Der Bundesrat hat in seiner 809. Sitzung am 18. März 2005 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat anerkennt das Bemühen der Kommission, eine Diskussion über einen einheitlichen Rahmen für eine gemeinschaftliche Regelung der Einreise und des Aufenthalts Drittstaatsangehöriger zur Ausübung einer unselbständigen oder selbständigen Tätigkeit zu führen. Er begrüßt die Absicht der Kommission, dabei die Vorbehalte und Bedenken zu berücksichtigen, die die Mitgliedstaaten bei den Beratungen über den Richtlinienvorschlag von 2001 - KOM (2001) 386 endg. - zum Ausdruck gebracht haben.
- 2. Der Bundesrat bekräftigt seine Position, dass eine Gemeinschaftskompetenz zur Regelung des Zugangs von Drittstaatsangehörigen zum Arbeitsmarkt nicht besteht und nimmt insoweit auf seinen Beschluss vom 1. März 2002 Bezug (BR-Drucksache 958/01(Beschluss) ). Er begrüßt die Bitte der Bundesregierung an die Kommission, frühzeitig und deutlich klarzustellen, wie sie in rechtlicher Hinsicht die Grenzen der Gemeinschaftszuständigkeit nach dem künftigen Verfassungsvertrag bei Fragen des Arbeitsmarktzugangs zieht.
- 3. Der Bundesrat begrüßt weiter die Auffassung der Bundesregierung, dass Stellungnahmen der Mitgliedstaaten zum Grünbuch wie auch zu weiteren Schritten, z.B. dem Strategischen Plan, auf Grund der Erfahrungen bei der Umsetzung der sektoralen Richtlinien stets aktualisierbar bleiben müssen.
- 4. Der Bundesrat erkennt, dass die Gestaltung des Zugangs zum jeweiligen Arbeitsmarkt durch andere Mitgliedstaaten auch Auswirkungen auf Deutschland hat, etwa im Hinblick auf den Status daueraufenthaltsberechtigter Personen oder im Wettbewerb um besonders qualifizierte Zuwanderungsinteressenten. Nur im Hinblick darauf sind gemeinschaftsrechtliche Regelungen diskutabe1. Der Bundesrat ist daher der Auffassung, dass mit dieser Maßgabe inhaltlicher Einfluss auf den von der Kommission angestoßenen Diskussionsprozess genommen werden sollte und bittet die Bundesregierung, dafür Sorge zu tragen, dass im weiteren Diskussions- und Beratungsverlauf vorbehaltlich weiterer Ergänzungen und Präzisierungen folgende Standpunkte, die dem Aufbau des Grünbuchs folgen, Berücksichtigung finden:
- 5. Die Prämissen des Grünbuchs, wonach der Bedarf des EU-Arbeitsmarkts im Hinblick auf die demographische Entwicklung nur durch eine kontinuierliche Einwanderung gedeckt werden könne und die Sicherung des Wohlstands eine kontinuierliche Einwanderung erfordere, da sie vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung das Wirtschaftswachstum, das Funktionieren des Binnenmarkts und die Wettbewerbsfähigkeit von EU-Unternehmen erhalte, begegnen in ihrer Pauschalität Bedenken.
So würde ein vollständiger Ausgleich der bis 2050 absehbaren Bevölkerungsschrumpfung in Deutschland eine Zuwanderung von insgesamt bis zu 23 Mio. Personen, d.h. mehr als einem Viertel der heute im Land lebenden Bevölkerung, notwendig machen. Noch drastischer fiele der benötigte Umfang an Zuwanderung aus, wenn der so genannte Alterslastquotient, also das Verhältnis der 15- bis 64-jährigen zu den über 65-jährigen konstant gehalten werden soll: Nach Prognosen der UN wäre danach im Zeitraum 1995 bis 2050 eine Zuwanderung von 188,5 Mio. Personen erforderlich, das entspricht dem 2,3-fachen der heute in Deutschland lebenden Bevölkerung.
Dass angesichts derartiger Größenordnungen Immigration als alleiniges Instrument zur Kompensation der demographischen Schrumpfung und Alterung nicht ernsthaft in Betracht kommen kann, liegt schon wegen der damit verbundenen Integrationsprobleme auf der Hand.
- 6. Zudem geht das Grünbuch von einem (nicht existierenden) einheitlichen EU-Arbeitsmarkt aus, trägt den mit der angestrebten verstärkten Zuwanderung verbundenen Problemen nicht angemessen Rechnung und vernachlässigt die Möglichkeiten der Mobilisierung des EU-heimischen Arbeitskräftepotenzials, insbesondere auch mit Blick auf die Beitrittsstaaten sowie die mangelnde Qualifikation der bisher nach Deutschland und in die EU zugewanderten Drittstaatenangehörigen im Hinblick auf den höchst spezialisierten und differenzierten Bedarf auf den Arbeitsmärkten der EU-Staaten. Gerade Deutschland liegt mit einer allgemeinen Frauen-Erwerbsquote von rund 43 %, in der Altersgruppe der 60 bis 65-jährigen Frauen sogar nur 17 %, und einer Erwerbsquote der Männer in der Altersgruppe der 60 bis 65-jährigen von 35 % im europäischen Vergleich deutlich zurück. Der Bundesrat lehnt zudem das politische Vorverständnis ab, dass die illegale Zuwanderung ohne europarechtliche Regelungen zur Wirtschaftsmigration ansteigt.
- 7. Ziel muss es daher zunächst sein, das verfügbare inländische Arbeitskräftepotenzial soweit als möglich auszuschöpfen. Dies ist auch ein wichtiger Beitrag dazu, das Wachstum und die Binnennachfrage zu stimulieren, die Sozialausgaben zu senken und die von der Bundesregierung verursachten finanziellen Belastungen aus der hohen Verschuldung des Bundes und den bisher ungenügend reformierten sozialen Sicherungssystemen auf möglichst viele Schultern zu verteilen.
- 8. Unabhängig davon liegt der Zugang von Hochqualifizierten und Spitzenkräften zum deutschen und europäischen Arbeitsmarkt im nationalen wie im europäischen Interesse und ist daher so flexibel und unbürokratisch als möglich zu gestalten.
Grad der Vereinheitlichung
- 9. Nach Auffassung des Bundesrates sollten vereinheitlichte Gemeinschaftsregeln für die Zulassung zum Arbeitsmarkt allenfalls sukzessive und zunächst unter Beschränkung auf einzelne gemeinsame Standards wie z.B. Definitionen und Verfahren erfolgen, wobei zunächst die Erfahrungen mit den verabschiedeten Richtlinien abzuwarten wären. Eine Verständigung auf bestimmte Kernvorgaben erleichtert die einheitliche Rechtsanwendung und -auslegung in den Mitgliedstaaten. Im Übrigen muss gewährleistet sein, dass die Mitgliedstaaten auch innerhalb gemeinschaftlicher (Rahmen-)Regelungen die Zuwanderung entsprechend ihren besonderen nationalen Arbeitsmarktbedürfnissen steuern können. In diesem Zusammenhang begrüßt der Bundesrat die auch im "Haager Programm" enthaltene Aussage im Grünbuch, dass es das Recht der Mitgliedstaaten ist, festzulegen, wie viele Drittstaatsangehörige aus Drittländern in ihr Hoheitsgebiet einreisen dürfen, um dort als Arbeitnehmer oder Selbständige Arbeit zu suchen.
- 10. Unter der Prämisse, dass die Mitgliedstaaten für die Regelungen zuständig sind, erscheint dem Bundesrat hinsichtlich der Zulassungsverfahren nur ein sektorbezogener Ansatz realistisch. Nur über ein gezielt auf bestimmte Mangelberufe bzw. Mangelqualifikationen zugeschnittenes Vorgehen lässt sich eine arbeitsmarktkonforme und gesellschaftsverträgliche Steuerung der Zuwanderung erreichen. In diesem Rahmen könnten die von der Kommission angesprochenen Zuwanderergruppen (z.B. Saisonarbeitnehmer, innerbetrieblich versetzte Arbeitnehmer, besonders qualifizierte Zuwanderer) angemessen berücksichtigt werden. Der alternativ vorgeschlagene horizontale Ansatz birgt die Gefahr einer erheblichen Ausweitung der Zuwanderung.
- 11. Das von der Kommission vorgeschlagene "gemeinsame Eilverfahren" bedarf noch näherer Erläuterung zu Details hinsichtlich Voraussetzungen und Verfahren. Im Allgemeinen wird allerdings eine Mehrung eigenständiger und paralleler Zulassungsverfahren zum Arbeitsmarkt die Unübersichtlichkeit für alle Beteiligten erhöhen, was mit gemeinschaftsrechtlichen Regelungen im Grunde vermieden werden soll.
Zulassungsverfahren bei unselbständiger Erwerbstätigkeit
- 12. Nach Auffassung des Bundesrates muss der grundsätzliche Arbeitsmarktvorrang EU-angehöriger Arbeitnehmer und derjenigen Ausländer, die ihnen hinsichtlich der Arbeitsaufnahme bereits bislang rechtlich gleichgestellt sind, weiterhin grundlegendes Prinzip der Zuwanderung in den Arbeitsmarkt sein. Künftige Gemeinschaftsregeln zur Arbeitsmigration sollten über diesen Bestand an Gemeinschaftspräferenz nur zur Erzielung effektiven Mehrwerts hinausgehen. Die Ausdehnung der Gemeinschaftspräferenz auch auf Drittstaatsangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnhaft sind als dem, in dem ein Arbeitskräftemangel auftritt, oder auf Drittstaatsangehörige, die vor der Rückkehr in ihr Herkunftsland bereits in der EU erwerbstätig gewesen sind, begegnet daher Bedenken. Zudem würde die Privilegierung dieser Personengruppen zu Lasten der Flexibilität bei der Auswahl drittstaatsangehöriger Arbeitskräfte gehen. Nach Auffassung des Bundesrates ist auch zweifelhaft, ob bei diesen Personengruppen, wie von der Kommission unterstellt, die Integration tatsächlich bereits in ausreichendem Maße eingeleitet ist, zumal der "Voraufenthalt" nicht gerade in dem Mitgliedstaat stattgefunden hat oder haben muss, in den nunmehr zugewandert werden soll.
- 13. Der horizontale Ansatz erweist sich auch insoweit als zu undifferenziert. Im Sinne einer sektoralen Betrachtungsweise, wie er auch den Regelungen im Aufenthaltsgesetz zum Zweck der Erwerbstätigkeit zu Grunde liegt, wäre allenfalls eine Einbeziehung von Personen- bzw. Berufsgruppen in die Gemeinschaftspräferenz denkbar, bei deren Zulassung keine nachteiligen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt zu befürchten sind, insbesondere keine Verdrängungseffekte, bzw. an deren Beschäftigung ein gesteigertes arbeitsmarktpolitisches Interesse besteht, z.B. bei bestimmten Mangelberufen oder Hochqualifizierten. Jedenfalls müssen dabei eindeutige und eng begrenzte Ausnahmefälle definiert werden.
- 14. Der Nachweis eines konkreten Arbeitsplatzangebots kann für sich allein nicht Bedingung für die Zulassung zum Arbeitsmarkt sein. Andernfalls bestünde die Gefahr einer weit gehend ungesteuerten und nicht kontrollierbaren Zuwanderung, da greifbare Zuwanderungsvoraussetzungen nicht mehr bestünden.
- 15. Eine nochmalige Überprüfung des Arbeitsmarktvorrangs nach Ablauf eines Zeitvertrags kann in geeigneten Fällen entbehrlich sein. Ein Verzicht auf eine erneute Prüfung ist etwa denkbar, wenn das Arbeitsverhältnis beim selben Arbeitgeber fortgeführt werden soll und die Beschäftigung nicht bestimmten zeitlichen Höchstbefristungen unterliegt.
- 16. Die zur Diskussion gestellte EU-weite Ausschreibung freier Stellen wirft erhebliche Praktikabilitätsprobleme auf. Die Frage, ob gemeinschaftspräferierte Arbeitskräfte für eine freie Stelle zur Verfügung stehen, wird wohl vorerst primär weiterhin von den nationalen Arbeitsverwaltungen zu klären sein.
- 17. Der Bundesrat lehnt sowohl das "EU-Auswahlsystem" als auch "Genehmigungen für Arbeitsuchende" ab. Zur Erhaltung der Steuerungsmöglichkeiten darf eine Arbeitsmarktzulassung nur bei einem konkreten Arbeitsplatzangebot und nach individueller Arbeitsmarktprüfung und ohne Anspruch auf Genehmigung erfolgen. Erleichterungen, wie z.B. bei Mangelberufen oder Hochqualifizierten, müssen auf eng begrenzte Ausnahmen beschränkt bleiben. Ein "EU-Auswahlsystem" - als eventuell paralleles Zulassungsverfahren - sowie eine "Genehmigung für Arbeitsuchende" lassen die Durchbrechung bzw. zumindest eine erhebliche Aufweichung des Grundsatzes der Zuwanderungsbegrenzung befürchten. Deshalb wurde auch von dem zunächst im Zuwanderungsgesetz vorgesehenen Auswahlverfahren nach einem Punktesystem im Vermittlungsverfahren zwischen Deutschem Bundestag und Bundesrat Abstand genommen.
Zulassungsverfahren bei Selbständigen
- 18. Der Bundesrat stellt fest, dass die im Grünbuch vorgeschlagenen Kriterien für eine Zulassung Drittstaatsangehöriger zum Zwecke der selbständigen Erwerbstätigkeit im Aufenthaltsgesetz bereits im Wesentlichen enthalten sind. Dies gilt auch für das Erfordernis eines Nutzens der wirtschaftlichen Betätigung des Selbständigen für das jeweilige Aufnahmeland, der jeweils im Einzelfall von den nationalen Behörden zu bemessen ist. Soweit nationale Spielräume bei der Auslegung der unbestimmten Zulassungstatbestände nicht in Frage gestellt werden, sind gemeinsame EU-Regeln zwar nicht unbedingt erforderlich, aber ggf. hinnehmbar.
- 19. Erleichternde Sonderregeln für Selbständige, die kürzer als ein Jahr in der EU tätig sein wollen, lassen keinen Mehrwert erkennen, zumal mittels "Ketten-Tätigkeiten" Umgehungstatbestände erfüllt werden können.
Anträge auf Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigungen
- 20. Ein einheitliches Antragsverfahren zur Erteilung einer kombinierten Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung auf der Ebene der Mitgliedstaaten ist gegenüber einem dualen Verfahren mit doppelter Antragstellung vorzugswürdig und entspricht der Regelung im Aufenthaltsgesetz.
Wechsel des Arbeitgebers/Sektors
- 21. Einem Wechsel des Arbeitgebers oder des fachlichen und räumlichen Sektors muss nach Auffassung des Bundesrates eine erneute Prüfung der Verfügbarkeit gemeinschaftspräferierter Arbeitskräfte vorausgehen. Zur Vermeidung von Missbrauchsmöglichkeiten muss sich die Arbeitsgenehmigung auf einen bestimmten Arbeitsplatz bei einem bestimmten Arbeitgeber in einer bestimmten Region beziehen. Inhaber der Arbeitsgenehmigung sollte der Arbeitnehmer sein, um ein "Austauschen" der drittstaatsangehörigen Arbeitnehmer ohne erneute Prüfung der Verfügbarkeit gemeinschaftspräferierter Arbeitskräfte zu verhindern und Arbeitnehmerschutzrechte zu wahren.
Rechtsstellung von Arbeitnehmern aus Drittstaaten
- 22. Das Grünbuch listet anschaulich die Arbeitnehmern aus Drittstaaten bereits zustehenden Rechte auf, etwa zur sozialen Sicherheit, den Langzeitaufhältigen, der Antidiskriminierung und der Gesundheit. Die Gewährung weiterer besonderer Rechte erscheint vor diesem Hintergrund nicht erforderlich, insbesondere nicht auf gemeinschaftsrechtlicher Grundlage.
- 23. Fragen des Familiennachzugs sollten grundsätzlich nicht mit der Zulassung zum Arbeitsmarkt verknüpft werden. Hierzu gibt es eigene Instrumente, die es zu nutzen gilt. Diskussionen im Zusammenhang mit den beschlossenen Richtlinien haben gezeigt, dass entsprechende Regelungsversuche eine Einigung über die bestehenden Sachfragen erschweren.
- 24. Sofern aber der Zugang zum EU-Arbeitsmarkt unter konsequenter Prüfung der Verfügbarkeit gemeinschaftspräferierter Arbeitskräfte erfolgt und Arbeitnehmern zugute kommt, an deren Beschäftigung ein öffentliches Interesse besteht, begrüßt der Bundesrat insoweit auch Erleichterungen beim Familiennachzug, um Anreize für erwünschte Zuwanderungsinteressenten zu schaffen, sich in der EU wirtschaftlich zu betätigen.
Flankierende Maßnahmen
- 25. Flankierende Maßnahmen zur Erleichterung der Integration von Drittstaatsangehörigen können in Sprachkursen und staatsbürgerlichen Schulungen im Aufnahmeland bestehen. Der Nachweis von Sprachkenntnissen bereits in den Herkunftsländern könnte die Integration sicher positiv beeinflussen. Demgegenüber sind staatsbürgerliche Schulungen im Herkunftsland nicht realistisch.
- 26. Die im Grünbuch in diesem Zusammenhang weiter angesprochenen flankierenden Maßnahmen, wie die Abschwächung der Folgen des "brain drain", Ausgestaltung von Rückkehrregelungen zum Nutzen des Herkunftslands oder Erstattung von Ausbildungskosten sollten nur zurückhaltend verfolgt werden. In einer globalisierten Welt tragen alle Länder - auch die EU-Staaten - neben den Vorteilen auch die Risiken der Arbeitsmigration, die nicht zu Gunsten bestimmter Regionen ausgeschlossen werden können.