strahlenexposition durch längerlebige abgelagerte Radionuklide werden die Eingreifrichtwerte für temporäre oder längerfristige Umsiedlung zuerst erreicht. Da der Eingreifrichtwert deutlich unterhalb der Dosisschwellen für deterministische Wirkungen liegt, ist die effektive Dosis die angemessene Größe:

Eingreifrichtwert für Evakuierung:

100 mSv als Summe aus effektiver Dosis durch äußere Exposition in sieben Tagen und effektiver Folgedosis durch die in diesem Zeitraum inhalierten Radionuklide

4.4.5 Langfristige Umsiedlung

Die Umsiedlung über einen langen Zeitraum oder für den Rest des Lebens ist als schwerer Eingriff in die persönlichen Lebensumstände zu betrachten. Daher ist wie bei der Evakuierung ein Eingreifrichtwert von 100 mSv angemessen. Da die Umsiedlung eine wirkungsvolle Maßnahme gegen längerfristige äußere Strahlenexposition darstellt, ist ein längerer, aber der Dosisvorhersage zugänglicher Zeitraum zu betrachten. Als Integrationszeitraum der Dosis wird daher ein Jahr festgelegt. Da der Eingreifrichtwert deutlich unterhalb der Dosisschwellen für deterministische Wirkungen liegt, ist die effektive Dosis die angemessene Größe:

Eingreifrichtwert für langfristige Umsiedlung:

100 mSv effektive Dosis als Folge äußerer Exposition durch auf dem Erdboden und sonstigen Oberflächen abgelagerten Radionukliden in einem Jahr

In gemäßigten Zonen - wie Mitteleuropa - ist die Inhalationsdosis als Folge der Resuspension von abgelagerten Radionukliden klein gegenüber der äußeren Exposition durch abgelagerte Radionuklide und kann darum bei der Berechnung der Interventionsdosen vernachlässigt werden. Der Ingestionspfad muss nicht berücksichtigt werden, da vorausgesetzt werden kann, dass genügend nicht kontaminierte Lebensmittel zur Verfügung stehen.

4.4.6 Temporäre Umsiedlung

Falls zu erwarten ist, dass die Dosisleistung durch äußere Bestrahlung von der Bodenoberfläche aufgrund von radioaktivem Zerfall oder natürlichen Dekontaminationsvorgängen in den Wochen und Monaten nach dem Unfall relativ schnell abklingt, kann eine vorübergehende Umsiedlung über einige Wochen bis zu mehreren Monaten ausreichend sein. Die Dosisintegrationszeit muss länger sein als die Zeitdauer, um die temporäre Umsiedlung abzuschließen, sie sollte aber auch deutlich kleiner sein als die Integrationszeit für langfristige Umsiedlung, um die Möglichkeit der Rückkehr nach einigen Wochen deutlich zu machen. Darum wird die Integrationszeit für temporäre Umsiedlung auf einen Monat festgelegt. Da die temporäre Umsiedlung als eigenständige Maßnahme von geringerer Auswirkung auf die persönlichen und gesellschaftlichen Lebensumstände der betroffenen Bevölkerung ist, muss der Eingreifrichtwert unter demjenigen für langfristige Umsiedlung liegen. Er wird auf 30 mSv festgesetzt. Da der Eingreifrichtwert deutlich unterhalb der Dosisschwellen für deterministische Wirkungen liegt, ist die effektive Dosis die angemessene Größe:

Eingreifrichtwert für temporäre Umsiedlung:

30 mSv effektive Dosis durch äußere Exposition in einem Monat

Bei Kontamination des Bodens und anderer Oberflächen durch Radionuklide mit sehr langer Halbwertszeit entspricht eine Dosis von 100 mSv/a ungefähr einer Dosis von 10 mSv/Monat, d. h., der Eingreifrichtwert für langfristige Umsiedlung wird vor demjenigen für temporäre Umsiedlung erreicht. Umgekehrt fällt bei überwiegender Kontamination durch kurzlebige Radionuklide (z.B. Radioiod) der größte Teil der Dosis innerhalb eines Monats an. Je nach Höhe und Zeitverlauf der Dosisleistung werden folglich die Eingreifrichtwerte für Aufenthalt in Gebäuden, temporäre Umsiedlung oder Evakuierung überschritten, der Eingreifrichtwert für langfristige Umsiedlung jedoch nicht.

In der folgenden Tabelle sind die Eingreifrichtwerte für die angegebenen Maßnahmen zusammengestellt:

Tab. 4.3: Eingreifrichtwerte für die Maßnahmen Aufenthalt in Gebäuden, Einnahme von Iodtabletten, Evakuierung, langfristige Umsiedlung und temporäre Umsiedlung

Maßnahme Eingreifrichtwerte
  Organdosis (Schilddrüse) effektive Dosis Integrationszeiten und Expositionspfade
Aufenthalt in Gebäuden   10 mSv äußere Exposition in sieben Tagen und effektive Folgedosis durch in diesem Zeitraum inhalierte Radionuklide
Einnahme von Iodtabletten 50 mSv
Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren sowie Schwangere,

250 mSv
Personen von 18 bis 45 Jahren

  Organ-Folgedosis der Schilddrüse durch im Zeitraum von sieben Tagen inhaliertes Radioiod
Evakuierung   100 mSv äußere Exposition in sieben Tagen und effektive Folgedosis durch in diesem Zeitraum inhalierte Radionuklide
Langfristige Umsiedlung   100 mSv äußere Exposition in einem Jahr durch abgelagerte Radionuklide
Temporäre Umsiedlung   30 mSv äußere Exposition in einem Monat

Ist bei lang anhaltenden Freisetzungen der Zeitraum des Wolkendurchzugs in einzelnen Gebieten größer als sieben Tage, dann ist die Integrationszeit entsprechend zu verlängern.

Für die Entscheidungsfindung über die Maßnahmen temporäre und langfristige Umsiedlung steht mehr Zeit zur Verfügung als für die Entscheidungsfindung über die Katastrophenschutzmaßnahmen Aufenthalt in Gebäuden, Einnahme von Iodtabletten und Evakuierung.

Durch das Gesamtsystem der Eingreifrichtwerte gemäß Tabelle 4.3 erfolgen die Gegenmaßnahmen

Um von den örtlich unterschiedlichen Schutzfaktoren unabhängig zu sein, wird bei der Anwendung der genannten Eingreifrichtwerte ein ununterbrochener Aufenthalt im Freien von 24 Stunden pro Tag angenommen. Die mit den Eingreifrichtwerten verbundenen Maßnahmen beginnen also bereits bei realen Strahlenexpositionen, die erheblich darunter liegen. Unter realen Strahlenexpositionen werden Expositionen verstanden, die bei normalen Lebensgewohnheiten, d. h. überwiegendem Aufenthalt in Gebäuden, auftreten.

Durch das Gesamtsystem der Eingreifrichtwerte wird somit sichergestellt, dass die besonders schützenswerte Gruppe der Kinder insgesamt im Kindesalter maximal eine unfallbedingte Strahlenexposition erhält, die in der Größenordnung der natürlichen Strahlenexposition in ihrem weiteren Leben liegt.

Darüber hinaus liegen die Eingreifrichtwerte gemäß Tabelle 4.3 am unteren Ende des in ICRP 63 angegebenen Intervalls für die optimierten Eingreifwerte. Bei dieser Aussage ist berücksichtigt, dass sich das eben genannte Intervall der ICRP auf die durch Maßnahmen vermeidbare Dosis bezieht, d. h. nicht auf die Dosis bei ununterbrochenem Aufenthalt im Freien.

4.4.7 Eingriffe in die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln

Bei den Eingriffen in die Versorgung der Bevölkerung wird zwischen der (vorsorglichen) Warnung der Bevölkerung vor dem Verzehr frisch geernteter Lebensmittel und von Frischmilch einerseits und Eingriffen in die Versorgung mit Nahrungs- und Futtermitteln auf der Grundlage von Höchstwerten der Kontamination andererseits unterschieden. Die genannte Warnung der Bevölkerung erfolgt in der Umgebung eines Emittenten spätestens zu Beginn einer gefahrbringenden Freisetzung oder bei ungeklärter radiologischer Lage, im Fernbereich bei erheblichen Radionuklidkonzentrationen in der Luft. Die Höchstwerte an Radioaktivität in Nahrungs- und Futtermitteln im Falle eines nuklearen Unfalls oder einer anderen radiologischen Notstandssituation sind in EU-Verordnungen /EUR 87, EUR 89a, EUR 89b, EUR 90/ festgelegt sowie im Maßnahmenkatalog /MNK 98/ 9 ausführlich erläutert.

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