Antrag der Länder Berlin, Bremen
Entschließung des Bundesrates zur Änderung der gesetzlichen Sanktionsregelungen im SGB II

Der Regierende Bürgermeister von Berlin Berlin, 24. Juni 2020

An den Präsidenten des Bundesrates
Herrn Ministerpräsidenten
Dr. Dietmar Woidke

Sehr geehrter Herr Präsident,
die Landesregierungen von Berlin und Bremen haben beschlossen, dem Bundesrat die als Anlage beigefügte Entschließung des Bundesrates zur Änderung der gesetzlichen Sanktionsregelungen im SGB II zuzuleiten.

Ich bitte Sie, die Vorlage gemäß § 36 Absatz 2 der Geschäftsordnung des Bundesrates auf die Tagesordnung der 992. Sitzung des Bundesrates am 3. Juli 2020 zu setzen und sie anschließend den zuständigen Ausschüssen zur Beratung zuzuweisen.

Mit freundlichen Grüßen
Michael Müller

Entschließung des Bundesrates zur Änderung der gesetzlichen Sanktionsregelungen im SGB II

Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, einen Gesetzentwurf zur Änderung der Sanktionsvorschriften im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) vorzulegen.

Dabei sollten unter anderem folgende Punkte Gegenstand der Gesetzesänderung werden:

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Urteil vom 05.11.2019 (1 BvL 7/16) Sanktionen im SGB II mit dem Grundgesetz für unvereinbar erklärt, soweit die Minderung nach wiederholten Pflichtverletzungen innerhalb eines Jahres die Höhe von 30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs übersteigt oder gar zu einem vollständigen Wegfall der Leistungen führt. Mit dem Grundgesetz unvereinbar sind die Sanktionen zudem, soweit der Regelbedarf bei einer Pflichtverletzung auch im Fall außergewöhnlicher Härten zwingend zu mindern ist und soweit für alle Leistungsminderungen eine starre Dauer von drei Monaten vorgegeben wird.

Der Bundesgesetzgeber ist gefordert, diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in einem Änderungsgesetz zum SGB II umzusetzen.

Gleichzeitig sind weitere Änderungen vorzunehmen. Bedarfsgemeinschaften mit Kindern sowie Jugendliche und junge Erwachsene, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, gehören zu den besonders schützenswerten Personengruppen. Sie sind daher von Sanktionen auszunehmen. Sanktionen bedeuten für sie eine besondere Härte.

Begründung:

Zu 1:

Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ist besonders stark betroffen, sofern bei unter 25-jährigen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten eine sanktionsrelevante Pflichtverletzung festgestellt wird.

Die Rechtsfolgen bei Pflichtverletzungen für diesen Personenkreis sind deutlich eingriffsintensiver als bei erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, die das 25. Lebensjahr bereits vollendet haben. Junge Leistungsbeziehende unter 25 Jahren werden nach den Sanktionsvorschriften besonders streng sanktioniert. Bereits bei der ersten Pflichtverletzung nach § 31 SGB II wird das Arbeitslosengeld II auf die Bedarfe für Unterkunft und Heizung beschränkt. Der Regelbedarf wird vollständig gekürzt. Bei wiederholter Pflichtverletzung nach § 31 SGB II innerhalb eines Jahres entfällt das Arbeitslosengeld II vollständig, sodass neben dem Regelbedarf auch keine Kosten der Unterkunft übernommen werden. Diese Rechtsfolge ist in § 31a Abs. 2 SGB II geregelt.

Der Gesetzgeber hat dies unter anderem damit begründet, dass "gerade bei jüngeren Hilfebedürftigen [...] es besonders wichtig [ist], eine Verfestigung der Hilfebedürftigkeit und die Gewöhnung an den Leistungsbezug zu verhindern. [...] Deshalb muss besonders bei dieser Gruppe das Grundprinzip des "Förderns und Forderns" angewendet werden", da "zu Beginn des Berufslebens [...] die Weichen in Richtung des ersten Arbeitsmarktes gestellt werden [müssen]." (Bundestag Drucksache 17/6833. S. 12-13).

Studien haben gezeigt, dass Sanktionen für junge Leistungsbeziehende unter 25 Jahren weitreichende negative Folgen wie den vollständigen Rückzug aus dem Hilfesystem haben können.

Junge Erwachsene, die sanktioniert werden, sind eher bereit, eine kurzfristige, schlechter bezahlte Arbeit aufzunehmen. Die Arbeitsaufnahme infolge von Sanktionen dient zumeist nur der kurzfristigen Einkommenserzielung. Eine dauerhafte und bedarfsdeckende Integration in Arbeit gelingt selten. Durch den vollständigen Wegfall des Arbeitslosengeldes II droht Wohnraumverlust bis hin zu Obdachlosigkeit. Es besteht die Gefahr, dass sich junge Erwachsene vom Jobcenter abwenden und für die Behörden nur noch schwer erreichbar sind. Eine Wiedereingliederung dieser jungen Erwachsenen in den Arbeitsmarkt ist oftmals nur mit einem erheblichen zeit- und kostenintensiven Aufwand möglich (z.B. durch Maßnahmen nach § 16h SGB II) .

Sanktionen stellen einen erheblichen Eingriff in das Leben junger Erwachsener dar. Für sie ist der Übergang in ein selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Leben von großer Bedeutung für ihre persönliche Entwicklung. Insbesondere in dieser Entwicklungsphase bedarf es deshalb der Unterstützung und Förderung der jungen Erwachsenen zur Entwicklung einer selbstständigen Persönlichkeit. Sanktionen, die zu einer Unterschreitung des Existenzminimums führen, tragen dazu nicht bei.

Daher spricht angesichts der vorgenannte Gründe mehr dafür, die Sanktionsregelungen für unter 25-jährige Leistungsberechtigte vollständig abzuschaffen.

Das Bundesverfassungsgericht hat sich in seiner Entscheidung nicht zur Verfassungsmäßigkeit der Sanktionsvorschriften für unter 25-jährige Leistungsberechtigte geäußert, sie waren nicht Streitgegenstand. In der Folge werden gleichwohl die strengeren Sanktionsregelungen für junge erwerbsfähige Leistungsberechtigte unter 25 Jahren derzeit nicht angewandt. Sofern jedoch Pflichtverletzungen vorliegen, werden nach den fachlichen Hinweisen der Bundesagentur für Arbeit für den Personenkreis der unter 25-jährigen Leistungsberechtigten die Sanktionsfolgen für die über 25-jährigen Leistungsberechtigten angewandt.

Zu 2:

Etwa 1,9 Millionen Kinder lebten im Dezember 2019 bundesweit in Bedarfsgemeinschaften, die SGB II-Leistungen bezogen haben. Dies entspricht einem Anteil von 13 Prozent aller Kinder unter 18 Jahren in Deutschland. In Deutschland wurde im Verlauf des Jahres 2019 gegenüber 126.779 erwerbsfähigen Leistungsberechtigten (ELB) in Partner-Bedarfsgemeinschaften mit Kindern oder Alleinerziehende-Bedarfsgemeinschaften mindestens eine Sanktion neu festgestellt. Der entsprechende Wert für Berlin lautet 16.732.

Sofern bei erwerbsfähigen Leistungsberechtigten Pflichtverletzungen festgestellt werden, sind nicht nur die erwachsenen Leistungsberechtigten betroffen, sondern auch die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Kinder und Jugendlichen. Leistungskürzungen für erwerbsfähige Leistungsberechtigte in der Bedarfsgemeinschaft betreffen letztlich alle Mitglieder der Familie. Besonders hart trifft es die Jüngsten.

Bereits in einem 2016 von der Bertelsmann Stiftung veröffentlichten Bericht zu Armutsfolgen für Kinder und Jugendliche in Deutschland wurde anhand empirischer Studien aufgezeigt, dass bei Kindern aus einkommensschwachen Haushalten häufig ein Mangel in der Versorgung mit existentiellen Gütern vorliegt. Es fehlt an ausreichendem Wohnraum, warmem und gesundem Essen sowie sozialer und kultureller Teilhabe, wenn zum Beispiel Freunde aufgrund der dürftigen materiellen Verhältnisse nicht nach Hause eingeladen werden können oder Freizeitaktivitäten nicht möglich sind.

Sofern bei erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in der Bedarfsgemeinschaft Leistungskürzungen vorgenommen werden, verschärft dies die Kinderarmut und damit die negativen Folgen finanzieller Armut für die Teilhabebedingungen von Kindern und Jugendlichen sowie ihre Möglichkeiten für ein gutes Aufwachsen.

Aus diesen Gründen sind Sanktionen gegenüber Bedarfsgemeinschaften mit Kindern und Jugendlichen auszuschließen.