Der Bundesrat hat in seiner 807. Sitzung am 17. Dezember gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
Zu Ziffer 1 der Mitteilung
- 1. Die Errichtung europäischer Agenturen ist aus Ländersicht grundsätzlich kritisch zu hinterfragen, da durch die zunehmende Zahl neuer Gremien (Agenturen, Ämter, Ausschüsse usw.) mit unterschiedlichem Rechtsstatus, unterschiedlichen Befugnissen, Abhängigkeiten und Unterordnungen ein Organisationsgeflecht entsteht, welches das institutionelle Gleichgewicht der EU gefährden kann.
Im Einklang mit der Neuausrichtung der Instrumente der Lissabon-Strategie muss, bevor neue Maßnahmen ergriffen werden stets die Frage gestellt werden, ob eine gemeinschaftliche Regelung, insbesondere eine neue europäische Agentur, in den fraglichen Bereichen überhaupt erforderlich ist. Neue Maßnahmen sind in jedem Fall auf das unabdingbar Notwendige zu beschränken.
Der Bundesrat teilt die Auffassung der Kommission, dass die Gemeinschaftszuständigkeiten im Bereich der Grundfreiheiten begrenzt sind. Dies ist bei der Ausarbeitung eines Verordnungsvorschlags zur Errichtung der Agentur zu berücksichtigen.
Aus den Artikeln 284 und 308 EGV kann eine Rechtsgrundlage für die Errichtung der Agentur allenfalls insoweit hergeleitet werden, als die Agentur mit der Beobachtung der Grundrechtssituation im Zusammenhang mit dem Vollzug und der Umsetzung der Politiken der Gemeinschaft und des Gemeinschaftsrechts beauftragt wird. Eine darüber hinausgehende Beobachtung der Grundrechtslage in den Mitgliedstaaten - etwa von Grundrechtsbeeinträchtigungen im Vollzug rein nationalen Rechts - überschreitet die Kompetenzen, die der Kommission im EGV zugewiesen sind, und kann daher nicht auf die genannten Artikel gestützt werden.
Der Bundesrat begrüßt nachdrücklich, dass der Agentur keine quasigerichtlichen Zuständigkeiten wie etwa die Behandlung von Beschwerden oder Petitionen zukommen sollen.
Eine solche Zuständigkeit wäre mit der bereits bestehenden sehr gut ausgebauten Grundrechtsschutz-Architektur schwerlich in Einklang zu bringen. Diese sieht vor, dass neben den nationalen Behörden und Gerichten die Kommission, der Europäische Bürgerbeauftragte, der Europäische Datenschutzbeauftragte und letztverbindlich die Europäischen Gerichte - einschließlich des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte - über die Beachtung der Gemeinschaftsgrundrechte im konkreten Einzelfall wachen.
Zu Ziffer 2 der Mitteilung
- 2. Nach Auffassung des Bundesrates sollte das Handlungsfeld der Agentur auf den Anwendungsbereich der EU-Grundrechtecharta vgl. deren Artikel 51) beschränkt bleiben. Dies ergibt sich bereits aus der Begrenztheit der zur Verfügung stehenden Rechtsgrundlage für die Errichtung der Agentur (siehe oben).
Abgesehen davon wäre eine Beobachtung aller Entwicklungen in den Mitgliedstaaten, die im Rahmen des Artikels 7 EUV relevant werden könnten, der Agentur mit vertretbarem Aufwand kaum möglich und würde zu vielfachen überschneidungen mit der Tätigkeit des Europarats, einzelstaatlicher Einrichtungen und von Nichtregierungsorganisationen (NRO) führen.
Im übrigen dürfte ein Verfahren nach Artikel 7 EUV eine sehr seltene Ausnahme bleiben, welche die Vorhaltung einer eigenen ständigen Beobachtungsstelle der Union nicht rechtfertigt. Falls sich die eindeutige Gefahr einer schwer wiegenden Verletzung der in Artikel 6 Abs. 1 EUV genannten Grundsätze abzeichnen sollte, stünden der Kommission als Grundlage für ihren Entscheidungsvorschlag zahlreiche internationale und nationale Informationsquellen zur Verfügung. Für die weitere Beobachtung der Gefahrenlage sieht Artikel 7 Abs. 1 Satz 2 EUV bereits ein besonderes Verfahren der Berichterstattung durch ein Gremium unabhängiger Persönlichkeiten vor.
Zu Ziffer 3 der Mitteilung
- 3. Der Bundesrat begrüßt ausdrücklich die Aufnahme der Gemeinschaftsgrundrechte in Teil II des Verfassungsvertrags. Damit wird die schon aktuell bestehende Werteorientierung der Gemeinschaft nochmals in eindrucksvoller Weise nach außen hin dokumentiert. Obwohl der Bundesrat davon ausgeht, dass zwischen den einzelnen Gemeinschaftsgrundrechten grundsätzlich keine Wertigkeiten bzw. Rangstufen bestehen, so befürwortet er doch eine Beschränkung des Handlungsauftrags der Agentur.
Nach Auffassung des Bundesrates sollte sich diese mit den Gemeinschaftsgrundrechten primär unter dem Aspekt der Beziehungen des Einzelnen zu EU-Organen bzw. den Mitgliedstaaten befassen. Eine darüber hinausgehende Einbeziehung auch aller sonstigen sozialen Beziehungen zwischen Einzelnen in den Handlungsauftrag der Agentur dehnt deren Aufgabenbereich zu sehr aus.
Zu Ziffer 4 der Mitteilung
- 4. Der Bundesrat stimmt der Auffassung der Kommission zu. Die Tätigkeit der Agentur sollte räumlich ebenso wie sachlich auf den Geltungsbereich der EU-Grundrechtecharta begrenzt bleiben. Durch eine Ausweitung des Mandats auf Drittstaaten würde der sachliche Zusammenhang der Tätigkeit der Agentur mit den Regelungen des Artikels 6 Abs. 1 und 2 EUV und der EU-Grundrechtecharta sowie mit den Maßnahmen und Politiken der Gemeinschaft aufgelöst.
Die Agentur würde in diesem Fall zu einem Instrument der Außenpolitik der Union. Für ein derartiges Mandat bietet der EGV keine Rechtsgrundlage.
Zu Ziffer 5 der Mitteilung
- 5. Der Bundesrat stimmt der Auffassung der Kommission zu, dass allenfalls in der Sammlung und Analyse objektiver, verlässlicher und vergleichbarer Angaben auf EU-Ebene die Hauptaufgabe einer Agentur für Grundrechte liegen könnte. Der Bundesrat fordert für diesen Fall nachdrücklich ein aktives Vorgehen der Agentur nach dem Muster der derzeitigen Beobachtungsstelle für Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Keinesfalls dürfen durch die Einrichtung der Agentur für Grundrechte die Behörden der Mitgliedstaaten zur Erstellung regelmäßiger Sachstandsberichte gegenüber der Agentur verpflichtet werden. Der durch solche regelmäßige Berichtspflichten gegenüber der Agentur erzielbare Vorteil eines kontinuierlichen Follow-up´s steht in keinem Verhältnis zu der hierdurch verursachten Mehrbelastung für die Verwaltungen der Mitgliedstaaten. Darüber hinaus stünden solche regelmäßigen Berichtspflichten auch im klaren Widerspruch zur Neuausrichtung der Instrumente der Lissabon-Strategie, insbesondere der aktuellen Deregulierungs-Initiative der niederländischen Präsidentschaft. Sie würden das vom Bundesrat ausdrücklich unterstützte Bestreben zur Entschlackung des EU-Rechts von unnötigen Belastungen für die Verwaltungen konterkarieren.
Die aus den selbstgesammelten Informationen erarbeiteten Stellungnahmen der Agentur sollten nicht in Form regelmäßiger umfassender Berichte erfolgen, sondern auf die spezifischen Informationsbedürfnisse der EU-Organe und der Mitgliedstaaten abgestellt sein und in der Regel nur auf Anforderung abgegeben werden. Damit würde der Gefahr der Lieferung überflüssiger Informationen, die den Adressaten bereits aus anderer Quelle zur Verfügung stehen, vorgebeugt und die Arbeitseffizienz der Agentur erhöht. Bei der Ausarbeitung einer Kommunikationsstrategie für den Kontakt mit NRO sollte darauf geachtet werden, überschneidungen mit der Tätigkeit und den Informationsangeboten anderer internationaler und nationaler Einrichtungen zum Schutz der Menschenrechte nach Möglichkeit zu vermeiden.
Zu Ziffer 7
- 6. Der Bundesrat stimmt der Kommission zu, soweit sie die Notwendigkeit einer engen Zusammenarbeit mit dem Europarat und den sonstigen bestehenden Einrichtungen zum Schutz der Grundrechte betont. Ineffiziente Doppelarbeit, insbesondere bei der Informationssammlung und -auswertung, ist zu vermeiden. Daher muss ein umfassender Informationsaustausch zwischen den genannten Einrichtungen gewährleistet sein, der Vorrang gegenüber einer (erneuten) Informationsbeschaffung bei den Mitgliedstaaten hat. Mehrfachbefragungen und Mehrfachberichte der Mitgliedstaaten zu denselben Themen würden zu unnötigem Verwaltungsaufwand und unnötigen Kosten führen.
Die Aufgabenstellung der Agentur deckt sich weit gehend mit der des bestehenden Netzes unabhängiger Sachverständiger. Eine parallele Tätigkeit beider Strukturen wäre daher nicht sachgerecht. In Abstimmung mit dem Europäischen Parlament sollte die Integration des Sachverständigennetzes in das Informationssammlungs- und Analysenetzwerk der Agentur angestrebt werden.
Die Agentur könnte dann in ähnlicher Weise auf die Berichte und Beiträge der Sachverständigen zurückgreifen wie die bestehende Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit im Rahmen des Netzes RAXEN mit den nationalen Kontaktstellen zusammenarbeitet und zugleich die Koordination der Tätigkeit der Sachverständigen übernehmen.
Zu Ziffer 8
- 7. Der Bundesrat teilt im Wesentlichen die Vorstellungen der Kommission zur Struktur der Agentur. Da es zum Auftrag der Agentur gehören soll, die Tätigkeit der Gemeinschaftsorgane unter dem Blickwinkel der EU-Grundrechtecharta kritisch zu beobachten, ist ein Status der Unabhängigkeit gegenüber der Kommission hilfreich.
Der Bundesrat teilt die Forderung der Kommission nach einer eng begrenzten finanziellen und personellen Ausstattung der Agentur für Grundrechte. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass zumindest während einer zweijährigen Erprobungsfrist nichts am derzeitigen finanziellen und personellen Zuschnitt der bisherigen Stelle für die Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit verändert werden sollte. Erst nach Ablauf dieser Übergangsfrist kann beurteilt werden, ob die Aufgabenveränderung in der Praxis überhaupt zu einer erhöhten Belastung der Agentur geführt hat. In Anbetracht der EU-weit angespannten Wirtschaftslage sind weitere (auch nur mittelbare) Haushaltsbelastungen für die Mitgliedstaaten so weit als möglich zu vermeiden.
Die Einrichtung eines wissenschaftlichen Beirats der Agentur erscheint unnötig, sofern die Agentur (nach dem Muster von RAXEN) im Rahmen von Netzwerken mit bestehenden Forschungseinrichtungen und Sachverständigen in den Mitgliedstaaten kooperiert und Informationen austauscht. Dies gilt insbesondere, falls die Integration des bestehenden Netzes unabhängiger Sachverständiger in das Netzwerk der Agentur gelingt. Der Agentur stünde mit diesen Netzwerken in ausreichendem Maß wissenschaftlicher Sachverstand zur Begleitung ihrer Arbeit zur Verfügung.