900. Sitzung des Bundesrates am 21. September 2012
Der Rechtsausschuss empfiehlt dem Bundesrat, zu dem Gesetz zu verlangen, dass der Vermittlungsausschuss gemäß Artikel 77 Absatz 2 des Grundgesetzes aus folgenden Gründen einberufen wird:
1. Zu Artikel 2 Nummer 2 (§ 145 Absatz 1 Satz 2 und 3 ZPO)
Artikel 2 Nummer 2 ist zu streichen.
Begründung:
Die in Artikel 2 Nummer 2 des Gesetzesbeschlusses vorgesehene Verschärfung der Voraussetzungen, unter denen das Gericht die getrennte Verhandlung verschiedener in einer Klage erhobener Ansprüche anordnen kann, ist zwar gegenüber dem Gesetzentwurf abgeschwächt worden, aber auch in der verbliebenen Form nicht sachgerecht. Eine Anrufung des Vermittlungsausschusses ist in dieser Frage gerechtfertigt, weil die geplante Änderung nicht nur Massenklagen im Bereich des Kapitalanlegerschutzes betrifft, sondern Auswirkungen auf das Zivilprozessverfahren insgesamt hat und damit in seiner Bedeutung weit über die hier zu regelnde Spezialmaterie hinausgeht. Bei der bisherigen Beratung des Gesetzes hat sich gezeigt, dass die in dem Gesetzentwurf der Bundesregierung geplante Änderung des § 145 ZPO unter sachlichen und prozessökonomischen Gesichtspunkten verfehlt ist. Sie sollte angesichts der Bedeutung des § 145 ZPO für eine funktionierende Gerichtspraxis insgesamt unterbleiben.
Bei dem Mittel der Verfahrenstrennung handelt es sich um ein unverzichtbares Instrument der Verfahrenssteuerung und der Ordnung des Prozessstoffs, das dem Prozessgericht nicht ohne Not aus der Hand genommen werden sollte. Auch die Schaffung einer neuen Spezialmaterie (Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz) gebietet die jetzt geplanten und dann unterschiedslos für alle Verfahrensarten nach der Zivilprozessordnung geltenden Beschränkungen bei der Verfahrenstrennung nicht.
Die in diesem Zusammenhang in der Begründung des Gesetzentwurfs beklagte "zu leichtfertige Trennung durch die Gerichte", die sich zum Beleg einzig auf einen auf dem Gebiet des Anlegerschutzes tätigen Rechtsanwalt berufen kann, wird durch die Stellungnahmen der gerichtlichen Praxis in keiner Weise bestätigt. Aus Sicht der gerichtlichen Praxis kann dem nach Aussagen dreier auf dem Gebiet des Bankenrechts erfahrener Vorsitzender Richterinnen und Richter am Kammergericht nur entgegen gehalten werden, dass in der Vergangenheit bei Abtrennungen in Massenverfahren ihrer Erfahrung nach von der Möglichkeit der Verfahrenstrennung in der Regel in sachgerechter, prozessökonomisch sinnvoller, insbesondere verfahrensfördernder Art und Weise Gebrauch gemacht worden ist. Dass dies nicht notwendig stets mit den Interessen eines jeden Beteiligten übereinstimmt, liegt in der Natur der Sache. Die Erfahrungen haben jedenfalls gezeigt, dass in der gerichtlichen Praxis Verfahren mit mehreren hundert Streitgenossen auf einer Seite kaum sinnvoll zu strukturieren sind.
Hierbei ist zu berücksichtigen, dass es sich eben nicht um ein Verfahren handelt, sondern um mehrere hundert unterschiedliche Prozessrechtsverhältnisse, die sich nicht, wie das Musterverfahren, auf die Feststellung gemeinsamer Anspruchsvoraussetzungen beschränken, sondern sich auf jede Voraussetzung und Folge des individuell geltend gemachten Anspruchs erstrecken. Dies gilt umso mehr, wenn die Streitgenossen, wie auf Beklagtenseite in der Regel der Fall, durch eine Vielzahl von Prozessbevollmächtigten vertreten werden, die völlig unterschiedlich vortragen und auch prozesstaktisch unterschiedlich, so z.B. durch die teilweise Erhebung von Widerklagen, vorgehen. Hier ist es prozessökonomisch sinnvoll und deshalb dringend geboten, den Prozessstoff durch Verfahrenstrennungen, gegebenenfalls in Gestalt von Gruppenbildungen (nach Sachverhalten oder auch nur nach den beteiligten Prozessbevollmächtigten) zu strukturieren und damit übersichtlicher zu gestalten. Eine Verfahrensverzögerung ist damit nicht verbunden, im Gegenteil lehrt die Erfahrung der gerichtlichen Praxis, dass nach Erledigung eines oder mehrerer der Einzelverfahren die übrigen Verfahren in aller Regel umso zügiger erledigt werden können. Damit werden, wenn nicht sogar der gesamte ursprüngliche Prozessstoff so doch auf jeden Fall dessen größter Teil, also die Mehrzahl der ursprünglichen Prozessrechtsverhältnisse, deutlich früher entschieden, als durch eine Endentscheidung in einem Massenverfahren, in dem gegebenenfalls mehrere hundert Beweisaufnahmen zu individuellen Anspruchsvoraussetzungen (Kausalität, Anwerbung in einer Haustürsituation, Anlageverhalten, verjährungsbegründende Kenntnis von Anspruchsvoraussetzungen, Finanzierungskosten etc.) durchzuführen sind.
Auch kann es sich im Einzelfall als sinnvoll erweisen, das Verfahren gegen einen Streitgenossen abzutrennen und als "faktisches Musterverfahren" vorab einer Entscheidung zuzuführen. Soweit in der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung davon die Rede ist, es könne eine Verzögerung der abgetrennten Einzelverfahren eintreten, wenn von ihnen nur eines als Musterverfahren gefördert werde, ist dies nicht nachvollziehbar. Eine etwaige Verzögerung beruht in diesen Fällen nicht auf der Verfahrenstrennung, sondern allenfalls auf der vorherigen Durchführung des Musterverfahrens. Sind dagegen die Entscheidungen in den abgetrennten Verfahren von den im Musterverfahren geltend gemachten Feststellungszielen unabhängig, können die abgetrennten Verfahren zügig beendet werden.
Letztlich verbleibt es allein bei dem Argument der Erhöhung des Kostenrisikos durch die Trennung der Verfahren, ein unter dem Gesichtspunkt des Anlegerschutzes sicherlich gewichtiges Argument. Diesem Risiko wird aber bereits das geltende Recht in ausreichender Weise gerecht. Bereits nach geltendem Recht ist die Verfahrenstrennung nicht schrankenlos möglich. Sie ist in das pflichtgebundene Ermessen des Gerichts gestellt. Ist ein sachlicher Grund für die Trennung nicht ersichtlich und bringt sie der Partei nur Nachteile (Erhöhung der Kostenlast, Verlust der Rechtsmittelfähigkeit), so liegt ein Ermessensfehler (BGH, Urteil vom 6. Juli 1995 - I ZR 20/93 -, NJW 1995, 3120) vor, auf den ein Rechtsmittel gegen das daraufhin ergangene Urteil gestützt werden kann. Eine sinnvolle Handhabung des Prozessstoffes durch das Gericht sollte nicht dadurch erschwert und mit Rechtsunsicherheiten belastet werden, dass sie an zusätzliche Voraussetzungen geknüpft wird, die keinen Mehrwert gegenüber der geltenden Rechtslage und einer sich daran anschließenden bewährten Gerichtspraxis bringt. In Übereinstimmung mit der Stellungnahme des Bundesrates zum Gesetzentwurf - vgl. BR-Drs. 851/11(B) , Ziffer 12 - sollte die Vorschrift des § 145 Absatz 1 ZPO daher unverändert bleiben.
2. Zu Artikel 6 Nummer 4 ( § 41a Absatz 4 RVG)
In Artikel 6 Nummer 4 ist § 4 1a Absatz 4 wie folgt zu fassen:
(4) Die Gebühr schulden der Musterkläger sowie die Beigeladenen anteilig. Der jeweilige Anteil bestimmt sich nach dem Verhältnis der Höhe des von dem Kläger geltend gemachten Anspruchs, soweit dieser von den Feststellungszielen des Musterverfahrens betroffen ist, zu der Gesamthöhe der vom Musterkläger und den Beigeladenen des Musterverfahrens in den Prozessverfahren geltend gemachten Ansprüche, soweit diese von den Feststellungszielen des Musterverfahrens betroffen sind. Der Anspruch des Musterklägers oder eines Beigeladenen ist hierbei nicht zu berücksichtigen, wenn er innerhalb eines Monats ab Zustellung des Aussetzungsbeschlusses nach § 8 des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes seine Klage in der Hauptsache zurücknimmt. Auf Antrag des Rechtsanwalts des Musterklägers setzt das Oberlandesgericht die Anteile durch unanfechtbaren Beschluss fest. Absatz 3 Satz 2 bis 4 sowie die Vorschriften der Zivilprozessordnung über die Zwangsvollstreckung aus Kostenfestsetzungsbeschlüssen gelten entsprechend. Ein Vorschuss kann nicht gefordert werden."
Begründung:
Die Zuerkennung einer in das Ermessen des Gerichts gestellten, besonderen Gebühr zugunsten des Prozessbevollmächtigten des Musterklägers, der sich im Vergleich zu den anderen Bevollmächtigten überdurchschnittlich für das gemeinsame Anliegen engagiert und bei dem besonderer Arbeitsaufwand für die Einleitung und die Durchführung des Musterverfahrens entsteht, soll nicht weiter in Frage gestellt werden.
Abzulehnen ist jedoch die Geltendmachung der Gebühr gegenüber der Landeskasse. Dieser Zahlungsweg ist weder aus sachlichen Gründen erforderlich noch aus Gerechtigkeitsgründen angemessen. Er belastet vielmehr die Staatskasse ohne Not mit Verwaltungsaufwand und dem Rückgriffsrisiko. Eine Anrufung des Vermittlungsausschusses in dieser Sache ist gerechtfertigt, weil hier - wie so häufig - einseitig den finanziellen Interessen einer Berufsgruppe auf Kosten der Länder nachgegeben wird, was letztendlich auf dem Rücken der Gerichte ausgetragen werden wird, weil finanzielle Mittel für eine bessere sachliche und personelle Ausstattung nicht zur Verfügung stehen. Auf lange Sicht geht dies zu Lasten der Qualität der Rechtsprechung und sonstiger Dienstleistungen der Gerichte und damit zu Lasten des rechtsuchenden Publikums.
Da die Tätigkeit allein im Interesse des Musterklägers und der Beigeladenen erbracht wird, kann entsprechend § 11 RVG die Gebühr auch durch das Oberlandesgericht unmittelbar gegen die Mitglieder dieser Gruppe festgesetzt werden, wobei die Aufteilung auf die einzelnen Kläger ggf. einem besonderen Festsetzungsverfahren überlassen werden könnte.
Die Begründung des Gesetzentwurfs für die Vorleistung aus dem Justizhaushalt überzeugt nicht. Schon der Ansatzpunkt der hoheitlichen Auferlegung einer Art Sonderopfer des Musterklägervertreters ist fragwürdig. Denn es handelt sich bei der Prozessführung durch den Musterkläger nicht um eine wider Willen übernommene Aufgabe, die ihm durch das Gericht gleichsam einseitig oktroyiert wird. Der Evaluationsbericht der Frankfurt School of Finance & Management vom 14. Oktober 2009 (S. 96 f.) führt zu Überlegungen, eine solche Gebühr aus staatlichen Mitteln zu finanzieren, aus: 'Das passt aber nicht zur Idee einer "zweiten Spur" der Rechtsdurchsetzung, die ja auf private Initiative setzt und gerade eine Ergänzung oder gar Alternative zur staatlich organisierten Regulierung darstellen soll. Die Stärke dieser "zweiten Spur" besteht eben nicht in der Beschäftigung zusätzlicher Beamter oder staatsnah agierender Subventionsempfänger, sondern darin, dass eigennützige Ziele der Kläger und ihrer Anwälte hier zur Durchsetzung des objektiven Rechts in Dienst genommen werden.'
Ohnehin wird sich die Auswahl regelmäßig auf solche Kläger beschränken, die auch als Musterkläger ausgewählt werden wollen, da es andernfalls schon an der Gewähr für eine sachgerechte Vertretung der Interessen der Beigeladenen fehlen dürfte.
Darüber hinaus ist aber auch die Annahme, das Ausfallrisiko der Staatskasse sei gering, nicht überzeugend: Zwar wird in Verfahren nach dem KapMuG in aller Regel keine Prozesskostenhilfe bewilligt. Ein erhebliches finanzielles Risiko dürfte aber in der mangelnden Realisierbarkeit der Ansprüche der Staatskasse im Fall einer zwischenzeitlichen Insolvenz der Beteiligten zu sehen sein. Das Einstehen des Staates für die Kosten eines Rechtsanwalts ist im Gesetz derzeit insbesondere etwa dann vorgesehen, wenn ein Pflichtverteidiger bestellt oder ein Rechtsanwalt wegen wirtschaftlicher Bedürftigkeit einer Partei beigeordnet wird. Im Familien- und Betreuungsrecht kann Kindern oder dem Betreuten ein Verfahrensbeistand bzw. -pfleger bestellt werden, wenn sie ihre rechtlichen Interessen in Verfahren, die ihre Person betreffen, nicht selbst wahrnehmen können. In all diesen Fällen ist die Indienstnahme des Rechtsanwalts zu öffentlichen Zwecken aus Gründen des Gemeinwohls gerechtfertigt. Dem ist die Tätigkeit des Musterklägervertreters nicht vergleichbar. Es geht um Geldforderungen aus Finanzgeschäften, die die Anleger aus Gründen der Vermögensbildung bzw. -mehrung eingegangen sind. Diese Ansprüche werden auf Grund individueller Interessen der Kapitalanleger verfolgt, die ihr Anlageziel nicht erreicht haben und dies auf unzureichende Informationen des Anbieters zurückführen.
Schlussendlich ergäbe sich eine unangemessene Benachteiligung des Landeshaushalts auch deshalb, weil - anders als bei den nach dem Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetz zu zahlenden Beträgen - keine Verzinsung vorgesehen ist. Die Landeskasse wird somit nicht nur durch das Ausfallrisiko im Einzelfall, sondern auch durch die Vorfinanzierung belastet.
Aus diesen Erwägungen heraus ist § 41a Absatz 4 RVG-neu durch eine an Nummer 9018 KV-GKG angenäherte Regelung zu ersetzen, die eine gleichmäßige Aufteilung der Zusatzgebühr auf Musterkläger und Beigeladene vorsieht. Ein Ausgleich im Verhältnis zu den Beklagten findet gemäß § 24 KapMuG-neu statt.