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Regelwerk

Radiologische Grundlagen für Entscheidungen über Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung bei unfallbedingten Freisetzungen von Radionukliden

Verabschiedet in der 158. Sitzung der Strahlenschutzkommission am 17./18. Dezember 1998

Verabschiedet im Länderausschuß für Atomkernenergie - Hauptausschuß - im Umlaufverfahren am 6. April 1999

(GMBl. 1999 S. 570)
aufgehoben durch Radiologische Grundlagen vom 27.10.2008


zur aktuellen Fassung

1 Einführung

1.1 Grundlage und Zweckbestimmung

Deutsche Kernkraftwerke verfügen über Sicherheitseinrichtungen sowie vorgeplante Maßnahmen, die das Eintreten eines kerntechnischen Unfalls mit relevanten radiologischen Auswirkungen in der Umgebung praktisch ausschließen sollen. Zu einem solchen Ereignisablauf könnte es nur dann kommen, wenn die vorhandenen, mehrfach gestaffelten Sicherheitsmaßnahmen nicht greifen sollten und die zusätzlichen Maßnahmen zur Verhinderung schwerer Kernschäden und zur Eindämmung ihrer radiologischen Folgen nicht erfolgreich wären. Für diesen Fall werden Katastrophenschutzplanungen für die Umgebung von Kernkraftwerken erarbeitet.

Bei einer drohenden, stattfindenden oder bereits abgeschlossenen Freisetzung von Radionukliden nach Eintritt eines kerntechnischen Unfalls können Maßnahmen des Katastrophenschutzes und der Strahlenschutzvorsorge erforderlich werden. Beide typen von Maßnahmen werden unter dem Begriff "Notfallschutzmaßnahmen" zusammengefaßt. Ihr gemeinsames Ziel ist es, deterministische Wirkungen vollständig zu vermeiden und stochastische Wirkungen auf der Grundlage der Verhältnismäßigkeit zu minimieren.

Grundlage von Maßnahmen des Katastrophenschutzes sind die entsprechenden Gesetze der Länder, die Planung und Durchführung derartiger Maßnahmen erfolgt in Anlehnung an die "Rahmenempfehlungen für den Katastrophenschutz in der Umgebung kerntechnischer Anlagen" /RAH 99/. Der Vollzug des Strahlenschutzvorsorgegesetzes wird durch die Länder in Bundesauftragsverwaltung durchgeführt, soweit nicht (z.B. im Bereich großräumiger Überwachung der Umweltradioaktivität) bundeseigene Verwaltungsbehörden tätig werden.

Unabhängig von der jeweiligen Zuständigkeit sind die gesicherten Erkenntnisse des Strahlenschutzes sowie die nationalen, europäischen und internationalen Erfahrungen und Empfehlungen auf dem Gebiet des Notfallschutzes eine wesentliche Grundlage der Planung von Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung vor unfallbedingter Strahlenexposition in Deutschland. Als radiologische Basis verabschiedete der Länderausschuß für Atomkernenergie - Hauptausschuß - am 06. April 1999 diese "Radiologischen Grundlagen für Entscheidungen über Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung bei unfallbedingten Freisetzungen von Radionukliden", im folgenden Text kurz "Radiologische Grundlagen" genannt. Sie ersetzen die "Radiologischen Grundlagen" von 1988/89 /R.AD 88/.

Die neuen Radiologischen Grundlagen basieren auf dem strahlenbiologischen Wissen, besonders hinsichtlich der Dosis-Risiko- und Dosis-Wirkungs-Beziehungen für stochastische bzw. deterministische Wirkungen, und einem Vergleich der unfallbedingten Strahlenexposition mit der Höhe und der Schwankungsbreite der natürlichen Strahlenexposition der Bevölkerung, summiert über die Lebenszeit. Um dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung zu tragen, wird außerdem die Schwere des Eingriffs der verschiedenen Maßnahmen in das persönliche Leben berücksichtigt. Bei Abwägung aller genannten Gesichtspunkte ergibt sich eine Zuordnung von Eingreifrichtwerten der Dosis zu jeder der Maßnahmen Aufenthalt in Gebäuden, Einnahme von Iodtabletten, Evakuierung und Umsiedlung (maßnahmenspezifische Eingreifrichtwerte). Diese Abwägung und Zuordnung läßt sich zu Planungszwecken im Rahmen der Vorsorge für eventuelle zukünftige Ereignisse unabhängig vom Einzelereignis durchführen.

Im Ereignisfall kommen bei der Entscheidungsfindung über Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung zu den so definierten radiologischen Grundlagen weitere Gesichtspunkte hinzu. Dazu gehören Einflußfaktoren, die erst im Ereignisfall bekannt - z.B. die Charakteristika des betroffenen Gebietes und die Durchführbarkeit von Maßnahmen - oder nur schwer quantifizierbar sind, wie z.B. Reaktionen der Bevölkerung oder soziopsychologische Aspekte. Die in den Radiologischen Grundlagen dargestellten Eingreifrichtwerte und die ereignisspezifischen Einflußfaktoren bilden in ihrer Gesamtheit die Grundlagen der Entscheidungsfindung über Maßnahmen im Ereignisfall.

1.2 Bezug zu internationalen Empfehlungen

In der internationalen Literatur werden unterschiedliche Konzepte zur Planung und Durchführung von Maßnahmen des Notfallschutzes beschrieben. Darüber hinaus werden im Rahmen desselben Konzepts oft unterschiedliche Dosiswerte empfohlen. Ein allgemein anerkanntes Konzept, das von der Bundesrepublik Deutschland übernommen werden könnte, gibt es somit nicht.

Die am 11. Mai 1988 vom Länderausschuß für Atomkernenergie verabschiedeten "Radiologischen Grundlagen" IRAD 88/ basieren auf dem sogenannten Bandbreitenkonzept, das 1982 von der Europäischen Gemeinschaft /EG 82/ und 1984 von der Internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP) in ihrer Veröffentlichung Nr. 40 /ICR 84/ beschrieben wurde. Die in /RAD 88/ angegebenen Zahlenwerte für die Eingreifrichtwerte stammen überwiegend aus /EG 82/.

In ihrer Veröffentlichung Nr. 63 /ICR 96/ führte die ICRP die Grundsätze der Rechtfertigung und Optimierung von Maßnahmen ein und publizierte ein Konzept, das auf maßnahmenspezifischen Eingreifrichtwerten basiert, bei deren Erreichen die Maßnahmen im allgemeinen gerechtfertigt sind. Darüber hinaus werden maßnahmenspezifische Dosisbereiche angegeben, in denen der im Ereignisfall zu optimierende Eingreifwert vermutlich liegt. Bei diesem Konzept stellt die durch Maßnahmen vermeidbare Dosis eine Schlüsselgröße dar.

Beide ICRP-Konzepte /ICR 84, ICR 96/ sind sehr flexibel hinsichtlich der Anpassung an die Umstände des Einzelfalls (Anzahl der betroffenen Personen, Durchführbarkeit von Maßnahmen, Reaktion der Bevölkerung, vermeidbare Individual- und Kollektivdosis etc.), es ist ihnen aber auch gemeinsam, daß sie eine nur sehr unzureichende Hilfe bei der praktischen Durchführung dieser Anpassung im Ereignisfall bieten. Die Festlegung von Eingreifrichtwerten ist im Rahmen dieser Konzepte deshalb schwierig, weil eine Reihe der o. g. Umstände erst im Ereignisfall bekannt sind und erst dann die von der ICRP geforderte Optimierung durchgeführt werden kann. Außerdem empfiehlt die ICRP, sowohl die Maßnahmen zu optimieren als auch Einflüsse aus dem politischen und sozialen Bereich zu berücksichtigen. Diese Einflüsse sind a priori gar nicht und auch im Ereignisfall nur sehr schwer zu quantifizieren. Die gleichzeitige Erfüllung beider Forderungen ist daher nicht einfach.

Andererseits wird in ICRP 63 ausdrücklich gefordert, bereits bei der Planung für zukünftige Ereignisse Eingreifrichtwerte festzulegen, die im Ereignisfall sofort zur Verfügung stehen.

In den International Basic Safety Standards /IAE 96/, die gemeinsam von FAO, IAEA, ILO, OECD/NEA, PAHO und WHO publiziert wurden, werden Zahlenwerte - keine Bereiche oder Bandbreiten - für die maßnahmenspezifischen Eingreifrichtwerte angegeben. Damit stehen einerseits in der frühen Phase eines Ereignisfalls sofort Eingreifrichtwerte zur Verfügung, andererseits ist aber auch dem Erfordernis der Flexibilität Genüge getan, da die im Rahmen der Notfallschutzplanung erarbeiteten Eingreifrichtwerte beim Vorliegen schwerwiegender Gründe den Charakteristika und Randbedingungen des Ereignisses angepaßt werden können. Dieses Konzept wird im folgenden Text "Startwert-Konzept" genannt.

Ausgehend von den o. g. Empfehlungen der ICRP und der IAEa sowie der bei verschiedenen Übungen gewonnenen Erfahrung, daß es unzureichend ist, im Rahmen der Notfallschutzplanung nur wie bisher Bandbreiten und Bereiche, aber keine Eingreifrichtwerte zu erarbeiten, wird in Deutschland dem Startwertkonzept der Vorzug gegeben.

Die Verwendung eines Startwert-Konzeptes für den Notfallschutz in Deutschland entspricht auch dem Vorgehen der Europäischen Kommission bei der Festlegung von Höchstwerten der Kontamination von Nahrungs- und Futtermitteln /EUR 87, EUR 89a, EUR 89b, EUR 90/.

1.3 Übersicht

Bei einer systematischen Darstellung von Entscheidungsgrundlagen und Maßnahmen unterscheidet man zweckmäßigerweise zwischen drei Unfallphasen und mehreren Expositionspfaden. Dies wird im 2. Kapitel dieser Radiologischen Grundlagen behandelt.

Das 3. Kapitel "Gesundheitliche Folgen der Strahlenexposition" gliedert sich in zwei Teile: Strahlenwirkungen und Dosisbegriffe. Im ersten Teil ( 3.1 -3.3) werden diejenigen Strahlenwirkungen besprochen, die für die Festlegung von Eingreifrichtwerten relevant sind. Im zweiten Teil werden eine Reihe von Dosisbegriffen, die in den folgenden Kapiteln verwendet werden, erläutert.

Das 4. Kapitel ist den Schutzmaßnahmen gewidmet. Es werden die Maßnahmen und das Konzept für ihre Planung vorgestellt. Kernstück des Kapitels sind die als Startwerte definierten (Dosis-)Eingreifrichtwerte für die einzelnen Maßnahmen. Die Eingreifrichtwerte werden begründet und für die einzelnen Schutz- und Gegenmaßnahmen erläutert. Es wird dargestellt, daß bei Erreichen einer Dosis in Höhe der Eingreifrichtwerte aus radiologischer Sicht Handlungsbedarf besteht.

Gegenstand des 5. Kapitels ist die Entscheidungsfindung im Ereignisfall. Es werden die wichtigsten Einflußfaktoren beschrieben, die bei der Entscheidung über die Einleitung von Schutz- und Gegenmaßnahmen von Bedeutung sind. Der Vorgang der Entscheidungsfindung als iterativer Prozeß der Bewertung von Einflußfaktoren wird erläutert und abschließend auf verfügbare methodische und mathematische Hilfsmittel hingewiesen.

Im 6. und 7. Kapitel wird der Strahlenschutz der Einsatzkräfte und besonderer Berufsgruppen behandelt.

2 Unfallphasen und Expositionspfade

Es ist zweckmäßig, den Ablauf eines kerntechnischen Unfalls in drei Phasen zu unterteilen und dabei Gesichtspunkte wie den Status der Aktivitätsfreisetzung, Art und Dringlichkeit der Maßnahmen, Art und Verfügbarkeit von Entscheidungsgrundlagen sowie Relevanz von Expositionspfaden zu berücksichtigen. Deshalb wird in diesen Radiologischen Grundlagen zwischen der Vorfreisetzungsphase und der Freisetzungsphase, die sich beide über Stunden oder Tage erstrecken können, sowie der Nachfreisetzungsphase, die sich daran anschließt und je nach Freisetzung Wochen, Monate oder Jahre dauern kann, unterschieden.

Die Vorfreisetzungsphase (Bedrohungsphase) beginnt mit dem Zeitpunkt, zu dem die Möglichkeit einer größeren Freisetzung von Radionukliden aus der Anlage erkannt wird. Sie endet mit dem Beginn einer größeren Freisetzung oder der Beherrschung des Ereignisses. Die Vorfreisetzungsphase kann Stunden oder Tage dauern. In der Vorfreisetzungsphase können vorsorgliche Maßnahmen durchgeführt werden (z.B. eine vorsorgliche Evakuierung im Nahbereich). Falls die Einnahme von Iodtabletten erforderlich werden könnte, sollte diese Zeit für ihre Verteilung/Abholung genutzt werden. Die Verwendung von Dosiskriterien als Grundlage für Entscheidungen über vorsorgliche Maßnahmen hängt von der Qualität der Vorhersage der Art und Menge der freigesetzten radioaktiven Stoffe, des Freisetzungsbeginns und -verlaufs sowie der Ausbreitungs- und Ablagerungsvorgänge ab. Bei schlechter Qualität dieser Vorhersagen tritt der gegenwärtige Anlagenzustand als Entscheidungsgrundlage in den Vordergrund. Kleine Freisetzungen, die auf die Durchführung von Maßnahmen keinen Einfluß haben, berühren die Definition der Vorfreisetzungsphase nicht.

Die Freisetzungsphase schließt an die Vorfreisetzungsphase an. Vorsorgliche Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung, insbesondere die Evakuierung im Nahbereich, sind vorzugsweise nur noch in den Gebieten möglich, die nicht in Ausbreitungsrichtung liegen oder von der radioaktiven Wolke noch nicht erreicht wurden. Die Freisetzungsphase endet, wenn im betrachteten Gebiet die Ausbreitungs- und Ablagerungsvorgänge beendet sind. Die Freisetzungsphase kann sich über mehrere Stunden oder Tage erstrecken. Sie ist charakterisiert durch den Übergang von der reinen Prognose der radiologischen Lage zur Feststellung der tatsächlichen Umgebungskontamination unter Einbeziehung von vermehrt vorliegenden Meßwerten von stationären oder mobilen Meßeinrichtungen. Unvorhersehbare oder unerwartete zeitliche Änderungen im Freisetzungsverlauf oder den atmosphärischen Ausbreitungsbedingungen können Änderungen oder Ergänzungen von bereits initiierten Schutzmaßnahmen erforderlich machen. Die direkt mit dem Durchzug der radioaktiven Wolke verbundenen Expositionspfade und der Strahlenschutz der Einsatzkräfte, die überwiegend keine beruflich strahlenexponierten Personen sind, erfordern in dieser Phase besondere Aufmerksamkeit. Beim lokalen Eintreffen der radioaktiven Wolke sollten die Warnung der Bevölkerung und gegebenenfalls die vorsorglichen Schutzmaßnahmen erfolgt sein.

Die Nachfreisetzungsphase erstreckt sich über den Zeitraum, in dem einerseits die Wolkenstrahlung und die Deposition völlig beendet oder zumindest nicht mehr von Bedeutung sind, aber die Rückkehr zu völlig normalen Lebensbedingungen noch nicht vollzogen ist. Anfänglich ist sie durch die genaue Analyse der radiologischen Lage charakterisiert, für die nun in ausreichender Zahl und Qualität Meßwerte der Kontamination von Nahrungsmitteln, Trinkwasser, Oberflächen, Böden, Pflanzen und Gewässern zur Verfügung stehen. Zur ereignisbezogenen Rechtfertigung und Optimierung von Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung sowie zur Rechtfertigung und Optimierung der Strahlenexposition der Einsatzkräfte und besonderer Gruppen der Bevölkerung stehen nun die nötigen Daten, Hilfsmittel und auch die Zeit zur Verfügung. Bei der Entscheidung über Änderungen von Maßnahmen, die in den vorhergehenden Phasen beschlossen wurden oder zusätzliche Maßnahmen, z.B. Umsiedlung, ist zu bedenken, daß zu diesem späten Zeitpunkt nur noch ein Teil der ohne Maßnahmen auflaufenden Gesamtdosis vermieden werden kann (vermeidbare Dosis). Schließlich muß über die (schrittweise) Aufhebung der Maßnahmen entschieden werden.

Bei einem Unfall austretende radioaktive Stoffe können auf unterschiedlichen Pfaden zu einer Strahlenexposition des Menschen führen. Diese sind in Tabelle 2.1 zusammengefaßt und in Abbildung 2.1 dargestellt:

Tab. 2.1: Expositionspfade

Äußere Strahlenexposition durch
  • Strahlung aus der radioaktiven Wolke
  • Strahlung aufgrund der Bodenkontamination
  • Strahlung aufgrund der Kontamination von Haut, Kleidung oder Gegenständen
  • Direktstrahlung aus der Anlage1
Innere Strahlenexposition durch
  • Inhalation luftgetragener radioaktiver Stoffe aus der radioaktiven Wolke
  • Ingestion kontaminierter Lebensmittel
  • Inhalation aufgewirbelter Radionuklide, die zuvor schon auf dem Boden, auf den Gegenständen und der Kleidung abgelagert waren.2
1) Die Direktstrahlung aus der Anlage kann im Vergleich zu den anderen Expositionspfaden nur im unmittelbaren Nahbereich von Bedeutung sein und wird daher im folgenden Text nicht mehr berücksichtigt.

2) In gemäßigten Zonen - wie Mitteleuropa - ist der Beitrag der nach Ablagerung aufgewirbelten Radionuklide klein gegenüber der äußeren Exposition aufgrund der Bodenkontamination, es sei denn, es handelt sich um eine überwiegende Freisetzung von α -Strahlern.

Abb. 2.1: Schematische Darstellung von Expositionspfaden, die zu äußerer oder innerer Strahlenexposition des Menschen führen können 

3 Gesundheitliche Folgen der Strahlenexposition

3.1 Strahlenwirkungen: Stochastische Wirkung

Jede biologische Wirkung ionisierender Strahlung entsteht durch statistisch verteilte Energiedeposition in der Zelle. Sie führt zu Ionisationen in den verschiedenen Molekülen der Zelle, die dadurch verändert werden können. Besonders folgenreich sind dabei Veränderungen an der Erbinformation der DNA, die

Jede Zelle verfügt über ein großes Potential zur Reparatur von Veränderungen der DNA. Daher werden die meisten molekularen Veränderungen folgenlos bleiben. Es ist aber möglich, daß eine Reparatur fehlerhaft verläuft und dadurch eine mutierte Zelle entsteht, die sich teilt und ihre veränderte genetische Information weitergibt. Aus einer veränderten Zelle kann sich über eine noch nicht vollständig aufgeklärte Ereigniskette eine Gruppe (ein Klon) von Zellen ohne Wachstumskontrolle bilden, die sich zu einem Karzinom oder einer Leukämie entwickeln können. Diese Wirkung wird auch als somatische Wirkung bezeichnet.

Wenn die Mutation in einer Keimzelle erfolgt, kann der zelluläre Defekt auf die Nachkommen vererbt werden. Man spricht dann von der genetischen Wirkung der Strahlung.

Für diese Mutations-Wirkungen wird angenommen, daß keine Dosisschwelle besteht. Die Folgen werden erst nach einer Latenzzeit von Jahren erkennbar. Eine Erhöhung der Strahlendosis erhöht die Wahrscheinlichkeit des Wirkungseintritts, nicht aber die Schwere des Schadens (Abbildung 3.1). Die Kurvendarstellung beginnt daher am Nullpunkt mit einem linearen Anstieg im untersten Dosisbereich und nimmt bei höheren Dosen und zunehmender Wahrscheinlichkeit eine quadratische Form an. Wenn sich die Dosis dem Bereich deterministischer Wirkungen nähert, flacht der Anstieg der Kurve ab, weil der Zelltod als Folge hoher Dosen die Wahrscheinlichkeit reduziert, daß sich aus überlebenden, aber mutierten Zellen ein Klon bösartiger Zellen und damit ein Krebstumor oder eine Leukämie bildet.

In dieser Form wird die biologische Strahlenwirkung als stochastische Wirkung bezeichnet.

Ihre quantitative Erfassung ist nicht einfach, da sich bei heutigem Kenntnisstand nicht erkennen läßt, ob sich ein Tumor aufgrund ionisierender Strahlung oder aus einem anderen Grund entwickelt hat. Daher wird mit Hilfe epidemiologischer Untersuchungen von größeren Populationen, die strahlenexponiert wurden (Atombombenopfer von Hiroshima und Nagasaki), die Zahl von Krebstodesfällen ermittelt, die die Zahl auch ohne Strahlung auftretender Krebstodesfälle übersteigt. Diese Zahl kann in Beziehung gesetzt werden zu der Dosis einer vorausgegangenen Strahlenexposition. Aus beiden Daten läßt sich das Strahlenrisiko als Eintrittswahrscheinlichkeit pro Dosiseinheit mathematisch-statistisch ausdrücken. Die so berechneten Risikozahlen stellen keine unveränderliche Größe dar. Veränderungen in der Datenbasis können eine Änderung des berechneten Risikos bewirken. So nimmt die Zahl der Krebstodesfälle mit dem Alterungsprozeß der untersuchten Population zu, die zusätzliche Einbeziehung von Krebserkrankungen (Inzidenz) zu den Krebstodesfällen (Mortalität) verändert die statistische Basis ebenso wie neue Erkenntnisse bei der Abschätzung der Strahlendosis.

Der Notfallschutz hat dabei bezüglich der stochastischen Wirkungen das Ziel, die Wahrscheinlichkeit zusätzlicher Krebsfälle durch eine Strahlenexposition der Bevölkerung mit Hilfe geeigneter Maßnahmen so weit wie möglich zu vermindern, ohne daß es aufgrund der Durchführung der Maßnahmen zu unakzeptablen Nachteilen für die Bevölkerung kommt.

Abb. 3.1: Eintrittswahrscheinlichkeit einer stochastischen Wirkung in Abhängigkeit von der Dosis (in Anlehnung an /SSK 96/)

3.2 Strahlenwirkungen: Deterministische Wirkung

Während stochastische Wirkungen ohne Schwellen auch bei niedrigen Strahlendosen auftreten können, entstehen deterministische Wirkungen, wenn infolge der hohen Energiedeposition Zellen in funktionell bedeutsamer Zahl geschädigt werden oder absterben, eine Regeneration nicht möglich ist oder erheblich zeitverzögert eintritt. Diese Wirkungen können vorübergehend oder dauerhaft sein.

Sekundäre deterministische Wirkungen können erkennbar werden, wenn durch Strahlung die Blutversorgung (durch Schädigung der Blutgefäße) von Organen verändert oder eingeschränkt wird oder wenn durch Strahlung zerstörtes Funktionsgewebe (z.B. Drüsengewebe) durch Bindegewebe ersetzt wird, das die spezifischen Funktionen nicht übernehmen kann.

Da diese deterministischen Wirkungen eine höhere Energiedeposition voraussetzen, gibt es dafür Schwellendosen, die für Gewebe, Organe und Individuen unterschiedlich sind (Bereich der Schwellendosis, siehe Abbildung 3.2). Oberhalb des Bereichs der Schwellendosis ist das Ausmaß des Schadensdosis abhängig, die Eintrittswahrscheinlichkeit dagegen 100 %.

Abb. 3.2: Schwere einer deterministischen Wirkung in Abhängigkeit von der Dosis (in Anlehnung an /SSK 96/)

Die meisten Gewebe lassen bei einer Strahlenexposition unter einem Sievert 1 (siehe Abschnitt "Dosisbegriffe") keine klinischen Krankheitsbilder erkennen (ICRP-Veröffentlichung Nr. 60 /ICR 93/).

Eine Ausnahme bilden folgende Organe:

Das erste Ziel des Notfallschutzes ist es, deterministische Wirkungen zu verhindern.

In Abhängigkeit von der Dosis und dem exponierten Körperbereich (Ganz- oder Teilkörper) lassen sich typische klinische Syndrome unterscheiden.

Im folgenden werden beispielhaft deterministische Wirkungen in der Form klinischer Krankheitsbilder beschrieben:

Das akute Strahlensyndrom

Es tritt nach Ganzkörperbestrahlung in Dosisbereichen oberhalb von 1 Sv (Expositionszeit wenige Stunden) auf, diese Dosis kann bei einem schweren kerntechnischen Unfall nur in unmittelbarer Nähe der Anlage auftreten. Es zeigt drei klinische Erscheinungsformen, die unterschiedlichen Dosisbereichen zugeordnet werden können /Fli 92, SSK 95b/:

Die hämatologische Form (Überwiegende Schädigung des blutbildenden Knochenmarks, Dosisbereich ca. 1 Sv-10 Sv) beginnt mit einer eher uncharakteristischen Frühsymptomatik:

Übelkeit, Erbrechen und allgemeine Körperschwäche, evtl. Früherythem = Hautrötung). Im Blutbild finden sich charakteristische Veränderungen, die in der Folge einen dosisabhängigen Verlauf zeigen.

Das Ausmaß der Störung der Blutbildung und die eingesetzte Therapie entscheiden darüber, ob das bestrahlte Unfallopfer überlebt.

Die gastrointestinale Form (Zusätzliche Schädigung der Darmschleimhaut, nach einer Ganzkörperexposition von ca. 10 Sv-30 Sv). Die Frühsymptomatik ist auch hier uncharakteristisch (Übelkeit, Erbrechen, Körperschwäche, stets Früherythem), aber sie beginnt früher und ist ausgeprägter. Außer der Blutbildung wird nun auch die Dünndarmschleimhaut schwer geschädigt. Darminfektionen und andauernde Durchfälle sind die Folge. Bis zu einer Dosis von ca. 20 Sv gibt es auch bei diesem Krankheitsbild bei intensiver Therapie in Einzelfällen eine Chance zu überleben.

Die zentralnervöse Form (Zusätzliche Schädigung des Zentralnervensystems, nach einer Ganzkörperbestrahlung von mehr als 30 Sv). Diese schwerste Form des akuten Strahlensyndroms zeigt eine sofort einsetzende Frühsymptomatik mit Benommenheit und einem ausgeprägten Erythem. Aufgrund des umfangreichen Untergangs von Zellen bzw. der massiven Störung ihrer Funktion endet dieser Zustand stets tödlich.

Die hier aufgeführten klinischen Symptome stehen im Vordergrund des Krankheitsgeschehens. Daneben sind auch immer andere Organe betroffen: die Mundschleimhaut und die Speicheldrüsen, die Schilddrüse und insbesondere die Lunge, deren strahleninduzierte Entzündung (Strahlenpneumonitis) eine erhebliche Komplikation darstellt.

Das kutane Strahlensyndrom (Strahlenwirkung auf die Haut)

Prinzipiell gehört diese Strahlenwirkung zum akuten Strahlensyndrom, weil höhere Dosen (ca. 3 Sv - 5 Sv /ICR 93/) erforderlich sind, um durch äußere Bestrahlung eine Hautschädigung hervorzurufen.

Diese kann bei Teilkörperexposition auch ohne die klinischen Erscheinungen des akuten Strahlensyndroms entstehen, und sie kann auch durch eine starke Kontamination der Haut mit Betastrahlern hervorgerufen werden.

Das Frühsymptom besteht in einem Früherythem, das nach 0,5 bis 36 Stunden auftritt. Nach einer Latenzzeit von bis zu 28 Tagen tritt dann ein zweites Erythem auf (Haupterythem), das in Blasen und Geschwürbildung übergeht. Die sich daran anschließende chronische Phase dauert Monate bis Jahre.

3.3 Wirkungen einer Bestrahlung während der vorgeburtlichen Entwicklung

Diese Strahlenwirkung muß besonders betrachtet werden, weil das Leben in dieser Entwicklungsphase besonders empfindlich auf ionisierende Strahlung reagiert. Deterministische und stochastische Wirkungen werden dabei gemeinsam besprochen. Folgende Wirkungen sind - z.T. nur im Tierversuch - beobachtet worden:

Diese können insbesondere die Hirnentwicklung betreffen und zu Funktionsstörungen (z.B. Hirnleistungsstörungen) führen.

Diese Wirkungen sind abhängig von der vorgeburtlichen Entwicklungsphase, in der die Exposition erfolgt:

Für fast alle diese Wirkungen bestehen Schwellenwerte, bei deren Unterschreitung die Wirkung nicht mehr erkennbar ist. Die Schwellenwerte sind allerdings unterschiedlich je nach Strahlenwirkung und vorgeburtlichem Stadium, in dem die Exposition erfolgt.

In der ICRP-Veröffentlichung Nr. 60/ICR 93/ wird als niedrigster Schwellenwert 100 mSv angegeben. Bei diesem Wert handelt es sich um eine Abschätzung aus Tierversuchen bei kurzzeitiger Strahlenexposition.

Die Entstehung maligner Erkrankungen (Krebs oder Leukämie) nach der Geburt bei Bestrahlung des Embryos oder des Fetus im Uterus kann aufgrund epidemiologischer Untersuchungen nicht ausgeschlossen werden. Die für den Bereich 10 mSv-50 mSv berichtete Erhöhung der Leukämie- und Krebsrate ist allerdings nicht unumstritten, da andere Befunde dem widersprechen. Es wird heute davon ausgegangen, daß während der vorgeburtlichen Entwicklung und bei Kleinkindern eine höhere Strahlenempfindlichkeit vorliegt als beim Erwachsenen, die bei gleicher Dosis eine um den Faktor 2-3 höhere Rate an malignen Erkrankungen verursacht /SSK 89, ICR 93/.

3.4 Dosisbegriffe

Jede biologische Strahlenwirkung entsteht durch Energiedeposition in der Zelle. Ihre Größe wird durch die Energiedosis angegeben, d.h. durch die Energie, die in ein Volumenelement eingetragen wird, dividiert durch die Masse in diesem Volumen. Die Einheit der Energie ist das Joule, die Einheit der Masse das Kilogramm. Im Strahlenschutz interessieren in der Regel die über biologische Gewebe oder ein Organ gemittelten Energiedosen. Die Einheit der Energiedosis ist das Gray (Gy). Es ist 1 Gy = 1 J/kg.

Die biologische Wirkung ist nicht nur von der Energie, sondern auch von der Strahlenart abhängig. Alphateilchen und Neutronen haben eine andere biologische Wirksamkeit als Röntgen-, Beta- oder Gammastrahlung. Um ein für alle Strahlenarten gültiges Maß für die Strahlenwirkung zu erhalten, wird die Energiedosis mit einem Wichtungsfaktor multipliziert, der für jede Strahlenart definiert ist und die biologische Wirksamkeit relativ zu der von Photonen charakterisiert. Die mit dem Strahlungswichtungsfaktor multiplizierte mittlere Energiedosis in einem Gewebe oder Organ heißt dann Äquivalentdosis in einem Gewebe oder Organ. Sie wird in Sievert (Sv) angegeben. Es ist 1 Sv 1 J/kg. In der Praxis wird oft auch die Einheit Millisievert (mSv) verwendet (1 Sv 1 000 mSv).

Die biologische Wirkung der ionisierenden Strahlung ist ferner in den verschiedenen Geweben und Organen des Körpers unterschiedlich. Diese Unterschiede sind besonders zu bewerten im Hinblick auf die stochastische Wirkung. Die Wahrscheinlichkeit der Krebsentstehung ist in den verschiedenen Geweben und Organen des Körpers unterschiedlich hoch. Um diese unterschiedliche Empfindlichkeit in der Dosis zahlenmäßig zum Ausdruck zu bringen, wurden Gewebewichtungsfaktoren eingeführt. Die Summe der so gewichteten Gewebe- und Organdosen wird effektive Dosis genannt. Auch sie wird in Sievert (Sv) angegeben. Im Notfallschutz wird die effektive Dosis generell verwendet, weil die Einleitung von Maßnahmen bei Dosen vorgesehen ist, bei denen noch keine deterministischen Wirkungen, sondern nur stochastische Wirkungen auftreten können 2.

Von Bedeutung für die biologische Wirkung ist auch die Zeitspanne, innerhalb derer ionisierende Strahlung auf ein biologisches Gewebe einwirkt, d.h. zum Beispiel, ob dort eine Dosis von 1 Sv innerhalb einer Stunde oder innerhalb eines Jahres erreicht wird. Der Quotient aus der Dosis und dem zugehörigen Zeitintervall wird als Dosisleistung bezeichnet. Sie wird in Sv/h angegeben. Im Notfallschutz wird das Zeitintervall, auf das sich ein Dosiswert bezieht, als Integrationszeit der Dosis bezeichnet.

Als Kollektivdosis wird die Summe der effektiven Dosen in einer betroffenen Bevölkerung bezeichnet.

Ionisierende Strahlung kann den Körper auf verschiedene Weise treffen. Gamma- und Röntgenstrahlung sowie Neutronen werden durch die Haut kaum abgeschwächt. Sie werden in unterschiedlichem Umfang durch die Körpergewebe absorbiert. Eine derartige äußere Bestrahlung führt, wenn sie den ganzen Körper trifft, zu einer Ganzkörperexposition, wenn nur Körperteile betroffen sind zu einer Teilkörperexposition.

Wenn sich Radionuklide auf der unbedeckten Haut ablagern, spricht man von Hautkontamination. Insbesondere in diesem Fall führen Betastrahler (z.B. Strontium 90, Jod 131) mit einer relativ geringen Eindringtiefe zu einer Energieabsorption in der Haut, erzeugen also im wesentlichen eine Hautdosis.

Aufgrund der erheblich höheren Eindringtiefe der Gammastrahlung ist die durch sie verursachte Hautdosis im Vergleich zur effektiven Dosis vernachlässigbar. Alphateilchen haben eine so geringe Eindringtiefe, daß es bei Kontamination zu keiner relevanten Dosis in der strahlenempfindlichen Erneuerungsschicht der Haut kommt, da diese von der Strahlung nicht erreicht wird.

Es bestehen auch verschiedene Möglichkeiten der direkten Aufnahme radioaktiver Stoffe in den Körper:

Sind radioaktive Stoffe in den Körper gelangt, so werden sie teilweise wieder ausgeschieden (Atmung, Stuhl, Urin) oder aber in Organen für unterschiedliche Dauer eingelagert. Das Verbleiben im Körper wird durch die sogenannte ,biologische Halbwertszeit" charakterisiert, d. h. die Zeit, bei der die Hälfte der Radionuklide wieder aus dem Körper ausgeschieden ist. Sie kann sich stark von der "physikalischen Halbwertszeit" eines Radionuklides infolge des radioaktiven Zerfalls unterscheiden. Solange die Radionuklide sich im Körper befinden, erzeugen sie eine Dosis, die als Folgedosis bezeichnet wird. Je nachdem ob es sich um eine effektive Dosis oder eine Organdosis handelt, spricht man von effektiver Folgedosis oder Folgeäquivalentdosis. Beide Arten von Folgedosis werden bei Erwachsenen für einen Integrationszeitraum von 50 Jahren und bei Kindern für 70 Jahre ermittelt.

Jeder Mensch ist von seiner Geburt an ionisierender Strahlung ausgesetzt, die aus der natürlichen Umwelt stammt und kaum beeinflußt werden kann. Sie variiert in den verschiedenen Regionen der Erde. Aus dieser permanenten Einwirkung der natürlichen Strahlung läßt sich eine Lebenszeitdosis abschätzen. Sie beträgt in Deutschland bei einer Lebenserwartung von 70 Jahren im Mittel 170 mSv mit einer Schwankungsbreite von 100 mSv - 400 mSv. Ein Zusammenhang zwischen der Schwankungsbreite der natürlichen Strahlenexposition und gesundheitlichen Folgen ist in Deutschland nicht festgestellt worden.

4 Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung

4.1 Maßnahmen und ihre Wirkung

Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung werden durch Entscheidungen der Einsatzleitungen des Katastrophenschutzes bzw. der Strahlenschutzvorsorge aufgrund der Kenntnis über den Anlagenzustand und nach Bewertung der radiologischen Lage und der aktuellen Situation in den betroffenen Gebieten ausgelöst. Eine Übersicht über die wichtigsten Maßnahmen, die geeignet sind, die Strahlenexposition zu vermeiden oder zumindest herabzusetzen, ist zusammen mit den dadurch beeinflußbaren Expositionspfaden in Tabelle 4.1 angegeben.

Bei der Maßnahme Aufenthalt in Gebäuden wird die Bevölkerung aufgefordert, sich in schützende Räume zu begeben und sich dort über den empfohlenen Zeitraum aufzuhalten. Schützende Räume sollten so gewählt werden, daß die Inkorporation von Radionukliden mit der Atemluft und die äußere Strahlung durch Abschirmung so weit wie möglich reduziert werden. Die erreichbare Abschirmwirkung gegen äußere

Tab. 4.1: Maßnahmen und damit beeinflußbare Expositionspfade

Maßnahmen Expositionspfade, zu deren Beeinflussung die Maßnahmen geeignet sind
Aufenthalt in Gebäuden Alle Expositionspfade außer Ingestion
Vorsorgliche Evakuierung in der Vorfreisetzungsphase Alle Expositionspfade außer Ingestion
Einnahme von Iodtabletten Inhalation von Radioiod
Evakuierung in der Freisetzungsphase Alle Expositionspfade außer Ingestion
Zugangsbeschränkung, Absperrung von Gebieten Alle Expositionspfade außer Ingestion
Personendekontamination Äußere Exposition durch auf der Haut und in den Haaren abgelagerte Radionuklide
Eingriffe in die Versorgung mit Lebens- und Futtermitteln Ingestion von kontaminierten Lebensmitteln
Temporäre Umsiedlung,
Langfristige Umsiedlung
Äußere Exposition durch abgelagerte Radionuklide, Inhalation durch Resuspension
Dekontamination von Gegenständen, Immobilien und Gelände Äußere Exposition durch abgelagerte Radionuklide und Inkorporation

Strahlung hängt stark vom Gebäudetyp, den Baumaterialien und der Umgebungsbebauung ab, Variationsbreiten von mehreren Zehnerpotenzen sind möglich (siehe Tabelle 4.2).

Besonderes Augenmerk ist auf Baugebiete mit Holzhäusern oder Holzrahmenkonstruktionen zu legen, da dort die erreichbare Abschirmung nur gering sein kann.

Die Maßnahme Aufenthalt in Gebäuden dient nicht nur dem Schutz vor Strahlenexposition, sondern erleichtert auch die Information der Bevölkerung durch die Behörden über Radio und Fernsehen.

Der Begriff Evakuierung kennzeichnet die rasche organisierte oder zumindest durch Hilfskräfte unterstützte Räumung eines Gebietes in der Vorfreisetzungs- und Freisetzungsphase; er enthält keine Aussage darüber, ob die Bevölkerung kurzfristig an ihren Wohnort zurückkehren kann oder nicht. Rechtzeitig durchgeführt erzielt diese Maßnahme die höchstmögliche Schutzwirkung, nämlich die Vermeidung der äußeren und inneren Strahlenexposition über die in Tabelle 4.1 angegebenen Expositionspfade. Bei zu hoher Kontamination des Wohnorts kann der Übergang der Evakuierung in eine Umsiedlung erforderlich werden.

Umsiedlung bezeichnet die Räumung eines Gebiets in der Nachfreisetzungsphase; sie wirkt damit nur noch gegen die äußere Bestrahlung vom Boden und die Inhalation von in die Atemluft resuspendierten radioaktiven Stoffen. Sie wird i. allg. erst nach dem Vorliegen flächendeckender Meßwerte ausgesprochen, wobei im Hinblick auf die Durchführung und die Dauer zu unterscheiden ist zwischen temporärer und längerfristiger Umsiedlung.

Die temporäre Umsiedlung ist auf einen Zeitraum von einigen Wochen bis zu mehreren Monaten begrenzt; die betroffene Bevölkerung kann danach in ihre Wohngebiete zurückkehren; Dekontaminationsmaßnahmen in Wohngebieten und auf Landflächen können die Dauer der temporären Umsiedlung verkürzen. Die Infrastruktur und alle Produktions- und Versorgungseinrichtungen im betroffenen Gebiet können nach dem Ende der Maßnahme wieder genutzt werden. Damit sind die sozialen und wirtschaftlichen Konsequenzen im Vergleich zur langfristigen Umsiedlung geringer.

Die langfristige Umsiedlung über einen unbestimmt langen Zeitraum ist dann erforderlich, wenn eine hohe Dosisleistung im betroffenen Gebiet aufgrund der Kontamination mit langlebigen Radionukliden nur langsam abnimmt. Als Konsequenz muß die betroffene Bevölkerung in anderen Gebieten neu angesiedelt und in das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben integriert werden. Dies bedeutet nicht nur den Neubau von Wohnungen mit der notwendigen Infrastruktur und die Schaffung neuer Arbeitsplätze, sondern auch die Bewältigung sozialer Probleme durch den zumindest zeitweisen Verlust von Einkommen und die psychische Belastung der Betroffenen.

Die rechtzeitige Einnahme von Jodtabletten schützt die Schilddrüse gegen in den Körper aufgenommenes radioaktives Iod. Dies ist wichtig für diejenigen Bevölkerungsgruppen, bei denen während des Durchzugs der radioaktiven Wolke die Inhalation von radioaktivem Jod mit der Atemluft erfolgt. Die Aufnahme radioaktiven Jods über kontaminierte Lebensmittel wird über die Versorgung mit nicht kontaminierten Lebensmitteln unterbunden.

Tab. 4.2: Schutzfaktoren für äußere Exposition in Wohngebieten /Jac89, Jac98, Mec88/

Aufenthaltsort Schutzfaktoren für äußere Exposition in Wohngebieten
aus der radioaktiven Wolke2 kurz nach Ablagerung
im Freien
Umgebung mit Bepflanzung (Bäume) 1,0-1,4 0,63-2,0
städtische Umgebung mit Nachbargebäuden, 1,2-3,3 3,3-10
ohne Bepflanzung (Bäume)    
in Wohnräumen von1
Fertigteilhäusern 1,2-10 1,2-2,5
Doppelhaushälften und Einfamilienreihenhäusern 3,3-50
Mehrfamilienhäusern und Häuserblöcken 10-200 25-1000
in Kellern1
mit Fenstern über dem Erdboden 10-1000 20-100
ohne Fenster, Doppelhaushälfte 330-5000
mit Lichtschächten und Fenstern, in Häuserblöcken 500-10.000 1000-20.000
1) Die Schutzfaktoren sind ohne mögliche Kontamination von Innenräumen berechnet. Falls die Flächenkontamination von Böden, Wänden und Decken etwa 1 % der Kontamination von Wiesen beträgt, reduziert sich der tatsächliche Schutzfaktor auf etwa 100 und liegt damit für gut abgeschirmte Räume deutlich niedriger als in der Tabelle angegeben.

2 Abschätzung basierend auf einer homogenen Radioaktivitätsverteilung in der Atmosphäre.

3 Schutzfaktoren kleiner als eins ergeben sich aufgrund der erhöhten Ablagerung auf Bäumen bei trockener Deposition.

Bei den Eingriffen in die Versorgung der Bevölkerung wird zwischen der (vorsorglichen) Warnung der Bevölkerung vor dem Verzehr frisch geernteter Lebensmittel und von Frischmilch einerseits und Eingriffen in die Versorgung mit Nahrungs- und Futtermitteln auf der Grundlage von Höchstwerten der Kontamination andererseits unterschieden. Die genannte Warnung der Bevölkerung erfolgt in der Umgebung eines Emittenten spätestens zu Beginn einer gefahrenbringenden Freisetzung oder bei ungeklärter radiologischer Lage, im Fernbereich bei erheblichen Radionuklidkonzentrationen in der Luft. Die Höchstwerte an Radioaktivität in Nahrungs- und Futtermitteln im Falle eines nuklearen Unfalls oder einer anderen radiologischen Notstandssituation sind in EU-Verordnungen /EUR 87, EUR 89a, EUR 89b, EUR 90/ festgelegt sowie im Maßnahmenkatalog /MNK 98/ ausführlich erläutert.

Wichtigste Voraussetzung zur Erzielung der bestmöglichen Schutzwirkung von Maßnahmen bei einem kerntechnischen Unfall ist die sachgerechte und umfassende Information der Bevölkerung.

4.2 Grundsätze für die Einleitung von Maßnahmen im Ereignisfall

Die Rechtfertigung von Schutz- und Gegenmaßnahmen aus radiologischer Sicht ist Gegenstand dieser Radiologischen Grundlagen. Bei Erreichen der Eingreifrichtwerte besteht aus radiologischen Gründen Handlungsbedarf.

In die Optimierung fließen die Bedingungen des Einzelfalls ein. Sie kann erst im Ereignisfall stattfinden und ist daher in diesen Radiologischen Grundlagen ausschließlich Gegenstand des Kapitels 5 über Entscheidungsfindung im Ereignisfall.

Aus den "Radiologischen Grundlagen" von 1988/89 /RAD 88/ werden folgende Grundsätze übernommen:

Der Grundsatz der Vermeidung deterministischer Wirkungen und hoher Risiken stochastischer Wirkungen ist die Basis der Arbeit des Katastrophenschutzes in der Umgebung kerntechnischer Anlagen. Den deterministischen Wirkungen wird ein so großes Gewicht beigemessen, daß die Forderung nach Optimierung der Maßnahmen mit der Forderung nach Minimierung der Schadensfälle gleichbedeutend ist.

Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit führt dazu, daß Maßnahmen, die einen geringen Eingriff in das Leben der Einzelpersonen bedeuten (z.B. der Aufenthalt in Gebäuden und Eingriffe in den Handel mit Lebens- und Futtermitteln) bei niedrigeren Strahlendosen durchgeführt werden als Maßnahmen, die die Lebensumstände stark beeinflussen (z.B. Evakuierung und Umsiedlung).

Die Bedeutung der Kollektivdosis als Entscheidungsgrundlage kann erst im Ereignisfall beurteilt werden. Falls der größte Beitrag zur Kollektivdosis von vielen kleinen individuellen Strahlendosen herrührt, die eine große Anzahl von Personen erhält und die nur mit großem Aufwand reduziert werden können, ist die Kollektivdosis keine geeignete Entscheidungsgrundlage.

4.3 Konzept für die Festlegung von Eingreifrichtwerten

In diesen Radiologischen Grundlagen wird zwischen Eingreifrichtwerten und Eingreifwerten unterschieden. Eingreifrichtwerte sind Planungswerte, Eingreifwerte sind die im Ereignisfall zur Anwendung gelangenden Werte. Von den Eingreifrichtwerten sollte im Ereignisfall nur beim Vorliegen schwerwiegender Gründe abgewichen werden.

Beim Erarbeiten des Konzepts für die Festlegung von Eingreifrichtwerten war folgendes zu berücksichtigen:

Diese Radiologischen Grundlagen sind ein Planungsinstrument, das sich ausschließlich auf diejenigen der o. g. Entscheidungsgrundlagen stützt, die von Art und Umfang eines kerntechnischen Unfalls unabhängig sind. Die hier abgeleiteten Eingreifrichtwerte sind daher allgemein anwendbare Zahlenwerte. Sie dienen im Ereignisfall als Eingreifwert (Startwert), der dann geändert werden sollte, wenn schwerwiegende Gründe vorliegen, z.B. wenn die so definierte Zuordnung von Maßnahmen und Gebieten im Konflikt mit schwerwiegenden Einflußfaktoren steht (siehe Kapitel 5).

Eingreifwerte, die über den Eingreifrichtwerten liegen, können dann gerechtfertigt sein, wenn die Durchführung der Maßnahme mit großen Nachteilen verbunden oder die vermeidbare Dosis gering ist.

Eingreifwerte, die unter den Eingreifrichtwerten liegen, sind aus radiologischen Gründen nicht gerechtfertigt.

Bei Strahlendosen unterhalb der Eingreifwerte muß die Bevölkerung unter Angabe geeigneter Vergleichsgrößen über das Strahlenrisiko informiert werden.

Die Anwendung unterschiedlicher Eingreifwerte in verschiedenen Regionen ist zu vermeiden.

Ausgehend von den genannten Überlegungen wurden Eingreifrichtwerte festgelegt, die mit Ausnahme des Wertes für die Evakuierung zwischen den Richtwerten des bisher gültigen Bandbreitenkonzeptes liegen, das heißt diese sind für die einzelnen Maßnahmen weder mit dem unteren noch mit dem oberen bisher empfohlenen Richtwert identisch.

In Veröffentlichungen der Internationalen Strahlenschutzkommission und der Europäischen Kommission werden Konzepte vorgestellt, die auch schwer quantifizierbare Einflüsse und Entscheidungsgrundlagen, die von Art und Umfang des Unfalls abhängen, zu berücksichtigen versuchen (siehe Einleitung).

Beim Vergleich dieser Radiologischen Grundlagen mit den eben genannten internationalen und europäischen Veröffentlichungen ist es daher wichtig, klar zwischen den allgemein gültigen Radiologischen Grundlagen und umfassenden Entscheidungsgrundlagen zu unterscheiden, die z.B. auch ereignisspezifische -evtl. extreme - Bedingungen, nicht quantifizierbare Einflüsse oder die Prüfung der Durchführbarkeit von Maßnahmen berücksichtigen.

4.4 Eingreifrichtwerte für die Einleitung von Maßnahmen

4.4.1 Allgemeine Erwägungen

Beim Festlegen der Eingreifrichtwerte für die Einleitung von Maßnahmen sind die in der Strahlenschutzverordnung ( StrlSchV) festgelegten Dosisgrenzwerte nicht anwendbar, da diese nach den Grundsätzen der Rechtfertigung und Optimierung einer plan- und steuerbaren Strahlenexposition abgeleitet wurden. Außerdem regelt die StrlSchV i. allg. Tätigkeiten, die kontinuierlich ausgeführt werden können (z.B. Betrieb von Kernkraftwerken, Anwendungen von Radionukliden in Medizin, Forschung und Technik).

Im Gegensatz dazu ist ein kerntechnischer Unfall ein zeitlich und räumlich singuläres Ereignis. Zur Beurteilung der durch ihn verursachten zusätzlichen Strahlenexposition kann darum die Schwankungsbreite der Lebensdosis infolge der natürlichen Strahlenexposition als geeignete Vergleichsgröße herangezogen werden. Die effektive Lebensdosis liegt in Deutschland bei etwa 70 a x 2,4 mSv/a ≈ 170 mSv mit einer Schwankungsbreite zwischen ungefähr 100 mSv und 400 mSv, d. h. einer Schwankungsbreite von ca. 300 mSv. Geht man davon aus, daß

  1. Maßnahmen, die einen schwerwiegenden Eingriff in das Leben der Bevölkerung darstellen, wie z.B. Evakuierung oder Umsiedlung, nur gerechtfertigt sind, wenn durch sie unfallbedingte Dosiswerte mindestens in der Größenordnung der durch die natürliche Strahlenexposition während der gesamten Lebenszeit akkumulierten Strahlendosen vermieden werden können, und
  2. einfach realisierbare Maßnahmen, wie z.B. der Aufenthalt in Gebäuden, die Einnahme von Iodtabletten oder Einschränkungen beim Verzehr von Nahrungsmitteln, bereits bei deutlich niedrigeren Dosiswerten initiiert werden sollten,

so kommt man zu einem Dosis-Eingreifrichtwert in der Größenordnung von 300 mSv.

Ein Zusammenhang zwischen der natürlichen Strahlenexposition und gesundheitlichen Wirkungen ist in Deutschland nicht festgestellt worden. Es gibt daher keinen Grund, bei sehr unwahrscheinlichen Ereignissen für so einschneidende Maßnahmen wie Evakuierung und Umsiedlung Eingreifrichtwerte unterhalb von 300 mSv pro Lebenszeit festzulegen. Wenn im folgenden trotzdem für langfristige Umsiedlung ein Eingreifrichtwert von 100 mSv pro Jahr festgelegt wird, so ist damit berücksichtigt, daß

Wird die für schwere Eingriffe (Evakuierung, Umsiedlung) maßgebliche Dosis von 100 mSv in einer Zeitspanne erreicht, die kürzer als ein Jahr ist, so ist über die Umsiedlung hinaus zu prüfen, ob der Eingreifrichtwert für die kurzfristige Maßnahme Evakuierung (Integrationszeit der Dosis = 7 Tage) erreicht wird.

Die Eingreifrichtwerte für die weniger einschneidenden Maßnahmen des Notfallschutzes sollten andererseits auch deutlich oberhalb der Bandbreite der jährlichen natürlichen Strahlenexposition in Deutschland liegen. Diese Überlegung ist unabhängig von der aktuellen Bewertung des Strahlenrisikos. Deswegen wird als niedrigster Eingreifrichtwert 10 mSv effektive Dosis für die relativ einfach durchführbare Maßnahme Aufenthalt in Gebäuden festgelegt.

Die Werte 10 mSv und 100 mSv bringen außerdem zum Ausdruck, daß sich die Eingreifrichtwerte im Rahmen des hier verwendeten Konzepts nicht nach mathematischen Formeln ableiten lassen, sondern das Ergebnis einer qualitativen Abwägung darstellen.

Die aus diesen allgemeinen Überlegungen heraus begründeten Größenordnungen von Eingreifrichtwerten müssen für die praktischen Anwendungen noch hinsichtlich der Integrationszeit der Dosis, d. h. dem Zeitraum, der bei der Berechnung der Strahlendosen zugrunde zu legen ist, der dabei zu berücksichtigenden Expositionspfade und der Art der Dosis festgelegt werden. Ausführungen dazu findet man bei den Dosis-Eingreifrichtwerten für die einzelnen Maßnahmen (siehe Abschnitte 4.4.2 bis 4.4.6).

Ziel der Maßnahmen des Katastrophenschutzes und der Strahlenschutzvorsorge ist die Vermeidung deterministischer Wirkungen und die Verringerung unfallbedingter stochastischer Wirkungen. Den oben genannten Eingreifrichtwerten entsprechend dienen die Maßnahmen Aufenthalt in Gebäuden, Einnahme von Iodtabletten, Eingriffe in den Handel mit Lebensmitteln und Umsiedlung der Verminderung stochastischer Wirkungen, während die Evakuierung darüber hinaus zur Vermeidung hoher Kurzzeitdosen bis hinein in den deterministischen Bereich geeignet ist. Daher ist die angemessene Integrationszeit der Dosis, die den Eingreifrichtwert für Evakuierung bildet, die für deterministische Wirkungen relevante Expositionszeit. Der Schutz vor stochastischen Wirkungen wird durch längere Integrationszeiten und/oder niedrigere Eingreifrichtwerte bei den übrigen Maßnahmen erreicht. Die Eingreifrichtwerte der übrigen Maßnahmen werden vor demjenigen für Evakuierung erreicht.

Die mit den Eingreifrichtwerten zu vergleichende Dosis ist grundsätzlich die Gesamtdosis über die Expositionspfade, gegen die die Maßnahme wirkt. Sie muß aus den zum Zeitpunkt der Entscheidungsfindung vorliegenden Basisinformationen ableitbar sein: Meßwerten und/oder (gegebenenfalls daraus) berechneten räumlichen und zeitlichen Verteilungen von Strahlendosen/Dosisleistungen oder Aktivitätskonzentrationen. Dabei handelt es sich grundsätzlich um "potentielle" radiologische Größen, die keine möglichen Maßnahmen berücksichtigen.

Es wäre theoretisch möglich, die individuellen Lebensgewohnheiten zu berücksichtigen. Wegen der großen Unterschiede in den individuellen Lebensgewohnheiten - wenig oder viel Aufenthalt im Freien, Aufenthalt in Häusern mit kleiner oder großer Abschirmwirkung - und zur Vereinfachung und Vereinheitlichung des Rechenverfahrens ist es sinnvoll, permanenten Aufenthalt im Freien zugrunde zu legen.

4.4.2 Aufenthalt in Gebäuden

Der Aufenthalt in schützenden Räumen abseits von Türen und Fenstern oder in Kellern stellt einen im Vergleich zur Evakuierung und Umsiedlung geringen Eingriff in das Leben der Bevölkerung dar. Daher ist als Startwert ein Eingreifrichtwert von 10 mSv effektiver Dosis gerechtfertigt. Relevante Expositionspfade (siehe Tabelle 2.1) sind die äußere Bestrahlung aus der radioaktiven Wolke und durch auf Oberflächen abgelagerte Radionuklide sowie die innere Bestrahlung nach Inhalation. Als Integrationszeitraum der Dosis wird der Zeitraum von 7 Tagen festgelegt. Bei der Festlegung dieses Zeitraums wurde davon ausgegangen, daß sich über einen noch längeren Zeitraum der zuerst strikte und danach überwiegende Aufenthalt in Gebäuden nicht aufrechterhalten läßt. Der größte Teil der Bevölkerung

würde in diesem Fall das betroffene Gebiet vermutlich ohne Aufforderung verlassen. Dies gilt auch bei Freisetzungen, die länger als wenige Tage andauern. Wird der Eingreifrichtwert für temporäre Umsiedlung (siehe 4.4.6) nicht erreicht, ist die Bevölkerung unter Angabe geeigneter Vergleichsgrößen über das Strahlenrisiko zu unterrichten. Da der Eingreifrichtwert deutlich unterhalb der Dosisschwellen für deterministische Wirkungen liegt, ist die effektive Dosis die angemessene Größe:

Eingreifrichtwert für die Maßnahme Aufenthalt in Gebäuden:

10 mSv als Summe aus effektiver Dosis durch äußere Exposition in 7 Tagen und effektiver Folgedosis durch die in diesem Zeitraum inhalierten Radionuklide

4.4.3 Einnahme von Iodtabletten

Die rechtzeitige Einnahme von Iodtabletten schützt die Schilddrüse gegen inkorporiertes Radioiod. Radioaktives Jod kann über die Atemwege (Inhalation) sowie über den Verzehr kontaminierter Lebensmittel (Ingestion) in den menschlichen Körper gelangen (Inkorporation). Ohne Schutzmaßnahmen kann in der Vegetationsperiode die Ingestionsdosis infolge des Verzehrs lokal erzeugter Nahrungsmittel erheblich größer sein als die Inhalationsdosis. Bei der Entscheidung über die Einnahme von Iodtabletten ist aber zu beachten, daß die Ingestion von Radioiod besser durch die Versorgung mit nicht kontaminierten Lebensmitteln als durch die Verabreichung von Iodtabletten vermieden wird.

Die Einnahme von Iodtabletten bedeutet einen geringen Eingriff in das Leben der Bevölkerung. Bei der Festlegung des Eingreifrichtwerts sind allerdings mögliche Nebenwirkungen zu berücksichtigen. Nach Abwägung von Nutzen und Risiken wurde ein Eingreifrichtwert von 50 mSv Schilddrüsendosis bei Kindern bis zu 12 Jahren sowie Schwangeren und von 250 mSv bei Personen von 13 bis 45 Jahren als angemessen erachtet /SSK 97/. Angaben zu Art und Dosierung der tabletten befinden sich im Anhang.

Personen über 45 Jahren wird von einer Einnahme der tabletten abgeraten, da für diese das Risiko von Nebenwirkungen durch die Iodtabletteneinnahme größer ist als der Schutz vor möglichen Strahlenschäden. Sie sind durch die für alle Altersgruppen vorgesehenen Maßnahmen Aufenthalt in Gebäuden, Eingriffe in den Handel mit Lebens- und Futtermitteln und Evakuierung ausreichend geschützt.

Eingreifrichtwert für die Einnahme von Iodtabletten:

50 mSv Schilddrüsendosis (Organdosis) bei Kindern bis zu 12 Jahren sowie Schwangeren und von 250 mSv bei Personen von 13 bis 45 Jahren durch das im Zeitraum von 7 Tagen inhalierte Radioiod einschließlich der Folgeäquivalentdosis

Dabei wird vorausgesetzt, daß die Versorgung mit nicht kontaminierten Lebensmitteln gewährleistet ist.

4.4.4 Evakuierung

Wegen der Schwere des Eingriffs in das persönliche Leben ist ein Eingreifrichtwert von 100 mSv effektive Dosis angemessen. Relevante Expositionspfade (siehe Tabelle 2.1) sind die äußere Bestrahlung aus der radioaktiven Wolke und durch auf Oberflächen abgelagerte Radionuklide sowie die innere Bestrahlung nach Inhalation. Als Integrationszeitraum der Dosis wird der Zeitraum von 7 Tagen festgelegt. Mit dieser Integrationszeit sind die Beiträge zur Kurzzeitdosis, die für deterministische Wirkungen relevant ist, konservativ abgeschätzt. Außerdem ist der Beitrag kurzlebiger Spaltprodukte (T1/2 < 1 Tag) ausreichend berücksichtigt. Bei vorwiegend äußerer Strahlenexposition durch längerlebige abgelagerte Radionuklide werden die Eingreifrichtwerte für temporäre oder längerfristige Umsiedlung zuerst erreicht. Da der Eingreifrichtwert deutlich unterhalb der Dosisschwellen für deterministische Wirkungen liegt, ist die effektive Dosis die angemessene Größe:

Eingreifrichtwert für Evakuierung:

100 mSv als Summe aus effektiver Dosis durch äußere Exposition in 7 Tagen und effektiver Folgedosis durch die in diesem Zeitraum inhalierten Radionuklide

4.4.5 Langfristige Umsiedlung

Die Umsiedlung über einen langen Zeitraum oder für den Rest des Lebens ist als schwerer Eingriff in die persönlichen Lebensumstände zu betrachten. Daher ist wie bei der Evakuierung ein Eingreifrichtwert von 100 mSv angemessen. Da die Umsiedlung eine wirkungsvolle Maßnahme gegen längerfristige äußere Strahlenexposition darstellt, ist ein längerer, aber der Dosisvorhersage zugänglicher Zeitraum zu betrachten. Als Integrationszeitraum der Dosis wird daher ein Jahr festgelegt. Da der Eingreifrichtwert deutlich unterhalb der Dosisschwellen für deterministische Wirkungen liegt, ist die effektive Dosis die angemessene Größe:

Eingreifrichtwert für langfristige Umsiedlung:

100 mSv effektive Dosis als Folge äußerer Exposition durch auf dem Erdboden und sonstigen Oberflächen abgelagerten Radionukliden in einem Jahr

In gemäßigten Zonen - wie Mitteleuropa - ist die Inhalationsdosis als Folge der Resuspension von abgelagerten Radionukliden klein gegenüber der äußeren Exposition durch abgelagerte Radionuklide und kann darum bei der Berechnung der Interventionsdosen vernachlässigt werden. Der Ingestionspfad muß nicht berücksichtigt werden, da vorausgesetzt werden kann, daß genügend nicht kontaminierte Lebensmittel zur Verfügung stehen.

4.4.6 Temporäre Umsiedlung

Falls zu erwarten ist, daß die Dosisleistung durch äußere Bestrahlung von der Bodenoberfläche aufgrund von radioaktivem Zerfall oder natürlichen Dekontaminationsvorgängen in den Wochen und Monaten nach dem Unfall relativ schnell abklingt, kann eine vorübergehende Umsiedlung über einige Wochen bis zu mehreren Monaten ausreichend sein. Die Dosisintegrationszeit muß länger sein als die Zeitdauer, um die temporäre Umsiedlung abzuschließen, sie. sollte aber auch deutlich kleiner sein als die Integrationszeit für langfristige Umsiedlung, um die Möglichkeit der Rückkehr nach einigen Wochen deutlich zu machen. Darum wird die Integrationszeit für temporäre Umsiedlung auf einen Monat festgelegt. Da die temporäre Umsiedlung als eigenständige Maßnahme von geringerer Auswirkung auf die persönlichen und gesellschaftlichen Lebensumstände der betroffenen Bevölkerung ist, muß der Eingreifrichtwert unter demjenigen für langfristige Umsiedlung liegen. Er wird auf 30 mSv festgesetzt. Da der Eingreifrichtwert deutlich unterhalb der Dosisschwellen für deterministische Wirkungen liegt, ist die effektive Dosis die angemessene Größe:

Eingreifrichtwert für temporäre Umsiedlung:

30 mSv effektive Dosis durch äußere Exposition in einem Monat

Bei Kontamination des Bodens und anderer Oberflächen durch Radionuklide mit sehr langer Halbwertszeit entspricht eine Dosis von 100 mSv/a ungefähr einer Dosis von 10 mSv/ Monat, d.h. der Eingreifrichtwert für langfristige Umsiedlung wird vor demjenigen für temporäre Umsiedlung erreicht. Umgekehrt fällt bei überwiegender Kontamination durch kurzlebige Radionuklide (z.B. Radioiod) der größte Teil der Dosis innerhalb eines Monats an. Je nach Höhe und Zeitverlauf der Dosisleistung werden folglich die Eingreifrichtwerte für Aufenthalt in Gebäuden, temporäre Umsiedlung oder Evakuierung überschritten, der Eingreifrichtwert für langfristige Umsiedlung jedoch nicht.

In der folgenden Tabelle sind die Eingreifrichtwerte für die angegebenen Maßnahmen zusammengestellt:

Tab. 4.3: Eingreifrichtwerte für die Maßnahmen Aufenthalt in Gebäuden, Einnahme von Iodtabletten, Evakuierung, langfristige Umsiedlung und temporäre Umsiedlung

Maßnahme Eingreifrichtwerte
Organdosis (Schilddrüse) effektive Dosis Integrationszeiten und Expositionspfade
Aufenthalt in Gebäuden   10 mSv äußere Exposition in 7 Tagen und effektive Folgedosis durch in diesem Zeitraum inhalierte Radionuklide
Einnahme von Iodtabletten 50 mSv Kinder bis zu 12 Jahren sowie Schwangere, 250 mSv Personen von 13 bis 45 Jahren   im Zeitraum von 7 Tagen inhaliertes Radioiod einschließlich der Folgeäquivalentdosis
Evakuierung   100 mSv äußere Exposition in 7 Tagen und effektive Folgedosis durch in diesem Zeitraum inhalierte Radionuklide
langfristige Umsiedlung   100 mSv äußere Exposition in 1 Jahr durch abgelagerte Radionuklide
temporäre Umsiedlung   30 mSv äußere Exposition in 1 Monat

Ist bei lang anhaltenden Freisetzungen der Zeitraum des Wolkendurchzugs in einzelnen Gebieten größer als 7 Tage, dann ist die Integrationszeit entsprechend zu verlängern.

Für die Entscheidungsfindung über die Maßnahmen temporäre und langfristige Umsiedlung steht mehr Zeit zur Verfügung als für die Entscheidungsfindung über die Katastrophenschutzmaßnahmen Aufenthalt in Gebäuden, Einnahme von Iodtabletten und Evakuierung.

Durch das Gesamtsystem der Eingreifrichtwerte gemäß Tabelle 4.3 erfolgen die Gegenmaßnahmen

Um von den örtlich unterschiedlichen Schutzfaktoren unabhängig zu sein, wird bei der Anwendung der genannten Eingreifrichtwerte ein ununterbrochener Aufenthalt im Freien von 24 Stunden pro Tag angenommen. Die mit den Eingreifrichtwerten verbundenen Maßnahmen beginnen also bereits bei realen Strahlenexpositionen, die erheblich darunter liegen. Unter realen Strahlenexpositionen werden Expositionen verstanden, die bei normalen Lebensgewohnheiten, d.h. überwiegendem Aufenthalt in Gebäuden, auftreten.

Durch das Gesamtsystem der Eingreifrichtwerte wird somit sichergestellt, daß die besonders schützenswerte Gruppe der Kinder insgesamt im Kindesalter maximal eine unfallbedingte Strahlenexposition erhält, die in der Größenordnung der natürlichen Strahlenexposition in ihrem weiteren Leben liegt.

Darüber hinaus liegen die Eingreifrichtwerte gemäß Tabelle 4.3 am unteren Ende des in ICRP 63 angegebenen Intervalls für die optimierten Eingreifwerte. Bei dieser Aussage ist berücksichtigt, daß sich das eben genannte Intervall der ICRP auf die durch Maßnahmen vermeidbare Dosis bezieht, d. h. nicht auf die Dosis bei ununterbrochenem Aufenthalt im Freien.

4.4.7 Eingriffe in die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln

Bei den Eingriffen in die Versorgung der Bevölkerung wird zwischen der (vorsorglichen) Warnung der Bevölkerung vor dem Verzehr frisch geernteter Lebensmittel und von Frischmilch einerseits und Eingriffen in die Versorgung mit Nahrungs- und Futtermitteln auf der Grundlage von Höchstwerten der Kontamination andererseits unterschieden. Die genannte Warnung der Bevölkerung erfolgt in der Umgebung eines Emittenten spätestens zu Beginn einer gefahrenbringenden Freisetzung oder bei ungeklärter radiologischer Lage, im Fernbereich bei erheblichen Radionuklidkonzentrarionen in der Luft. Die Höchstwerte an Radioaktivität in Nahrungs- und Futtermitteln im Falle eines nuklearen Unfalls oder einer anderen radiologischen Notstandssituation sind in EU-Verordnungen /EUR 87, EUR 89a, EUR 89b, EUR 90/ festgelegt sowie im Maßnahmenkatalog /MNK 98/ ausführlich erläutert.

4.5 Abgeleitete Richtwerte

Die Schwierigkeiten bei der Beurteilung der Frage, ob in einer gegebenen Situation bestimmte Körperdosen vorkommen können, resultieren aus dem äußerst komplexen Geschehen, das den Aktivitätstransport bei einer unfallbedingten Freisetzung in der Ökosphäre zum Menschen hin bestimmt. Je nach Unfallart, Freisetzungsbedingungen, örtlichen und zeitlichen Gegebenheiten und letztlich auch individuellem Verhalten von Betroffenen ergeben sich sehr viele unterschiedliche Expositionsmöglichkeiten und damit Körperdosen für einzelne Personen.

Hinzu kommt, daß es sich bei den Körperdosen in aller Regel um durch Rechnung und nicht unmittelbar durch Messung zu ermittelnde Größen handelt. Daher müssen die festgelegten Dosisrichtwerte auf meßbare Größen zurückgeführt werden, anhand derer über die Einleitung von Maßnahmen entschieden werden kann. Solche Werte werden als "abgeleitete Richtwerte" bezeichnet.

Geeignete Meßgrößen sind:

Um Meßergebnisse der o. a. Meßgrößen in Körperdosen umrechnen zu können, müssen in der Regel zusätzliche Annahmen getroffen werden, beispielsweise bei der Ortdosisleistung über deren Verlauf in Vergangenheit und Zukunft sowie die Expositionszeit. Allgemein beruht die Bestimmung der abgeleiteten Richtwerte auf folgenden Voraussetzungen:

Wie Dosisrichtwerte sind auch abgeleitete Richtwerte immer auf bestimmte Maßnahmen bezogen. Dabei spielt auch eine Rolle, daß der Zusammenhang zwischen Meßgröße und Dosis ggf. maßnahmenspezifisch ist.

Abgeleitete Richtwerte können für eine Vielzahl von kontaminterten Umweltmaterialien, Expositionspfaden und Radionukliden ermittelt werden. Im allgemeinen wird man sich auf abgeleitete Richtwerte beschränken, die für die Strahlenexposttion größerer Bevölkerungsgruppen wesentlich sind und hinreichend einfach meßtechnisch bestimmt werden können. Diese sind daher vorab als Entscheidungsgrundlagen bereitzustellen. Eine umfassende Sammlung von abgeleiteten Richtwerten ist im Maßnahmenkatalog /MNK 98/ enthalten.

5 Entscheidungsfindung im Ereignisfall

Zur Beurteilung der Notwendigkeit von Schutz- und Gegenmaßnahmen werden grundsätzlich die in Abschnitt 4.4 beschriebenen Eingreifrichtwerte angewandt: durch die aufgrund der Eingreifrichtwerte definierten Isodosislinien werden Gebiete festgelegt, in denen hinsichtlich der zugehörigen Schutz- und Gegenmaßnahmen Handlungsbedarf besteht.

Allerdings ist in der Vorfreisetzungsphase und in der Freisetzungsphase nicht auszuschließen, daß aufgrund des mangelhaften Kenntnisstandes keine ausreichend genauen Dosisabschätzungen möglich sind. Dann ist von der Einsatzleitung - evtl. unter Einbeziehung von Informationen aus der Anlage oder von sachkundigen Institutionen - die Frage der Anordnung vorsorglicher Maßnahmen zu erörtern. Als Ausgangspunkt dieser Überlegungen sind ebenfalls Gebiete zu bestimmen, in denen derartige Maßnahmen zu erwägen sind.

Bei der Entscheidung über die Durchführung von Schutz- und Gegenmaßnahmen sollten die Stellungnahmen der Fachberater aller beteiligten Fachbehörden und Institutionen gehört und gegenseitig abgewogen werden, soweit das zeitlich möglich ist. Als Ergebnis dieses Entscheidungsfindungsprozesses erfolgt die zeitlich und räumlich spezifizierte Anordnung von Katastrophenschutz- bzw. Strahlenschutzvorsorgemaßnahmen. Wurden bereits Maßnahmen ergriffen, ist in der Folge zu entscheiden, inwieweit zusätzliche Maßnahmen notwendig sind oder ob Maßnahmen aufgehoben werden können.

5.1 Einflußfaktoren

Die Bewertung und das gegenseitige Abwägen aller relevanten Einflußfaktoren hat zum Ziel, diejenige Maßnahmenstrategie zu identifizieren, die unter den gegebenen Randbedingungen den bestmöglichen Schutz der Bevölkerung erzielen kann. Hierbei kommt den Fachberatern eine wesentliche Bedeutung zu, da sie aufgrund ihrer Sachkenntnisse qualitative und quantitative Angaben zu den relevanten Einflußfaktoren machen können. Die Bedeutung der Einflußfaktoren hängt wiederum von der Zeit nach der Freisetzung und vom betrachteten Ort ab; im folgenden sind die wichtigsten Einflußfaktoren ohne Berücksichtigung ihrer Rangreihenfolge zusammengestellt:

5.2 Entscheidungsfindung

Die Notwendigkeit zur Entscheidung liegt nur dann vor, wenn verschiedene Möglichkeiten von Maßnahmenstrategien denkbar sind. Durch räumliche und zeitliche Variation des Ablaufs von Maßnahmen läßt sich allerdings sehr schnell eine Vielzahl von Handlungsalternativen erzeugen. Die eigentliche Entscheidungsfindung besteht dann darin, aus diesen Handlungsalternativen in einem i. allg. iterativen Prozeß den am besten geeigneten räumlichen und zeitlichen Vorgang des Ergreifens von Maßnahmen als Einzelaktionen oder in Kombination zu identifizieren (siehe Abbildung 5.1).

Der Vorgang des Bewertens und Abwägens erfolgt in der Regel intuitiv ohne festgelegte Strukturierung und Regeln. Er ist darum empfindlich gegenüber der Verfügbarkeit an verläßlichen Informationen zu den einzelnen Einflußfaktoren und dem Bewußtsein der Entscheidungsträger über ihre Relevanz.

Abb. 5.1: Einflußfaktoren und Entscheidungsfindung als iterativer Prozeß

Inwieweit sie berücksichtigt werden, hängt auch davon ab, wieviel Zeit für die Entscheidungsfindung zur Verfügung steht und in welchem Umfang die entsprechende fachliche Unterstützung gegeben ist. So werden möglicherweise objektive Einflußfaktoren bei der Entscheidung über Katastrophenschutzmaßnahmen weniger beachtet werden, wenn eine sehr schnelle Entscheidung gefordert wird, wenn entsprechende fachliche Argumente nicht vorgetragen werden, oder wenn diese Aspekte bisher in Übungen nicht angesprochen worden sind.

5.3 Methodische Hilfsmittel

Aus wissenschaftlich-technischer Sicht stehen eine Reihe von Hilfsmitteln zur Verfügung, die die Einsatzleitungen unter den geschilderten Randbedingungen unterstützen können. Hierzu gehören:

Entscheidungshilfesysteme für den Katastrophenschutz decken den Entfernungsbereich bis zu einigen (zehn) Kilometern ab, in dem (schnelle) Katastrophenschutzmaßnahmen erforderlich sein können. Diese Systeme haben i. allg. Zugriff zu anlagenspezifischen Emissions- und Immissionsdaten eines lokalen Überwachungsnetzes. Zusätzlich können Meßdaten von speziellen Meßeinrichtungen oder mobilen Einsatztrupps verarbeitet werden (KFÜ-Systeme der Bundesländer /Ebe 93/, CAIRE 1 CAI 92/, RODOS/RESY /ROD 97a/).

Entscheidungshilfesysteme für die Strahlenschutzvorsorge decken ein ganzes Land bis an seine Grenzen ab; in ihnen werden automatisch die gesamten Daten eines flächendeckenden Netzes von ODL-Meßstationen ausgewertet und beurteilt. Zusätzlich gehen in die Systeme im Fall einer radioaktiven Kontamination weitere Daten über nuklidspezifische Kontaminationen von Wasser, Boden und Nahrungsmitteln ein, die von speziellen Meßeinrichtungen oder mobilen Einsatztrupps stammen (IMIS /IMI 93/, PARK /PAR 91/, RODOS /ROD 97b/).

6 Strahlenschutz der Einsatzkräfte

Einsatzkräfte im Sinne der folgenden Ausführungen sind Personen, die bei einem kerntechnischen Unfall zur Bewältigung der Unfallfolgen eingesetzt werden. Neben dem Anlagenpersonal gehören hierzu Personen, die aufgrund ihrer allgemeinen beruflichen Qualifikation für bestimmte Aufgaben (z.B. Messungen, Transporte, Reparaturen, Bauarbeiten) eingesetzt werden sowie Sicherheits- und Rettungspersonal (z.B. Polizei, Feuerwehr, Sanitäter, Arzte). Die Gruppen unterscheiden sich beträchtlich hinsichtlich ihrer Strahlenschutzkenntnisse und damit der Möglichkeiten, ihre eigene Gefährdung einzuschätzen und eigenständig wirkungsvoll zu mindern.

Von der allgemeinen Bevölkerung unterscheiden sich Einsatzkräfte dadurch, daß ihre zusätzliche Strahlenexposition aus der Entscheidung resultiert, sie zur Unfallfolgenbewältigung einzusetzen. Die Strahlenexposition der Bevölkerung kann durch Maßnahmen des Einsatzpersonals vermieden oder vermindert werden. Daher müssen sich die Strahlenschutzgrundsätze für die Bevölkerung und für die Einsatzkräfte unterscheiden.

Die von den Einsatzkräften durchzuführenden Aufgaben unterscheiden sich je nach Unfallphase und damit zusammenhängend nach den Möglichkeiten, die Strahlenexposition planvoll zu steuern. Die Rechtfertigung der zusätzlichen Strahlenexposition von Einsatzkräften wird durch die Wichtigkeit der Aufgaben bestimmt.

Die Einsatzaufgaben können eingeteilt werden in:

Ehe die sich daraus ergebenden Folgerungen diskutiert werden, sollen die in der Bundesrepublik bereits vorhandenen Bestimmungen kurz dargestellt werden. Für Einsätze von Feuerwehr und Polizei wurden von den Innenministern die Feuerwehr-Dienstvorschriften 9/1 "Strahlenschutz-Rahmenvorschrift" (FwDv 9/1) /FEU 92/ und 9/2 "Strahlenschutz-Einsatzgrundsätze, (FwDv 9/2) /FEU 88/ sowie der Leitfaden 450 "ABC-Wesen in der Polizei" (LF 450) /POL 92/ erlassen. In Tabelle 6.1 sind die darin enthaltenen Dosisgrenzwerte zusammengefaßt.

Zu diesen Vorschriften und den darin festgelegten Grenzwerten ist zu bemerken, daß ihre Anwendung für qualitativ andere Ereignisse (z.B. Unfälle in Radionuklidlabors, Transportunfälle u. ä.) vorgesehen ist, bei denen eine höhere Strahlenexposition der Einsatzkräfte, die keine beruflich strahlenexponierten Personen sind, i. allg. nicht gerechtfertigt ist. Die Anwendung bei einem nuklearen Unfall sollte, ggf. unter Bezug auf die (zumindest in der FwDv 9/1) gegebene Möglichkeit der Überschreitung, so gehandhabt werden, daß ein Konflikt mit den für die Bevölkerung angewendeten Eingreifrichtwerten im aktuellen Fall vermieden wird. Dabei kann auch in Betracht gezogen werden, daß es sich bei Polizei und Feuerwehr um Erwachsene und in der Regel gesunde Personen handelt.

Lebensrettende Maßnahmen

Zu den vorgenannten Vorschriften und den darin festgelegten Grenzwerten ist zu bemerken, daß ihre Anwendung für Ereignisse geringeren Umfangs, wie z.B. bei Unfällen in Radionuklidlabors oder bei Transportunfällen vorgesehen ist, bei denen eine höhere Strahlenexposition der Einsatzkräfte, die keine beruflich strahlenexponierten Personen sind, i. allg. nicht gerechtfertigt ist. Die genannten Vorschriften sehen daher höhere Dosen auch nur im Einzelfall beim Einsatz zur Rettung von Menschenleben vor und liegen unterhalb der Schwelle deterministischer Wirkungen. Das mit jeder Strahlenexposition verbundene Risiko einer Spätschädigung (stochastische Wirkungen) in diesem Dosisbereich ist bei der Rettung von Menschenleben zumutbar und übersteigt nicht das sonst übliche Ausmaß gesundheitlicher Risiken bei Unfall- und Katastropheneinsätzen.

Die Strahlenschutzkommission empfiehlt daher in Band 4 ihrer Veröffentlichungen ,Medizinische Maßnahmen bei Kernkraftwerksunfällen" von 1995 /SSK 95b/, daß eine Dosis von 250 mSv nur in Ausnahmefällen überschritten werden darf. Voraussetzung ist, daß dies nach Einschätzung eines Strahlenschutz- Sachverständigen bei lebensrettenden Maßnahmen notwendig und vertretbar ist. Die Strahlenschutzkommission empfiehlt, daß in diesen seltenen Fällen die Dosis jedoch 1 Sv nicht überschreiten sollte. Voraussetzung für einen solchen Einsatz ist die Zustimmung der Einsatzkräfte nach erfolgter Aufklärung. Die Strahlenschutzkommission hat 1996 in Band 32 ihrer Veröffentlichungen "Der Strahlenunfall" /SSK 96/ diese Auffassung bestätigt.

Tab. 6.1: In der Bundesrepublik Deutschland für Einsätze der Feuerwehr und der Polizei festgelegte Dosisgrenzwerte nach Einsatzaufgaben (nach FwDv 9/1 /FEU 92/ und LF 450 /POL 92/)

Einsatzaufgabe/ Grundlage Dosisgrenzwert nach
FwDv 9/1
(Feuerwehr)
LF 450
(Polizei)
Absperrmaßnahmen - 5 mSv pro Schadenereignis
Einsätze zum Schutz von Sachwerten 15 mSv pro Einsatz 15 mSv Die Dosis aus Absperrmaßnahmen und zum Schutz von Sachwerten ist auf höchstens 15 mSv pro Jahr zu beschränken.
Einsätze zur Abwehr einer Gefahr für Personen oder zur Verhinderung einer wesentlichen Schadensausweitung 100 mSv pro Einsatz pro Jahr höchstens 100 mSv
Einsatz zur Rettung von Menschenleben 250 mSv pro Einsatz und Leben (auch ohne Beurteilung durch einen Sachverständigen, außer in Bereichen nach §§ 6, 7, 9 AtG) 250 mSv
Überschreitung der Höchstdosis beim Einsatz zur Rettung von Menschenleben Eine Ganzkörperdosis von 250 mSv darf auf Entscheidung des Einsatzleiters nur überschritten werden, wenn dies nach Beurteilung durch einen Sachverständigen notwendig und vertretbar ist. Die betroffenen Einsatzkräfte sind auf die besondere Lage hinzuweisen.  
Lebenszeitdosis Im Laufe eines Lebens sollte eine Ganzkörperdosis von 250 mSv nicht überschritten werden. Die mittlere Ganzkörperdosis im Verlaufe mehrerer Jahre sollte 50 mSv/a nicht überschreiten. Die Summe der ermittelten effektiven Dosen soll im Leben den Wert von 250 mSv nicht überschreiten.
Hinweis: Die Aussagen des LF 450 gelten explizit auch für Einsätze bei einem kerntechnischen Unfall.

Bei einem kerntechnischen Unfall muß allerdings sichergestellt werden, daß Dosisgrenzwerte für das Einsatzpersonal die Rettung von Menschenleben nicht unmöglich machen.

Beim Einsatz sind persönliche Schutzmittel zu benutzen. Die Strahlenexposition ist zu überwachen und aufzuzeichnen, sofern dies unter den gegebenen Umständen möglich ist.

Maßnahmen zur Verhinderung einer Schadensausweitung

Die durchzuführenden Aufgaben können charakterisiert werden durch

Erheblich sind beispielsweise Freisetzungen, die zu deterministischen Wirkungen in der Bevölkerung führen können oder solche, die die Evakuierung einer sehr großen Anzahl von Personen notwendig machen. Die Aufgaben können beispielsweise Schalthandlungen und dringende Reparaturarbeiten zur Wiedergewinnung der Kühlbarkeit sowie Abdichtungs- und Löscharbeiten umfassen.

Man kann davon ausgehen, daß solche Aufgaben in der Regel vom Anlagenpersonal mit Training im Strahlenschutz und Wissen in der Anwendung von Strahlenschutzmaßnahmen wie zeitliche Beschränkung der Exposition, Abschirmung, Kontaminations- und Inkorporationschutz wahrgenommen werden. Zu dem damit betrauten Personenkreis zählen auch Mitglieder der zur Anlage gehörenden Werkfeuerwehr.

Es kann jedoch nicht völlig ausgeschlossen werden, daß Angehörige der öffentlichen Feuerwehren, der Polizei und der medizinischen Rettungsdienste an einem solchen Einsatz mitwirken. Angehörige dieser Gruppen besitzen im allgemeinen wenig Strahlenschutzkenntnisse und müssen deshalb von Personal, das Orts- und Strahlenschutzkenntnisse hat, beraten werden.

Typisch für solche Aufgaben ist, daß sie unverzüglich und schnell durchgeführt werden müssen. In solchen Situationen ist es eher unwahrscheinlich, daß für eine Optimierung genügend Zeit zur Verfügung steht.

Maßnahmen zur Verhinderung einer erheblichen Freisetzung sind in der Regel gerechtfertigt. Trotzdem sollen die Einsatzkräfte keine Dosen oberhalb der Schwellenwerte für deterministische Wirkungen (ca. 1 Sv effektive Dosis bzw. 5 Sv Hautdosis) erhalten.

Im Rahmen der Notfallschutzplanung muß dafür Sorge getragen werden, daß die bei solchen Einsätzen erforderlichen Schutzmittel (Atemschutz, Kontaminationsschutz, Iodtabletten) vorhanden sind.

Die Strahlenexposition ist zu überwachen und aufzuzeichnen. Die Exposition und die sich daraus ergebenden möglichen Gesundheitsfolgen sind den Einsatzkräften mitzuteilen und zu erläutern.

Frühe Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung

Typischerweise handelt es sich um den Einsatz bei verkehrslenkenden Maßnahmen oder beim Personentransport, z.B. bei einer Evakuierung. Die Durchführung solcher Aufgaben obliegt Angehörigen der Polizei, der Feuerwehr, der Rettungsdienste und zusätzlich herangezogenen Hilfskräften (z.B. Fahrer von Transportmitteln).

Solche Einsätze sind im allgemeinen gerechtfertigt, wenn bestimmte Körperdosen nicht überschritten werden. Möglicherweise ist eine grobe Optimierung durchführbar. Alle vernünftigen Anstrengungen sollten unternommen werden, um die Körperdosen der oben genannten Einsatzkräfte unter 100 mSv pro Jahr zu halten.

In der Regel werden die Einsatzkräfte aus der näheren Umgebung stammen. Im Rahmen der Notfallschutzplanung für die Anlage ist für den abzusehenden Personenkreis eine Grundeinweisung in die von ionisierender Strahlung ausgehenden Risiken, in Strahlenschutzpraktiken (zeitliche Limitierung der

Exposition, Kontaminationsschutz u. ä.) und im Gebrauch von einfachen Meßgeräten (Dosimeter, Dosisleistungsmeßgeräte, Dosiswarner) vorzunehmen. Der Einsatzführer soll von Strahlenschutzsachverständigen beraten werden. Die Einsatzleitung trägt dafür Sorge, daß Hilfspersonal keiner Strahlenexposition ausgesetzt ist, die nicht gerechtfertigt ist.

Die Strahlenexposition der Einsatzkräfte ist zu überwachen und aufzuzeichnen, wobei vereinfachte Verfahren zulässig sind (z.B. Messung der Körperdosis mit Dosimeter nur bei einem Mitglied einer zusammengehörigen Gruppe, Abschätzung auf der Basis der gemessenen Ortsdosisleistungen und der zugehörigen Expositionszeiten). Nach dem Einsatz sind die abgeschätzten Körperdosen und die damit verbundenen Gesundheitsrisiken den Betroffenen bekanntzugegeben und zu erläutern.

Längerfristige Abhilfemaßnahmen

Sobald die betroffene Anlage wieder unter Kontrolle gebracht ist, steht für Aufgaben wie

in der Regel Zeit zur Verfügung. In einer solchen Situation ist die Strahlenexposition der mit solchen Arbeiten betrauten Einsatzkräfte steuerbar. Die Beschäftigten sind als beruflich strahlenexponierte Personen unter Anwendung der dafür gültigen Vorschriften der Strahlenschutzverordnung einzustufen.

Meßaufgaben

Bei einem kerntechnischen Unfall ist es zur Ermittlung der radiologischen Lage erforderlich, sowohl in der betroffenen Anlage als auch in der Umgebung Messungen vorzunehmen. Das kann zu einer Strahlenexposition des Personals der Meßdienste führen.

Die Rechtfertigung dieser Strahlenexposition muß sich daran orientieren, in welchem Zusammenhang die Ergebnisse der Messung benötigt werden. So kann beispielsweise die Strahlenexposition von Einzelpersonen bei den zur Vorbereitung lebensrettender Maßnahmen notwendigen Messungen höher ausfallen als die entsprechende Strahlenexposition bei Messungen, die zur Entscheidung über längerfristige Abhilfemaßnahmen durchgeführt werden. Dabei sollte berücksichtigt werden, daß die Strahlenexposition aufgrund der Durchführung einer Meßaufgabe deutlich geringer sein muß als die Strahlenexposition, die aufgrund einer Unterlassung der Messung bei anderen Personen absehbar wäre. Die für die verschiedenen oben genannten Einsatzzwecke genannten oberen Grenzen gelten daher in jedem Fall auch für die Meßaufgaben, die zur Entscheidung darüber notwendig sind.

Bereits bei der Planung sind Überlegungen zur Optimierung anzustellen. Dabei ist zu prüfen, ob die zur Ermittlung der radiologischen Lage erforderlichen Messungen ohne oder mit geringer Strahlenexposition der Meßdienste gewonnen werden können. Hierzu kommen beispielsweise ortsfeste Meßstationen sowie im Bedarfsfall absetzbare Sonden mit Datenfernübertragung, ferngesteuerte Meßfahrzeuge, Aerometrie (= Messungen vom Hubschrauber/Flugzeug) in Betracht. Für Fälle, bei denen auf den Einsatz von Meßpersonal nicht verzichtet werden kann, sind Einsatzstrategien vorzubereiten, die helfen, die radiologische Lage mit möglichst geringer Strahlenexposition zu erfassen (Einsatz in besonders [durch Luftfilterung und Abschirmung] geschützten Meßfahrzeugen, Ausrüstung mit Dosimetern und Dosiswarngeräten zur Selbstüberwachung, zeitliche Begrenzung des Einsatzes, lageabhängige Planung von Meßfahrten, Festlegung von Umkehrdosen).

7 Strahlenschutz besonderer Berufsgruppen

Falls ein Unfall zu einer Kontamination der Umgebung geführt hat, werden alle dort lebenden Personen einer erhöhten Strahlung ausgesetzt sein. Über den Verbleib der Menschen in einer solchen Umgebung wird entsprechend den Strahlenschutzgrundsätzen für die Bevölkerung entschieden. Die Erhöhung der Umgebungsstrahlung wird allerdings nicht gleichmäßig sein, vielmehr werden sich örtlich, aber auch tätigkeitsspezifisch Anreicherungen ergeben. Dies könnte beispielsweise bei folgenden Tätigkeiten der Fall sein:

Das Meßprogramm zur Überwachung der Radioaktivität in der Umwelt wird Hinweise darauf liefern, ob es bei solchen Tätigkeiten zu erhöhten Strahlenexpositionen kommen kann, die ggf. spezielle Überwachungsprogramme erfordern und die vielleicht auch Strahlenschutzmaßnahmen bei den dort Beschäftigten notwendig machen können.

Angesichts der Vielzahl der möglichen Situationen können hierzu vorab keine Festlegungen getroffen werden, vielmehr ist in Kenntnis der tatsächlichen Umstände über die Rechtfertigung und die Optimierung solcher Tätigkeiten zu entscheiden.

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Iodblockade der Schilddrüse bei kerntechnischen Unfällen. Empfehlung der Strahlenschutzkommission. BAnz. Nr. 53 vom 18. März 1997

Verzeichnis der verwendeten Abkürzungen

CAIRE Computer Aided Response to Emergencies
EU Europäische Union
FAO Food and Agriculture Organization of the United Nations
IAEA International Atomic Energy Agency
ICRP International Commission on Radiological Protection
ILO International Labour Office
IMIS Integriertes Meß- und Informationssystem
OECD/NEA Organisation for Economic Co-Operation and Development/Nuclear Energy Agency
PAHO Pan American Health Organization
PARK Programmsystem zur Abschätzung und Begrenzung radiologischer Konsequenzen
PLUTO Programmsystem nach dem Leitfaden für den Fachberater Katastrophenschutz bei kerntechnischen Unfällen für den Fachberater Strahlenschutz und Technik vor Ort
RODOS/
RESY
real-time on-line decision support/rechnergestütztes Entscheidungshilfe-System
SAFER Strahlenexposition als Folge eines Reaktorunfalls
WHO World Health Organization

.

  Anlage

Iodblockade der Schilddrüse bei kerntechnischen Unfällen

Empfehlung der Strahlenschutzkommission

Verabschiedet in der 136. Sitzung am 22./23. Februar 1996
Redaktionell revidierte Fassung vom 13. März 1997



Empfehlungen

Die Strahlenschutzkommission (SSK) empfiehlt die Übernahme der Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von 1989 [1] zur Iodblockade der Schilddrüse. Diese beinhalten im wesentlichen folgende Änderungen gegenüber den bisher in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Empfehlungen [2]:

Begründung

Aktuelle Erkenntnisse zur Iodfreisetzung

Die Aufarbeitung der Folgen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl gibt Anlaß, die Empfehlungen zur Verhinderung der Aufnahme von radioaktivem Iod in die Schilddrüse durch die Einnahme von Iodtabletten zu überdenken.

Radioaktives Iod kann bei einem Reaktorunfall - wie die Erfahrungen von Tschernobyl zeigen - unter Umständen über einige hundert Kilometer weit auf dem Luftweg forttransportiert werden. Während die Bevölkerung sich gegen die Aufnahme von Radioiod mit der Nahrung durch Verzicht auf Frischgemüse und Milch wirkungsvoll schützen kann, ist die Vermeidung einer Aufnahme von Radioiod über die Atemluft wesentlich schwieriger. Das Verbleiben im Haus nach einem Reaktorunfall bietet zwar einen gewissen Schutz; trotzdem kann es nötig werden, zusätzliche Schutzmaßnahmen zu ergreifen (wie die Einnahme von Iodtabletten).

Wirkung der Iodblockade

Durch die "Iodblockade" mit Dosen in der Größenordnung von 100 mg Iodid und darüber kommt es zu einer Verminderung der Aufnahme radioaktiven Iods in die Schilddrüse um den Faktor 90 und darüber, vorausgesetzt, daß die tabletten rechtzeitig eingenommen werden [3]. Die Iodtabletten sollten möglichst schon vor der Aufnahme des radioaktiven Iods eingenommen worden sein. Eine befriedigende Blockade ist auch dann noch zu erreichen, wenn die Aufnahme des Radioiods weniger als 2 Stunden zurückliegt. Die Verweildauer radioaktiven Iods im Körper wird sogar noch einige Stunden nach dessen Aufnahme durch Iodtabletten verkürzt. Eine erstmalige Anwendung sollte jedoch nicht später als einen Tag nach Aufnahme von radioaktivem Iod erfolgen, da sonst dessen Ausscheidung verzögert wird [4].

Radioiod kann an der Schilddrüse sowohl stochastische als auch deterministische Effekte verursachen. Während für stochastische Wirkungen (Entstehung von Schilddrüsenkrebs) Dosisschwellen nicht festgelegt werden können, zeigt die Erfahrung, daß deterministische Effekte (Schilddrüsenentzündungen, Schilddrüsenunterfunktion) unterhalb von 10 Gy Organdosis kaum vorkommen. Es muß jedoch damit gerechnet werden, daß es im Nahbereich von Kernreaktoren bei schweren Unfällen zu Inkorporationen erheblicher Aktivitäten von Radioiod kommen kann, die zu Schilddrüsendosen in der Größenordnung von mehreren Gy führen.

Bisherige Empfehlungen für die Bundesrepublik Deutschland

Die Bundesrepublik Deutschland gehört zu den Ländern, in denen sehr frühzeitig - bereits 1975 (veröffentlicht 1977 in [5])- Empfehlungen zur Iodblockade der Schilddrüse im Rahmen kerntechnischer Notfälle gegeben wurden. Nach den "Dosisrichtwerten für Verbleiben im Haus, Einnahme von Jodtabletten und Evakuierung" [2] gilt als unterer Richtwert für die Einnahme von Iodtabletten die Dosis von 200 mSv und als oberer Richtwert die Dosis von 1000 mSv. Der untere und der obere Dosisrichrwert liegen um den Faktor 4 höher als in der WHO-Empfehlung [1]. Als Begründung wird angeführt, daß es sich bei dem überwiegenden Teil der Bundesrepublik Deutschland um ein Iodmangelgebiet handelt und die Einnahme der Iodtabletten mit einem erhöhten Risiko für unerwünschte Nebenwirkungen verbunden sei.

Die derzeit geltenden "Jod-Merkblätter" [2] sehen folgendes Dosierungsschema vor (die Angaben gelten für tabletten à 100 mg Kaliumiodid entsprechend rund 80 mg Iodid):

WHO-Empfehlungen von 1989

Die Eingreifrichtwerte der WHO [1] sind - wie oben erwähnt - um den Faktor 4 niedriger (unterer Richtwert 50 mSv, oberer Richtwert 250 mSv) als die entsprechenden Richtwerte in der Bundesrepublik Deutschland. Auch die Dosierungsempfehlungen unterscheiden sich (die WHO bezieht ihre Dosterungsangaben auf tabletten ä 100 mg Iodid entsprechend 130 mg Kaliumiodid):

Die WHO empfiehlt, die Gesamtdosis für Schwangere, Stillende und Neugeborene zu beschränken: Neugeborene sollen nur 1 x 12,5 mg Iodid erhalten, Schwangere und Stillende maximal 2 x 100 mg. Dies bedeutet, daß im Falle eines Unfalls mit fortdauernder Freisetzung bzw. Aufnahme diese Risikogruppen innerhalb von 1 bis maximal 2 Tagen aus den betroffenen Regionen evakuiert werden müssen.

Anpassung der deutschen Empfehlungen an die internationalen Empfehlungen zur Iodblockade

Verschiedene Gründe sprechen dafür, die deutschen an die internationalen Empfehlungen anzupassen. Hierzu zählt einerseits die Tatsache, daß es für die Bevölkerung schwer verständlich ist, wenn z.B. im Rahmen eines Reaktorunfalls im benachbarten Ausland die dortige Bevölkerung Iodtabletten erhält, die unter Umständen nur wenige Kilometer entfernt lebende deutsche Bevölkerung jedoch wegen der höheren Eingreifrichtwerte nicht. Das wichtigste Argument für die Änderung der deutschen Eingreifrichtwerte ist jedoch aus den Erfahrungen nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl abzuleiten: Es hat sich gezeigt, daß die Häufigkeit des Schilddrüsenkrebses bei Kindern auch in einigen hundert Kilometer weit entfernten Gebieten Weißrußlands und der Ukraine deutlich angestiegen ist. Bereits aus den Nachuntersuchungen an den Überlebenden der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki war bekannt, daß das zusätzliche relative Risiko für die Entstehung von Schilddrüsenkrebs nach Strahlenexposition bei Kindern und Jugendlichen mit 6,4 pro Gy bei 0- bis 4jährigen, 3,7 pro Gy bei 5- bis 9jährigen und 2,1 pro Gy bei 10- bis 19jährigen altersabhängig stark erhöht ist, während bei älteren Personen mit 0,7 pro Gy bei 20- bis 29jährigen, 0,9 pro Gy bei 30- bis 39jährigen und 0 pro Gy bei über 45jährigen nur eine geringe bzw. keine Risikoerhöhung besteht [6]. Nicht erwartet hatte man demgegenüber, daß es auch fern vom Unfallort zu nennenswerten Inkorporationen von Radioiod und einer dadurch bedingten Steigerung der Krebshäufigkeit bei Kindern kommen kann [4].

Diese Erfahrungen begründen die Empfehlung der SSK, die deutschen Eingreifrichtwerte an die internationalen Empfehlungen anzupassen und darüber hinaus entsprechende organisatorische Maßnahmen auch im Fernbereich von Kernreaktoren zu planen.

Festlegung einer oberen Altersgrenze bei der Iodblockade der Schilddrüse

Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Iodmangelgebiet, wobei nach neueren Untersuchungen ein früher postuliertes Süd-Nord-Gefälle mit einer ausgeprägten Unterversorgung im Süden und einer ausreichenden Iodversorgung im Norden allenfalls eine geringe Rolle spielt. Nach Untersuchungen an Schulkindern in der Pubertät liegt die Häufigkeit des Iodmangelkropfes in dieser Altersstufe zwischen 40 % und 60 % [7]. Während die Gabe hoher Ioddosen in der Größenordnung des 1000fachen der täglichen Nahrungszufuhr an jüngere Personen relativ unkritisch ist, kann es bei Älteren mit länger vorbestehenden Iodmangelkröpfen unter Umständen zu erheblichen Komplikationen kommen. In länger bestehenden Iodmangelkröpfen kommt es häufig zu einer Störung des Iodstoffwechsels der Schilddrüse, die man als "funktionelle Autonomie" bezeichnet. Unter der Annahme, daß die Häufigkeit des Iodmangelkropfes bei Bundesbürgern, die älter als 40 bis 50 Jahre sind, etwa 20 bis 30 % beträgt, und aufgrund aktueller Untersuchungen zur Häufigkeit der funktionellen Autonomie ist davon auszugehen, daß bei rund 10 % der Bundesbürger, die älter als 40 bis 50 Jahre sind, eine derartige Störung des Iodstoffwechsels der Schilddrüse vorliegt [8]. Bei diesen Personen kann es im Rahmen der Iodblockade zu schweren und kaum beherrschbaren Verläufen einer Schilddrüsenüberfünktion kommen. Da das hierdurch bedingte Risiko höher anzusetzen ist als das geringe, praktisch fehlende Risiko eines strahleninduzierten Schilddrüsenkarzinoms, sollten Personen älter als etwa 45 Jahre von der Iodblockade der Schilddrüse ausgenommen werden [3].

Bei dieser Empfehlung wird allerdings in Kauf genommen, daß es im Falle einer unfallbedingten Freisetzung von ungeschützten Personen älter als 45 Jahre, die sich im Nahbereich von Kernreaktoren aufhalten, zu deterministischen Strahlenschäden kommen kann. Hierbei handelt es sich um relativ harmlose Störungen, wie eine vorübergehende Schilddrüsen-Entzündung und eine medikamentös leicht auszugleichende Unterfunktion. Da darüber hinaus die hiervon möglicherweise betroffene Personengruppe aus dem Nahbereich eines Kernreaktors wesentlich kleiner ist als die im Fernbereich lebende ältere Bevölkerung, wird empfohlen, die Iodblockade generell bei über 4sjährigen nicht durchzuführen.

Literatur

[1] Weltgesundheitsorganisation (WHO): Guidelines for Iodine Prophylaxis following Nuclear Accidents. Published on behalf of the WHO Regional Office for Europe by FADL, Copenhagen, 1989.

[2] Rahmenempfehlungen für den Katastrophenschutz in der Umgebung kerntechnischer Anlagen, GMBl 1989, S. 71.

[3] Schicha, H.: Iodblockade der Schilddrüse.
In: Medizinische Maßnahmen bei Strahlenunfällen. Veröffentlichungen der Strahlenschutzkommission Band 27, herausgegeben vom Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Gustav Fischer Verlag, Stuttgart-Jena-New York, 1994, S. 187-205.

[4] Reiners, Chr.: Prophylaxe strahleninduzierter Schilddrüsenkarzinome bei Kindern nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Nuklear Medizin 33, 1994, S. 229 -234.

[5] Rahmenempfehlungen für den Katastrophenschutz in der Umgebung kerntechnischer Anlagen, GMBl 1977, S. 683.

[6] Akiba, S., Lubin, J., Ezaki. H. et al.: Thyroid cancer incidence among atomic bomb survivors in Hiroshima and Nagasaki 1958-1979. In: Technical Report, TR 5-91 Radiation Effect Research Foundation, Hiroshima, 1991.

[7] Gutekunst, R., Smolarek, H., Hasenpusch, U., Stubbe, C., Friedrich, H.-J., Wood, W G., Scriba, P. C.: Goitre Epidemiology: Thyroid volume, lodine excretion, Thyroglobulin and Thyrotrophin in Germany and Sweden. Acta Endocrinol. 112, 1986,S. 494-501.

[8] Bähre, M., Hilgers, R., Lindemann, C., Emrich, D.: Thyroid autonomy: Sensitive detection in vivo and estimation of its functional relevance using quantified high resolution scintigraphy. Acta Endocrinol. 117, 1988, S. 145-153.

1) Zur Beurteilung der Wirkungen von Strahlendosen sind im strengen Sinn die Energiedosis in Gray (Gy) in bezug auf deterministische Schäden und die Äquivalentdosis in Sievert (Sv) in bezug auf stochastische Schäden zu betrachten. Da es sich hier aber praktisch ausschließlich um locker ionisierende Strahlen handelt, bei denen der Zahlenwert von Energiedosis und Äquivalenidosis gleich ist. wird im folgenden zur Vereinfachung der Darstellung entsprechend der Strahlenschutzverordnung die Äquivalentdosis verwendet. /SSK 95b/.

2) Gleichwohl ist nicht auszuschließen, daß es, z.B. in unmittelbarer Umgebung einer betroffenen kerntechnischen Anlage, zu höheren Dosen kommen kann. Für diese wäre das Modell der effektiven Dosis, das sich auf stochastische Schäden bezieht, nicht mehr anwendbar.

3) 50 mSv Organdosis (Schilddrüse) entsprechen 2,5 mSv effektive Dosis.

ENDE

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