883. Sitzung des Bundesrates am 27. Mai 2011
A
Der Ausschuss für Familie und Senioren und der Ausschuss für Frauen und Jugend empfehlen dem Bundesrat, zu dem Gesetz zu verlangen, dass der Vermittlungsausschuss gemäß Artikel 77 Absatz 2 des Grundgesetzes aus folgenden Gründen einberufen wird:
1. Zu Artikel 1 Nummer 1(§ 1793 Absatz 1a Satz 2, 3 - neu - BGB)
In Artikel 1 Nummer 1 ist § 1793 Absatz 1a Satz 2 durch folgende Sätze zu ersetzen:
"Die Ausgestaltung richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, deren Beurteilung in der fachlichen Eigenverantwortung des Vormundes liegt. Dabei hat der Vormund insbesondere zu beurteilen, ob es erforderlich ist, den Mündel in dessen üblicher Umgebung aufzusuchen."
Begründung:
Durch die Änderungen wird von der statischen Festschreibung einer bestimmten Kontakthäufigkeit abgesehen. Stattdessen wird klargestellt, dass sich die konkrete Ausgestaltung der Kontakte - also Ort, Inhalt und Umfang - nach den Umständen des Einzelfalles richtet. Der anzufügende Satz 3 stellt sicher, dass der Vormund in jedem Einzelfall beurteilt, ob die Umstände, insbesondere die Bedürfnisse des Mündels, einen Kontakt in dessen üblicher Umgebung erforderlich machen. Eine solche Kontaktregelung ist realistisch, angemessen flexibel und trägt somit den Umständen des Einzelfalles Rechnung, deren Beurteilung in der fachlichen Eigenverantwortung des Vormundes bzw. Pflegers liegt. Diese Regelung stellt nicht die Kontrolle und Überwachung zur Abwendung von Kindesmisshandlung und Kindesvernachlässigung in den Vordergrund, sondern die Intensivierung des persönlichen Kontakts zwischen Vormund und Mündel zur Verbesserung von dessen Pflege und Erziehung.
2. Zu Artikel 2 Nummer 1 Buchstabe a (§ 55 Absatz 2 Satz 4 SGB VIII)
In Artikel 2 Nummer 1 Buchstabe a sind in § 55 Absatz 2 Satz 4 die Wörter "soll höchstens 50 und bei gleichzeitiger Wahrnehmung anderer Aufgaben entsprechend weniger Vormundschaften oder Pflegschaften führen" durch die Wörter "soll nur so viele Vormundschaften und Pflegschaften führen, dass diese unter besonderer Berücksichtigung des persönlichen Kontakts zu dem Mündel und der Wahrnehmung anderer Aufgaben verantwortlich ausgeübt werden können" zu ersetzen.
Begründung:
Die geänderte Formulierung stellt klar, dass Beamte und Angestellte, die mit der Führung von Vormundschaften oder Pflegschaften betraut sind, nur so viele Vormundschaften und Pflegschaften führen sollen, dass diese unter besonderer Berücksichtigung des persönlichen Kontakts zu dem Mündel und der Wahrnehmung anderer Aufgaben verantwortlich ausgeübt werden können. Der Umfang der dem einzelnen Mitarbeiter beim Jugendamt zugewiesenen Vormundschaften und Pflegschaften muss am sozialpädagogisch erforderlichen Maß ausgerichtet sein. In der Regel ist davon auszugehen, dass für einen vollzeitbeschäftigten Beamten oder Angestellten, der ausschließlich mit der Führung von Vormundschaften oder Pflegschaften betraut ist, je nach den Umständen des Einzelfalls ein Orientierungsrahmen von 50 Vormundschaften oder Pflegschaften angemessen ist. Die konkrete Festlegung im Einzelfall muss aber der Organisationshoheit der kommunalen Jugendämter vorbehalten bleiben.
B
Der federführende Rechtsausschuss empfiehlt dem Bundesrat,
- 3. festzustellen, dass das Gesetz gemäß Artikel 104a Absatz 4 des Grundgesetzes seiner Zustimmung bedarf,
- 4. dem Gesetz zuzustimmen.
Begründung zu 3:
Das Gesetz bedarf der Zustimmung des Bundesrates. Eine solche ist jedoch in der Eingangsformel nicht vorgesehen.
Die Zustimmungsbedürftigkeit ergibt sich aus Artikel 104a Absatz 4 GG. Das Gesetz begründet in Artikel 2 Nummer 1 (§ 55 Absatz 2 Satz 4 SGB VIII-neu) eine Pflicht der Länder zur Erbringung einer "vergleichbaren Dienstleistung gegenüber Dritten" gemäß Artikel 104a Absatz 4 GG, indem den Jugendämtern ein Vormundschafts-/Pflegschaftsschlüssel von maximal 50 Mündeln je vollzeitbeschäftigtem Beamten oder Angestellten vorgegeben wird.
Wie sich aus den Gesetzesmaterialien zu der im Rahmen der Föderalismusreform eingefügten Regelung des Artikels 104a Absatz 4 GG ergibt, wollte der verfassungsändernde Gesetzgeber in weitem Umfang für die Länder kostenauslösende Bundesgesetze der Zustimmungspflicht unterwerfen. Nach Artikel 104a Absatz 4 GG bedürfen solche Bundesgesetze der Zustimmung des Bundesrates, die Pflichten der Länder zur Erbringung von Geldleistungen, geldwerten Sachleistungen oder vergleichbaren Dienstleistungen gegenüber Dritten begründen und von den Ländern als eigene Angelegenheit ausgeführt werden, wenn daraus entstehende Kosten von den Ländern zu tragen sind.
Hier kommt die dritte Alternative, die "Begründung der Erbringung von vergleichbaren Dienstleistungen gegenüber Dritten" in Betracht.
Eine Vergleichbarkeit einer Dienstleistung mit Geld- oder geldwerten Sachleistungen ist dann gegeben, wenn sie unter vergleichbar engen Voraussetzungen wie dies bei Geld- und Sachleistungen der Fall ist, einem Dritten Vorteile gewährt oder sonstige Maßnahmen gegenüber Dritten veranlasst, die zu einer erheblichen Kostenbelastung der Länder führen (vgl. Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes, Einzelbegründung zu Artikel 104a Absatz 4 GG, BT-Drs. 16/813, S. 18). Zählt daher in diesem weiten Verständnis beispielsweise auch die Bereitstellung von Tagesbetreuungsplätzen (als ein Bündel staatlicher Sach- und Dienstleistungen) zum Anwendungsbereich des Artikels 104a Absatz 4 GG, muss Gleiches auch für die Vormundschaft und Pflegschaft als - staatlich angeordneter - Dienstleistung für die Familien gelten.
Soweit Artikel 104a Absatz 4 GG eine "Begründung" der Leistungspflicht voraussetzt, entspricht es dem Sinn und Zweck der Regelung, auch eine wesentliche Ausweitung von Leistungsstandards hierunter zu fassen. Die Bundesregierung führt in der Entwurfsbegründung aus, dass es zu einem Mehrbedarf bei den Kommunen für zusätzliches Personal in der Amtsvormundschaft kommen könne, der bis zu doppelt so hoch wie gegenwärtig sei. Legt man hingegen die in der Entwurfsbegründung ebenfalls genannte Zahl von bis zu 200 Vormundschaften je Amtsvormund zugrunde, ergibt sich tatsächlich ein bis zu vierfacher Personalbedarf gegenüber dem gegenwärtigen Zustand. Ein Verständnis dahingehend, dass sich die Zustimmungsbedürftigkeit nur auf die erstmalige Begründung bezieht, widerspricht dem Normzweck des Artikels 104a Absatz 4 GG, die Länder bei kostenauslösenden Bundesgesetzen in Form eines Zustimmungserfordernisses zu beteiligen. Denn der Bund hätte es ansonsten in der Hand, jedwede Ausweitung bestehender Leistungsgesetze einer solchen Mitwirkung der Länder zu entziehen. Der Bund kann sich deshalb nicht darauf berufen, es werde keine Leistungspflicht begründet, weil es Amtsvormundschaften gegenwärtig bereits gibt.