Der Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz Mainz, den 8. April 2011
An die Präsidentin des Bundesrates
Frau Ministerpräsidentin
Hannelore Kraft
Sehr geehrte Frau Präsidentin,
die Landesregierungen von Rheinland-Pfalz und Hamburg haben beschlossen, beim Bundesrat den in der Anlage beigefügten Antrag für eine Entschließung des Bundesrates - Die Chancen der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch klare Regeln für gute Arbeit sichern einzubringen.
Ich bitte Sie, den Entschließungsantrag gemäß § 36 Absatz 2 der Geschäftsordnung auf die Tagesordnung der 882. Sitzung des Bundesrates am 15. April 2011 zu setzen und eine Entscheidung in der Sache herbei zu führen.
Mit freundlichen Grüßen
Kurt Beck
Entschließung des Bundesrates - Die Chancen der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch klare Regeln für gute Arbeit sichern
Der Bundesrat möge beschließen:
I. Der Bundesrat stellt fest:
- 1. Die Bundesrepublik Deutschland hat alle Übergangsfristen genutzt, mit denen Einschränkungen für die Arbeitnehmerfreizügigkeit beschlossen werden können. Für die zum 1. Mai 2004 beigetretenen osteuropäischen Länder Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn werden diese Übergangsfristen zum 1. Mai 2011 auslaufen; für Bulgarien und Rumänien, die zum 1. Januar 2007 der EU beigetreten sind, spätestens zum 1. Januar 2014. Neben Österreich war Deutschland das einzige Land in der EU, das die kompletten 7 Jahre der Übergangsregelung in Anspruch genommen hat. Auch Übergangsfristen für die Dienstleistungsfreiheit sind in bestimmten Branchen vereinbart worden (u.a. Bau- und Reinigungsgewerbe), die auch die Entsendung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern betreffen. Ab 1. Januar 2011 können Saisonarbeitnehmerinnen und Saisonarbeitnehmer bereits durch eine Sonderregelung ohne das übliche Genehmigungsverfahren in Deutschland arbeiten.
- 2. Wie sich die Arbeitnehmerfreizügigkeit für die osteuropäischen Länder auf den deutschen Arbeitsmarkt auswirken wird, ist in weiten Teilen unklar. In der Bevölkerung sind Ängste vorhanden, besonders Ängste vor Verdrängung im Arbeitsmarkt und vor Lohndrückerei. Wichtig ist, dass die politischen Gestaltungsmöglichkeiten genutzt werden, solchen Entwicklungen entgegen zu wirken. Es muss klar sein: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort.
- 3. Die Erfahrungen aus den anderen EU-Staaten, die die Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht eingeschränkt haben, zeigen, dass klare Regeln zu Lohn- und Arbeitsbedingungen wichtig sind, um Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt zu verhindern. Auch in der aktuellen Diskussion um die Fachkräfteentwicklung sind die politischen Weichenstellungen für die Vollendung der Arbeitnehmerfreizügigkeit wichtig.
- 4. Nach wie vor bestehen zum Teil erhebliche Einkommensunterschiede zwischen den so genannten neuen und alten Mitgliedstaaten. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus den neuen Mitgliedstaaten dürften dazu bereit sein, auch zu schlechteren Lohn- und Arbeitsbedingungen in Deutschland zu arbeiten. Daher müssen Maßnahmen getroffen werden, um Lohndrückerei und Sozialdumping zu verhindern, sowohl im Interesse der einheimischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als auch der ausländischen Beschäftigten.
II. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf,
- 1. im Bereich der Arbeitsbedingungen und der Entlohnung dafür zu sorgen, dass
- a. eine Ausweitung der prekären Beschäftigung und des Niedriglohnsektors verhindert wird, indem die Maxime "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort!" gilt. Das ist besonders wichtig, um einen grenzüberschreitenden Unterbietungswettbewerb bei den Löhnen zu verhindern. Auch in der grenzüberschreitenden Leiharbeit ist die Einführung einer Lohnuntergrenze nur ein erster Schritt in die richtige Richtung. Sittenwidrige Bezahlung muss auch bei nach Deutschland entsandten Arbeitnehmern nach den hier geltenden Maßstäben beurteilt werden.
- b. alle Branchen in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufgenommen werden, damit allen Branchen die Möglichkeit offensteht, durch die Vereinbarung flächendeckender tarifvertraglicher Mindestlöhne faire Arbeitsbedingungen besonders im Wettbewerb mit ausländischen Unternehmen und ihren nach Deutschland entsandten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern herzustellen. Zudem muss ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn als Lohnuntergrenze geschaffen werden, um weiteren Druck auf das deutsche Lohngefüge zu verhindern. Nur so kann gewährleistet werden, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus dem EU-Ausland zu den gleichen Mindestlöhnen wie deutsche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland beschäftigt werden.
- c. Scheinselbstständigkeit verhindert wird. Die Abgrenzung zwischen Selbstständigen und abhängig Beschäftigten muss im Zielland der Entsendung nach dessen Maßstäben überprüft werden können und nicht nach den Bedingungen des Herkunftslandes. Auch in Deutschland muss eine schärfere Abgrenzung von Dienstleistung und Leiharbeit geschaffen werden.
- d. im EU-Vergaberecht und in den Vergaberegelungen auf Bundesebene die Zulässigkeit ökologischer und sozialer Kriterien bei der Vergabe öffentlicher Aufträge konkretisiert und erweitert wird. Zudem müssen eine Lohnuntergrenze und Tariftreue als Voraussetzungen für die Vergabe öffentlicher Aufträge aufgenommen werden. Die EU-Vergaberichtlinie muss in Deutschland stärker berücksichtigt werden. Diejenigen Unternehmen, die gegen Entsenderecht verstoßen, müssen in einem europäischen Unternehmensregister dokumentiert werden, damit sie aus Vergabeverfahren ausgeschlossen werden können.
- 2. im Bereich der Kontrolle und Registrierung dafür zu sorgen, dass
- a. die Finanzkontrolle Schwarzarbeit beim Zoll eine wirksame Kontrolle gewährleisten kann. Nach der Ausweitung der Branchen im Arbeitnehmer-Entsendegesetz muss auch die Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit erhöht werden, um die Einhaltung von Tarifverträgen in Branchen, die in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufgenommen sind, kontrollieren zu können. Damit effektiv kontrolliert werden kann, müssen die Dokumente bei Vor-Ort-Kontrollen verfügbar sein.
- b. eine Registrierung von Entsendungen bei der Sozialversicherung zur Pflicht wird. Diese Meldung muss vor Aufnahme der Tätigkeit stattfinden und muss für alle Branchen verpflichtend sein.
- 3. im Bereich der Mitbestimmung dafür zu sorgen, dass
- a. der Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht hinsichtlich der Grundsätze des Einsatzes von entsandten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern erhält. Ebenso müssen entsandte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach einer bestimmten Zeit den inländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern vergleichbare Rechte im kollektiven Arbeitsrecht in Bezug auf ihre Interessenvertretung im Betrieb erhalten ähnlich der Regelung für überlassene Beschäftigte im Betriebsverfassungsgesetz § 7 Satz 2.
- b. die grenzüberschreitenden Kooperationen in grenznahen Regionen ausgeweitet und die interregionalen Gewerkschaftsräte gefördert werden. Ergänzend müssen tripartite und bi- oder trilaterale Wirtschafts- und Sozialausschüsse zur Diskussion grenzüberschreitender Problemlagen, Regionalplanung und Arbeitsmarktmonitoring eingeführt werden, damit Zusammenarbeit statt Lohndrückerei stattfindet.
- 4. im Bereich der Beratung und Information dafür zu sorgen, dass
- a. flächendeckend, besonders in Beschäftigungsschwerpunkten, mehrsprachige Beratungsstellen für entsandte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und Arbeitsmigrantinnen und -migranten eingerichtet werden analog zu den Beratungsstellen für Unternehmer, die durch die Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie eingeführt wurden.
- b. die Sozialpartner über das Netzwerk EURES (European Employment Services) unterstützt werden. Die finanziellen Mittel für die Arbeit der Sozialpartner in den Grenzpartnerschaften für die Beratung und Unterstützung von mobilen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern müssen über EURES von der Kommission in ausreichender Höhe bereitgestellt werden. EURES muss, wie in der EURES-Satzung festgelegt, weiterhin ein Mittel zur Förderung fairer Mobilität bleiben.
- c. Art. 4 Abs. 2 der EU-Nachweis-Richtlinie vollständig eingehalten wird und die entsendenden Arbeitgeber die Beschäftigten über die im Zielland geltenden Arbeits- und Sozialbestimmungen informieren. Das deutsche Nachweisgesetz muss ausnahmslos Anwendung finden.
- 5. sich auf europäischer Ebene dafür einzusetzen, dass
- a. im Rahmen der Revision der Entsenderichtlinie unter anderem dafür gesorgt wird, dass die Richtlinie wieder, wie vom Gesetzgeber vorgesehen, Mindest- und nicht Maximalstandards definiert. Die Entsenderichtlinie war durch die Rechtsprechung des EuGH in den Fällen Laval, Rüffert und Luxemburg zu Lasten der Beschäftigten uminterpretiert worden. Danach sehe die Entsenderichtlinie ein bestimmtes Schutzniveau für entsandte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor, über das die Mitgliedstaaten nicht hinausgehen dürften. Der Ursprungsgedanke der Richtlinie war jedoch, einen Mindestkatalog von Bereichen festzulegen, in denen eine arbeitsrechtliche Gleichstellung der entsandten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit Beschäftigten im Zielland zwingend zu erfolgen hat. Damit dieser Grundgedanke der Entsenderichtlinie wieder gültig ist, muss sie entsprechend überarbeitet werden.
- b. im Primärrecht der Europäischen Union eine Soziale Fortschrittsklausel aufgenommen wird, um das Missverhältnis zwischen wirtschaftlichen Grundfreiheiten und sozialen (Grund-)Rechten zu beseitigen. Die Soziale Fortschrittsklausel muss in den Verträgen verbindlich klarstellen, dass die Europäische Union nicht nur dem wirtschaftlichen, sondern auch dem sozialem Fortschritt verpflichtet ist. Sie muss zumindest die prinzipielle Gleichrangigkeit des Sozialen und der soziale Grundrechte im Konfliktfall mit den wirtschaftlichen Grundfreiheiten festschreiben.