Antrag der Länder Bremen, Brandenburg, Thüringen
Entschließung des Bundesrates "Funktionsschwäche der Tarifautonomie: Problem benennen, Strategie entwickeln, Gestaltungswillen bezeugen"

Der Präsident des Senats Bremen, 9. Mai 2019 der Freien Hansestadt Bremen

An den Präsidenten des Bundesrates
Herrn Ministerpräsidenten
Daniel Günther

Sehr geehrter Herr Präsident,
im Namen der Länder Bremen, Brandenburg und Thüringen übersende ich hiermit den Antrag Entschließung des Bundesrates "Funktionsschwäche der Tarifautonomie: Problem benennen, Strategie entwickeln, Gestaltungswillen bezeugen".

Ich bitte Sie, die Vorlage gemäß § 36 Absatz 2 der Geschäftsordnung des Bundesrates auf die Tagesordnung der 977. Sitzung des Bundesrates am 17. Mai 2019 zu setzen und anschließend den zuständigen Ausschüssen zur Beratung zuzuweisen.

Mit freundlichen Grüßen
Dr. Carsten Sieling
Bürgermeister

Entschließung des Bundesrates "Funktionsschwäche der Tarifautonomie: Problem benennen, Strategie entwickeln, Gestaltungswillen bezeugen"

Der Bundesrat möge folgende Entschließung fassen:

Begründung:

Zu 1.

Die Tarifbindung hat insgesamt in erheblichem Umfang an Bedeutung verloren.

Bereits im Jahr 2014 waren nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 85 Prozent der Betriebe nicht mehr tarifgebunden; 55 Prozent der Beschäftigten waren in Betrieben ohne Tarifbindung tätig.1 Die Daten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung fallen geringfügig besser aus, belegen jedoch den anhaltenden Abwärtstrend.2

Auch wenn sich die Situation in den Branchen und Regionen teilweise unterschiedlich darstellt, ist in der Wissenschaft von "schleichendem Erosionsprozess"3 und "Funktionsschwäche der Tarifautonomie" 4 die Rede.

Es ist auch die Wissenschaft, die klarstellt, dass die deutsche Tarifautonomie dort funktioniert, wo die Gewerkschaften genug Mitglieder haben.5 Bei allen Vorteilen, die eine Regelung von Arbeitsbedingungen in Tarifverträgen auch für die Arbeitgeber mit sich bringt: Ohne einigermaßen starke Gewerkschaften werde es auf längere Sicht keine Arbeitgeberverbände mehr geben.6

Die Zahl der gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten hat jedoch drastisch abgenommen. Nach Angaben des DGB ist die Zahl der Mitglieder in den DGB-Gewerkschaften von rund 11,8 Mio. im Jahr 1991 auf rund 5,9 Mio. im Jahr 2018 zurückgegangen. Selbst darunter befinden sich noch Personen, die keiner abhängigen Beschäftigung nachgehen (insbesondere Rentner).

Vor diesem Hintergrund ist anzunehmen, dass deutlich weniger als 20 Prozent der Beschäftigten in einer Gewerkschaft organisiert sind.

Der Schwächung der Gewerkschaften durch Mitgliederschwund steht spiegelbildlich auch ein Bedeutungsverlust von Arbeitgeberverbänden - insbesondere durch die Zulassung von Mitgliedschaften ohne Tarifbindung (sog. OT-Mitgliedschaften) - gegenüber. Dies wiegt umso schwerer, als sich Arbeitgeberverbände mit OT-Mitgliedern regelmäßig nicht in der Lage sehen, gemeinsam mit der jeweiligen Gewerkschaft einen Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung der zwischen ihnen abgeschlossenen Tarifverträge zu stellen.

Infolge des erheblichen Bedeutungsverlustes der Koalitionen ist die Ordnung des Arbeitslebens durch Tarifverträge in Bedrängnis geraten. Bereits im Jahr 2014 sollte die tarifliche Ordnung durch eine Neuregelung der Allgemeinverbindlicherklärung im Tarifvertragsgesetz mit dem Tarifautonomiestärkungsgesetz abgestützt werden. Ausweislich der Begründung der damaligen gesetzlichen Neuregelung ist es ausdrückliches Ziel gewesen, die Allgemeinverbindlicherklärung "zu erleichtern" und eine Situation zu überwinden, in der "die Nutzung des Instruments der Allgemeinverbindlicherklärung gehemmt" war.

In den seither vergangenen Jahren wurde jedoch die Zahl der jährlich vorgenommenen Allgemeinverbindlicherklärungen nicht gesteigert. Im Jahr 1992 wurden 205 Tarifverträge allgemeinverbindlich erklärt, im Jahr 2015 waren es 38;7 im Jahr 2018 gingen bei den obersten Arbeitsbehörden 26 Anträge auf Allgemeinverbindlicherklärung ein, von denen ein Antrag abgelehnt wurde.8

Zu diesen Feststellungen hinsichtlich der Zielerreichung tritt hinzu, dass das Tarifautonomiestärkungsgesetz ein Dilemma berührt, das seiner Auflösung harrt: Werden wesentliche Arbeitsbedingungen aufgrund gesetzesähnlicher Wirkungserstreckung von Tarifverträgen verbindlich vorgegeben, sinkt auf Seiten der Beschäftigten der Anreiz, Mitglied einer Gewerkschaft zu werden, weiter. Etwas anderes gilt nur dann, wenn derartige Maßnahmen zumindest begleitet werden durch Anreize zum Zusammenschluss in Koalitionen und zur Wahrnehmung der Tarifautonomie, wie sie gedacht ist: Als staatsferne Selbsthilfe der Betroffenen, die ihre Angelegenheiten am besten selbst regeln können.9

Zu 2.

Es bedarf einer Strategie, um bestehende Ansätze zur Stützung der tariflichen Ordnung zu verbessern und neue Ansätze zu entwickeln. Dabei ist darauf zu achten, dass nicht nur auf die Wirkungen gezielt, sondern bei den Ursachen des Problems angesetzt wird.

Zu 2.1

Die Neuregelung der Allgemeinverbindlichkeit durch das Tarifautonomiestärkungsgesetz hatte bislang nicht die gewünschten Effekte. Ursächlich dafür sind auch rechtliche Unsicherheiten, die der Umgang mit den geänderten Regelungen des Tarifvertragsgesetzes mit sich gebracht hat. Diese gilt es nun ohne weiteres Zögern zu beheben. Die zaghafte Entwicklung der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen legt es nahe, nach weiteren Ansätzen zur Erleichterung der Wirkungserstreckung von Tarifverträgen im Wege der Allgemeinverbindlicherklärung zu suchen.

Zu 2.1.1.1

Nach der bis zum Jahr 2014 geltenden Fassung reichte es aus, wenn der Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung von nur einer der beiden Tarifvertragsparteien gestellt wurde. Mit einer Wiedereinführung dieser Regelung würde der Annahme begegnet, wonach restriktive Interpretationen der gesetzlichen Voraussetzungen einzelne Branchenverbände bereits davon abhalten könnten, überhaupt einen Antrag zu stellen.

Zu 2.1.1.2, 2.1.2.1 und 2.1.2.2

Durch Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen soll der Praxis entgegengewirkt werden, dass derzeit Anträge auf Allgemeinverbindlicherklärungen am Widerstand einer Seite im Tarifausschuss scheitern können. Nach der derzeitigen Regelung kann die Zustimmung zu einem Antrag von einer Seite auch von Einschränkungen der Allgemeinverbindlicherklärung abhängig gemacht werden.

Es ist teilweise in den Tarifausschüssen zu beobachten, dass die Prüfungsmaßstäbe von Ausschussmitgliedern in einer Weise interpretiert werden, die den Wertungen und Zielen des Gesetzgebers entgegensteht. Dem soll durch Klarstellungen im Gesetzestext entgegengewirkt werden.

Zu 2.1.2.3

Das Bundesarbeitsgericht geht davon aus, dass es unerheblich ist, ob ein Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung mit Einschränkungen hinsichtlich des Geltungsbereiches gestellt wird.10 Auch in einem solchen Fall sei die maßgebliche Vergleichszahl zur Feststellung einer "überwiegenden Bedeutung" ausschließlich der (uneingeschränkte) Geltungsbereich des Tarifvertrags - denn ein anderweitiger etwaiger gesetzgeberischer Wille habe keinen erkennbaren Niederschlag gefunden. Das führt zu einer unnötigen Erschwernis der Wirkungserstreckung von Tarifverträgen.

Zu 2.1.3

Die Tariforientierung nicht tarifgebundener Betriebe ist mit dem Tarifautonomiestärkungsgesetz zu einem möglichen Anknüpfungspunkt bei der Feststellung der Voraussetzungen einer Allgemeinverbindlicherklärung geworden. Es fehlt insoweit jedoch an jeweils aktuellen Daten, die verlässlich und regional differenziert in den einzelnen Branchen verwendet werden können. Der Bundesrat hatte bereits in seiner Stellungnahme zum Tarifautonomiestärkungsgesetz im Jahr 2014 darum gebeten, die erforderliche Datengrundlage zu schaffen, die eine Anwendung der modifizierten Voraussetzung für eine Allgemeinverbindlicherklärung ermöglicht.11

Zu 2.2

Prof. Dr. Martin Franzen hat mit seinem Gutachten aus dem Jahr 2018 einen Vorschlag zur Stärkung der Tarifautonomie vorgelegt, der bei den Ursachen des gegenwärtigen Problems ansetzt.12 Er regt steuerrechtliche Anreize an, um die Attraktivität des mitgliedschaftlichen Zusammenschlusses in Koalitionen attraktiv zu machen. Diese Überlegungen sollten auf ihre Umsetzbarkeit geprüft werden.