Staatsministerium Baden-Württemberg Stuttgart, den 9. Dezember 2011
Der Staatssekretär
An den Präsidenten des Bundesrates
Herrn Ministerpräsidenten
Horst Seehofer
Sehr geehrter Herr Präsident,
die Regierungen der Länder Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Hamburg haben beschlossen, dem Bundesrat die als Anlage beigefügte Entschließung des Bundesrates - Faire und sichere Arbeitsbedingungen durch Implementierung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohnes zuzuleiten.
Ich bitte Sie, die Vorlage gemäß § 36 Absatz 2 der Geschäftsordnung des Bundesrates in die Tagesordnung der 891. Sitzung des Bundesrates am 16. Dezember 2011 aufzunehmen und sie anschließend den Ausschüssen zur Beratung zuzuweisen.
Mit freundlichen Grüßen
Klaus-Peter Murawski
Entschließung des Bundesrates - Faire und sichere Arbeitsbedingungen durch Implementierung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohnes
Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, unverzüglich einen Gesetzentwurf für einen allgemeinen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn vorzulegen, der vor allem die nachfolgenden Punkte regelt:
- a. Es muss ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn eingeführt werden, der eine unterste Grenze des Arbeitsentgelts festsetzt, unterhalb derer keine Löhne und Gehälter vereinbart werden dürfen. Dieser Mindestlohn soll Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ein existenzsicherndes Einkommen gewährleisten und eine angemessene Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen.
- b. Der Mindestlohn soll von einer unabhängigen Kommission nach dem Vorbild Großbritanniens (Low Pay Commission) jährlich überprüft und ein Vorschlag erarbeitet werden.
- c. Das Bruttoarbeitsentgelt für eine Zeitstunde soll durch Rechtsverordnung festgesetzt werden und nicht unter 8,50 Euro (brutto) liegen.
- d. Andere arbeitsvertragliche und tarifvertragliche Entgeltvereinbarungen sowie Entgeltfestsetzungen auf Grund anderer Gesetze sind nur zulässig, wenn sie ein höheres Arbeitsentgelt als den Mindestlohn vorsehen.
- e. Es findet eine Kontrolle der Einhaltung des flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohnes durch staatliche Stellen (Zollbehörden) statt.
Begründung:
Die Anzahl der Personen in atypischen Beschäftigungsverhältnissen (befristete und geringfügige Beschäftigung, Teilzeitarbeit bis zu 20 Wochenstunden, Leiharbeit) steigt seit Jahren bundesweit an. Nach Mitteilungen des Statistischen Bundesamtes Deutschland (Juli 2010 und Juli 2011) waren 1999 19,7 Prozent aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in atypischen Beschäftigungsformen beschäftigt. Bis 2010 stieg ihre Zahl um rund 2 Millionen Personen auf 7,84 Mio. an (2009: 7,6 Mio.). Der Anteil hat sich insoweit im Jahre 2010 auf rund 25,4 Prozent aller abhängig Beschäftigten erhöht.
Ausweislich der Angaben der Bundesagentur für Arbeit erhielten 2010 ca. 23 Prozent der in Vollzeit beschäftigten Erwerbstätigen weniger als 2/3 des Median-Brutto-Lohnes.
Der Gesetzgeber ist gefordert, die gesetzlichen Rahmenbedingungen für gute und sichere Arbeit für die Beschäftigten zu schaffen. Eine sinnvolle Regulierung in diesem Bereich ist ein zentraler Beitrag für eine neue Ordnung für Arbeit, die Armutslöhne zurückdrängt.
Die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales im Rahmen seines gesetzlichen Auftrages veranlasste Evaluation konnte auf Grund der teilweise noch verhältnismäßig neuen Mindestlohnregelungen nicht für alle Branchen in gleicher Intensität erfolgen. Allerdings kann schon jetzt festgehalten werden, dass für keine der untersuchten Branchen nennenswerte negative Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt festgestellt wurden.
Menschen, die Vollzeit arbeiten, müssen von ihrer Arbeit menschenwürdig leben können. Um sicherzustellen, dass über eine Vollzeitbeschäftigung ein Existenz sicherndes und eine angemessene Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichendes Arbeitseinkommen erzielt werden kann, brauchen wir einen Rechtsanspruch auf eine Mindestvergütung. Mit einem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn kann aktiv dazu beigetragen werden, dass die Würde der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geachtet und Armut bekämpft wird. Ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn ist zudem ein wichtiger Beitrag, Teilzeitbeschäftigte und Frauen vor Niedriglöhnen zu schützen.
Ohne einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn wird sich der Niedriglohnsektor weiter ausweiten mit der Folge, dass immer weniger Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von ihrer Arbeit leben können, sich die Einkommensverteilung deutlich weiter verschiebt und auch in Zukunft eine hohe Zahl an Menschen auf ergänzende Sozialleistungen nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II angewiesen sind mit der Folge, dass auch die soziale Absicherung der Beschäftigten im Alter nicht mehr oder nicht ausreichend gewährleistet ist.
Die Implementierung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns bietet gegenüber einer Lohnuntergrenze in tariffreien Bereichen insbesondere folgende Vorteile:
- - Von einem gesetzlichen und flächendeckenden Mindestlohn würden auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer profitieren, die in Branchen arbeiten, in denen tarifvertraglich Löhne von 7,00 Euro pro Stunde oder weniger ausgehandelt wurden.
- - Ein gesetzlicher und flächendeckender Mindestlohn verhindert, dass sich Arbeitgeber in Branchen ohne Tarifvertrag willfährige "Minigewerkschaften" suchen, um mit ihnen Löhne auszuhandeln, die unter der Lohnuntergrenze in tariffreien Bereichen liegen.
- - Mit dem gesetzlichen und flächendeckenden Mindestlohn entsteht für alle betroffenen Beschäftigten eine einfach verständliche unterste Grenze des Arbeitsentgelts.
- - Der gesetzliche Mindestlohn als unterste Grenze des Arbeitsentgelts lässt Raum für höhere, branchenspezifische Lohnuntergrenzen auf Grundlage der bestehenden Regelungen.
Gesetzliche Mindestlöhne gehören in 20 von 27 Ländern der Europäischen Union (Luxemburg, Frankreich, Niederlande, Belgien, Irland, Großbritannien, Slowenien, Griechenland, Spanien, Malta, Portugal, Polen, Tschechien, Slowakei, Estland, Lettland, Litauen, Ungarn, Rumänien und Bulgarien) zu den selbstverständlichen Instrumenten zur Regulierung des Arbeitsmarktes.
Auch in den meisten außereuropäischen Industriestaaten, wie z.B. Australien, Kanada, den USA oder Japan gehört ein gesetzlicher Mindestlohn zum sozialen Standard.
Stabile Beschäftigung bietet die Basis für finanzielle und emotionale Sicherheit, stabile persönliche und familiäre Verhältnisse. Löhne, mit denen die Menschen ihren Lebensunterhalt bestreiten können, sind die Grundlage für die Leistungsbereitschaft der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und Stärke im Land.
Es ist an der Zeit, dass allen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern die Chance auf existenzsichernde Beschäftigungsverhältnisse gegeben wird.