942. Sitzung des Bundesrates am 26. Februar 2016
A
- 1. Der Rechtsausschuss empfiehlt dem Bundesrat, zu dem Gesetzentwurf gemäß Artikel 76 Absatz 2 des Grundgesetzes wie folgt Stellung zu nehmen:
Zu Artikel 1 Nummer 4 - neu - (§ 72 Absatz 4 Satz 1a - neu - und 1b - neu -, Satz 3 bis Satz 5 AufenthG)
Dem Artikel 1 ist folgende Nummer anzufügen:
'4. § 72 Absatz 4 wird wie folgt geändert:
- a) Nach Satz 1 werden folgende Sätze eingefügt:
"Die Staatsanwaltschaft erklärt sich bei vollzogener Freiheitsentziehung nach dem Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit binnen einer Woche nach Eingang der Anfrage der zuständigen Ausländerbehörde zur Frage des Einvernehmens. Nach Ablauf der Frist wird das Einvernehmen vermutet."
- b) Die bisherigen Sätze 3 bis 5 werden aufgehoben.'
Begründung:
Dem § 72 Absatz 4 AufenthG wurden durch das Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung vom 27. Juli 2015 die Sätze 3 bis 5 angefügt. Danach ist das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft in bestimmten Fällen nicht mehr Voraussetzung für eine Ausweisung oder Abschiebung eines Ausländers, gegen den öffentliche Klage erhoben oder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet ist. Bei Sachverhalten, die dem dort aufgeführten Deliktskatalog unterfallen, kann nunmehr die Ausländerbehörde die Entscheidung darüber treffen, ob wegen des geringen Unrechtsgehalt einer Straftat das Strafverfolgungsinteresse zurücktritt und daher auf die Herstellung des Einvernehmens mit der Staatsanwaltschaft generell verzichtet werden kann.
Diese Regelung war im Gesetzentwurf der Bundesregierung (vgl. BR-Drucksache 642/14 (PDF) ) noch nicht enthalten. Sie wurde - in weniger weitgehender Form - vom Ausschuss für Innere Angelegenheiten des Bundesrates im sogenannten ersten Durchgang im Bundesrat vorgeschlagen (vgl. BR-Drucksache 642/1/14, Ziffer 35), fand aber in die Stellungnahme des Bundesrates keinen Eingang. Erst in den Beratungen des Deutschen Bundestages wurde auf einen Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD im Innenausschuss (vgl. BT-Drucksache 18/5420) hin die jetzige Fassung beschlossen. Im sogenannten zweiten Durchgang im Bundesrat war der Rechtsausschuss nicht mehr beteiligt, so dass die Justizressorts der Länder in ihrer Eigenschaft als Mitglieder des Rechtsausschusses keine Möglichkeit mehr hatten, sich im Gesetzgebungsverfahren zu der Neuregelung des § 72 Absatz 4 AufenthG zu verhalten.
Die Regelung begegnet erheblichen Bedenken.
Es bestehen bereits grundsätzliche Zweifel, ob den im ausländerrechtlichen Verfahren zuständigen Behörden die Entscheidung über eine (faktische) Zurückstellung des Strafverfolgungsinteresses und die Bewertung des Unrechtsgehalts von Straftaten übertragen werden sollte. Nach § 152 Absatz 1 StPO ist allein die Staatsanwaltschaft berufen, über die Erhebung der öffentlichen Klage zu entscheiden. Danach ist auch weiterhin ein Einvernehmen mit der Staatsanwaltschaft unerlässlich. Auch die im Gesetzgebungsverfahren zum Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung zur Begründung der Anfügung der Sätze 3 bis 5 in § 72 Absatz 4 AufenthG angeführte Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG (vgl. BT-Drucksache 18/5420, Seite 28) steht dem nicht entgegen. Auch die dortige Prämisse des Vorrangs der Durchsetzung der Ausreisepflicht vor der Strafverfolgung führt nicht dazu, dass begangene Straftaten außerhalb des Ausländerrechts nicht mehr verfolgt werden könnten.
Jenseits der grundsätzlichen Bedenken gegen eine Übertragung dieser Entscheidung auf die Ausländerbehörden überzeugen die in § 72 Absatz 4 Satz 4 AufenthG geregelten Kautelen jedoch in verschiedener Hinsicht nicht.
Zunächst ist die mit dem abschließenden Deliktskatalog in § 72 Absatz 4 Satz 5 zweiter Halbsatz AufenthG vorgenommene pauschale Einstufung der aufgeführten Tatbestände als Straftaten mit geringem Unrechtsgehalt nicht hinnehmbar. Straftaten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von fünf Jahren bedroht sind, werden nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts abstrakt als Fälle mittlerer Kriminalität eingeordnet (vgl. NJW 2012, Seite 833), nach Auffassung des Gesetzgebers sogar als Fälle schwerer Kriminalität (vgl. BT-Drucksache 016/5846, Seite 40).
Das Vergehen des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte erfasst auch diesseits der in der Strafzumessungsregel des § 113 Absatz 2 StGB geregelten besonders schweren Fälle heterogene und auch in der Intensität der Rechtsgutsverletzung sehr unterschiedliche Erscheinungsformen. Tathandlung ist der Einsatz von oder die Drohung mit Gewalt, die jedenfalls auch ohne Erfüllung der besonderen Merkmale des § 113 Absatz 2 StGB nicht kategorisch als Straftaten mit nur geringem Unrechtsgehalt eingestuft werden können. Dass eine solche Einstufung - auch im Hinblick auf den Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung - widersprüchlich wäre, zeigt sich auch in dem vorliegenden Gesetzentwurf. Der Gesetzentwurf soll in Fällen von Straftaten mit "erheblichem" Ausmaß (vgl. die Ausführungen der Bundesregierung im Vorblatt der BR-Drucksache 043/16 (PDF) im Abschnitt "A. Problem und Ziel") bzw. bei "gravierenden" Straftaten (vgl. die Begründung Allgemeiner Teil im Abschnitt "I. Zielsetzung und Notwendigkeit der Regelungen" der BR-Drucksache 043/16 (PDF), Seite 3) dazu dienen, die Ausweisung krimineller Ausländer zu erleichtern und die rechtliche Anerkennung als Asylsuchender konsequenter versagen zu können.
Zu den in § 54 Absatz 1 Nummer 1a, Absatz 2 Nummer 1a und § 60 Absatz 8 Satz 3 AufenthG-E aufgeführten Katalogtaten von "erheblichem" Ausmaß" bzw. zu den "gravierenden" Katalogtaten gehört aber auch der Tatbestand des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte gemäß § 113 StGB. Es ist jedoch widersprüchlich, in § 72 Absatz 4 AufenthG auf das Einvernehmen mit der Staatsanwaltschaft auf Grundlage der Annahme zu verzichten, jeglicher Fall des § 113 StGB sei eine Straftat mit geringem Unrechtsgehalt, andererseits in § 54 Absatz 1 Nummer 1a und § 54 Absatz 2 Nummer 1a AufenthG-E eine Tat nach § 113 StGB als erheblich oder gravierend zu bezeichnen und hiermit ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse zu rechtfertigen, wenn diese Tat zur Verurteilung zu einem Jahr Freiheits- oder Jugendstrafe führt.
§ 60 Absatz 8 Satz 3 AufenthG-E geht im Hinblick auf Artikel 33 Absatz 2 der Genfer Flüchtlingskonvention bei einer Verurteilung wegen einer Tat nach § 113 StGB zu einem Jahr Freiheits- oder Jugendstrafe sogar vom Bestehen einer Gefahr für die Allgemeinheit aufgrund des Vorliegens eines besonders schweren Vergehens aus. Dies ist jedoch vollständig konträr zur pauschalen Einstufung von Delikten nach § 113 StGB als solche von geringem Unrechtsgehalt in § 72 Absatz 4 AufenthG. Gerade bei der kontrovers diskutierten und möglicherweise obergerichtlich zu klärenden Frage, inwieweit eine Verurteilung zu einem Jahr Freiheits- oder Jugendstrafe den Anforderungen des Artikels 33 Absatz 2 der Genfer Flüchtlingskonvention genügt (Vorliegen einer Gefahr für die Allgemeinheit aufgrund eines besonders schweren Vergehens), erscheint ein in sich widersprüchliches Gesetz kontraproduktiv.
Gleiches gilt auch für Fälle der einfachen vorsätzlichen Körperverletzung, die zwar im Einzelfall eine nur niedrigschwellige Rechtsgutsverletzung sein, nicht aber generell und abstrakt als solche qualifiziert werden kann. Der zu § 113 StGB bezeichnete Widerspruch in der Begründung des Gesetzentwurfes besteht auch hier. Auch die Körperverletzung ist in § 54 Absatz 1 Nummer 1a,
Absatz 2 Nummer 1a und § 60 Absatz 8 Satz 3 AufenthG-E als Katalogtat von "erheblichem" Ausmaß bzw. als "gravierende" Straftat aufgeführt und wird gleichzeitig in § 72 Absatz 4 AufenthG als Straftat mit geringem Unrechtsgehalt bezeichnet.
Bei den Eigentums- und Vermögensdelikten der §§ 242, 263 StGB sind zwar durchaus mindere Zusammenhangstaten denkbar, etwa wenn diese sich auf die Fortbewegung während der Flucht und Einreise, die Wegnahme von Lebensmitteln zur Eigenversorgung oder Ähnliches erstrecken. Auch eine generelle Ausnahme von Diebstahls- und Betrugshandlungen von der Vorgabe des Einvernehmens mit der Staatsanwaltschaft erscheint angesichts der Formenvielfalt dieser Vergehen nicht hinnehmbar, da diese auch als Zusammenhangstat mit massiven Rechtsgutsverletzungen einhergehen können.
Umgekehrt ist auch in der Logik der Vorschrift wenig plausibel, warum zwar neben den Straftatbeständen des § 95 AufenthG und des § 9 FreizügG/EU Delikte des StGB aufgezählt werden, das gesamte Nebenstrafrecht im Übrigen aber nicht in den Blick genommen wird.
Zu denken wäre hier beispielsweise an den Tatbestand des Fahrens ohne Fahrerlaubnis gemäß § 21 StVG.
Auch die in § 72 Absatz 4 Satz 5 AufenthG vorgesehene Rückausnahme in Fällen, in denen ein Strafantrag gestellt wurde, wirft Fragen auf. Bei absoluten Antragsdelikten setzt die Strafverfolgung ohnehin einen Strafantrag voraus - § 72 Absatz 4 Satz 1 AufenthG geht von einer bereits erhobenen öffentlichen Klage oder zumindest von einem eingeleiteten strafrechtlichen Ermittlungsverfahren aus, weswegen zum Beispiel ein Fall des in § 72 Absatz 4 Satz 5 AufenthG genannten § 123 StGB denklogisch ausgeschlossen ist. Bei den im Katalog enthaltenen relativen Antragsdelikten (§ 223 sowie die §§ 242 und 263 in den Fällen der §§ 248a, 265a und 303 StGB) muss gesehen werden, dass eine Verfolgung unbesehen der Opferinteressen auch ohne Antrag gerade ein besonderes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung voraussetzt, das nach der Vorschrift des § 72 Absatz 4 Satz 5 AufenthG dazu im Widerspruch als generell nicht indiziert angenommen wird.
Schließlich erscheint es kaum hinnehmbar, dass der Verzicht auf ein Einvernehmen ohne Berücksichtigung etwaiger Vorstrafen des Beschuldigten, laufender anderer Strafverfahren, möglicherweise wegen gravierender Straftaten, oder erkannter mehrfacher Einreisen trotz bereits erfolgter Zurückweisung, Ab- oder Zurückschiebung vorgesehen ist.
Es ist bisher nicht bekannt geworden, dass ausländerrechtliche Maßnahmen aufgrund einer nicht zeitnahen Herstellung des Einvernehmens zwischen Ausländerbehörde und Staatsanwaltschaft gescheitert oder wesentlich verzögert worden sind.
Nach der Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung (vgl. BR-Drucksache 642/14 (PDF) ) ging es der Bundesregierung vordringlich um eine Beschleunigung des Aufenthaltsbeendigungsverfahrens.
Diesem Ansinnen kann aber genauso und im Zweifel sogar besser durch eine klare zeitliche Vorgabe für die Erteilung des Einvernehmens sowie eine (widerlegbare) Vermutung des Einvernehmens bei Überschreitung der gesetzlich bestimmten Frist Rechnung getragen werden. Auf der Grundlage des vermuteten Einvernehmens könnte die Ausländerbehörde das Abschiebungsverfahren eines in Abschiebehaft befindlichen Ausländers weiter betreiben, die Staatsanwaltschaft hätte darüber hinaus auch nach Ablauf der Wochenfrist noch die Möglichkeit, ihr Einvernehmen nachträglich - etwa wegen veränderter Umstände und neuer Erkenntnisse - zu verweigern.
Durch eine solche Regelung würden auch die Ausländerbehörden von der Prüfung zum Teil schwieriger juristischer Fragen, die zudem nicht in ihren Kompetenzbereich fallen, entlastet. Insbesondere die Frage, ob es sich um eine begleitende Straftat im Sinne des § 74 Absatz 4 Satz 4 AufenthG handelt, müsste durch die Ausländerbehörden nicht mehr entschieden werden. Die Erfahrungen in der Praxis haben gezeigt, dass die bestehende Regelung bei den Ausländerbehörden immer wieder zu Unsicherheiten führt, ob nun ein Fall vorliegt, in welchem die Staatsanwaltschaft um die Erteilung des Einvernehmens gebeten werden muss oder nicht. Dieser Prüfungsaufwand würde mit der vorgeschlagenen Neuregelung entfallen.
Weiterhin könnten durch eine solche "Fristenregelung" unerwünschte Nebeneffekte des bisher bestehenden Rechtszustands vermieden werden.
Zu denken wäre beispielsweise an den Fall einer beabsichtigten Abschiebung eines Ausländers, dem nach Kenntnis der Ausländerbehörde allein ein Verstoß gegen das Aufenthaltsgesetz und ein damit zusammenhängendes Urkundsdelikt zur Last liegt, gleichzeitig aber ein laufendes Ermittlungs- oder Strafverfahren gegen den Ausländer wegen einer gravierenden Straftat besteht, von welchem die Ausländerbehörde bisher - trotz § 87 Absatz 4 AufenthG - keine Kenntnis erlangt hat. Insbesondere in Fällen, in denen direkt bei der Staatsanwaltschaft Anzeige erstattet wurde und das Verfahren zunächst dort in Bearbeitung ist, wird es immer einen gewissen Zeitraum in Anspruch nehmen, bis die Ausländerbehörde gemäß § 87 Absatz 4 AufenthG von der Einleitung des Ermittlungsverfahrens erfährt; sei es direkt von der Staatsanwaltschaft, sei es von der Polizei nach Beauftragung durch die Staatsanwaltschaft. Es sind durchaus Fälle denkbar, in denen gegen den Ausländer wegen gravierender Delikte - beispielsweise Sexualstraftaten - ermittelt wird, die Ausländerbehörde, die im Übrigen auch keinen Zugriff auf das zentrale staatsanwaltschaftliche Register hat, ohne Beteiligung der Staatsanwaltschaft hiervon aber keine zeitnahe Kenntnis erlangt. Eine Abschiebung eines Ausländers, dem beispielsweise ein gravierendes Sexualdelikt zur Last liegt und welcher gegebenenfalls mit einer langjährigen Haftstrafe zu rechnen hätte, erschiene aber grob unbillig. Solche Fälle könnten mit der vorgeschlagenen Regelung vermieden werden.
Zuletzt erscheint die strenge zeitliche Vorgabe für die Erteilung des Einvernehmens auch nur für die besonders eiligen Fälle des Freiheitsentzugs (Abschiebungshaft, Ausreisegewahrsam) gerechtfertigt, da in anderen Fällen eine solche Eile - angesichts der Tatsache, dass Fälle einer verzögerten Abschiebung aufgrund nicht erteilten Einvernehmens der Staatsanwaltschaft bisher nicht bekannt geworden sind - nicht geboten erscheint.
B
- 2. Der federführende Ausschuss für Innere Angelegenheiten empfiehlt dem Bundesrat gegen den Gesetzentwurf gemäß Artikel 76 Absatz 2 des Grundgesetzes keine Einwendungen zu erheben.