Punkt 91 der 847. Sitzung des Bundesrates am 19. September 2008
Der Bundesrat möge beschließen, sich zu den in der Drucksache 606/08 (PDF) unter den Buchstaben b und c genannten Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht - Vertrag von Lissabon -wie folgt zu äußern:
- 1. Der Bundesrat bekräftigt seine am 23. Mai 2008 mit der in Artikel 23 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. Artikel 79 Abs. 2 des Grundgesetzes vorgeschriebenen Zweidrittelmehrheit erteilte Zustimmung zu dem Vertrag von Lissabon und seinen Begleitgesetzen - BR-Drs. 275/08(B) . Der Vertrag von Lissabon ist nach Überzeugung des Bundesrates verfassungskonform.
- 2. Der Bundesrat tritt dafür ein, dass der Vertrag von Lissabon und seine Begleitgesetze möglichst noch vor den Europawahlen 2009 in Kraft treten können. Der Vertrag von Lissabon stärkt die Handlungsfähigkeit der Institutionen in einer EU mit 27 Mitgliedstaaten und ist notwendig zur Bewältigung der großen Herausforderungen der EU. Zu nennen sind insbesondere die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit Europas und des europäischen Sozialmodells, die Bekämpfung von Terrorismus, schwerer grenzüberschreitender Kriminalität und illegaler Einwanderung, die Energieversorgungssicherheit sowie der Umwelt- und Klimaschutz und eine wirksame Vertretung der Werte und Interessen Europas im internationalen Rahmen.
- 3. Der Bundesrat weist darauf hin, dass eine weitere wesentliche Verzögerung der Revision der europäischen Verträge die Europäische Union in vielen ihrer Aufgabenfelder daran hindern würde, die dringend notwendigen Fortschritte zu erzielen. Die berechtigten Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger in den Mitgliedstaaten, aber auch in den Beitritts- und Nachbarstaaten würden enttäuscht und Europas Stellung in der Welt geschwächt.
- 4. Das Grundgesetz bekennt sich in Satz 1 seiner Präambel und in Artikel 23 Abs. 1 Satz 1 zur Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland an der Verwirklichung eines vereinten Europa. Die Zustimmung des Bundesrates am 23. Mai 2008 erfolgte in dem Bewusstsein, dass der Vertrag von Lissabon und seine Begleitgesetze besser als jemals zuvor den Auftrag des Grundgesetzes umsetzen, dass die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mitwirkt, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen dem Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet.
- 5. Der Bundesrat betrachtet es nicht als seine Aufgabe, zu den mit den Verfahren 2 BvE 2/08, 2 BvE 5/08, 2 BvR 1010/08, 2 BvR 1022/08 und 2 BvR 1259/08 verbundenen prozessualen Fragen Stellung zu nehmen.
Allerdings weist der Bundesrat darauf hin, dass die erhobenen verfassungsrechtlichen Bedenken gegen den Vertrag von Lissabon teilweise Rechtsmeinungen enthalten, die einer Grundlage im Text des Vertrags von Lissabon entbehren. Hierzu zählt beispielsweise der Versuch, eine Relativierung der Menschenwürde zu konstruieren, obwohl Artikel 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union wortgleich mit Artikel 1 des Grundgesetzes den Schutz der Menschenwürde garantiert. Auch der behauptete Verstoß gegen das Friedensgebot und das völkerrechtliche Gewaltverbot ist nicht gegeben, da der Vertrag von Lissabon die Förderung des Friedens in besonderer Weise durch seinen Artikel 3 Abs. 1 EUV n.F. zu dem ersten und wichtigsten Ziel der Europäischen Union erklärt und auf die entsprechenden Festlegungen der UN-Charta Bezug nimmt.
Weiter weist der Bundesrat darauf hin, dass in den vorgenannten Verfahren eine Reihe von verfassungsrechtlichen Rügen erhoben wird, die das Bundesverfassungsgericht bereits im Zusammenhang mit der Überprüfung früherer Revisionen der europäischen Verträge verworfen hat. Diesbezüglich werden auch keine neuen Gesichtspunkte vorgetragen. Diese Rügen sind daher aus Sicht des Bundesrates unerheblich.
Im Übrigen erfolgt die Äußerung zu materiellrechtlichen Rügen ungeachtet ihrer Zulässigkeit.
- 6. Der Bundesrat beschränkt sich auf eine Stellungnahme zu folgenden verfassungsrechtlichen Bedenken der Kläger:
a) Vorwurf der mangelnden demokratischen Legitimation der Europäischen Union
In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist anerkannt, dass die demokratische Legitimation einer supranationalen Einheit wie der Europäischen Union nicht identisch mit der demokratischen Legitimation im Nationalstaat sein kann. Denn unabhängig davon, wie man die Europäische Union von ihrer Rechtsnatur her einordnet, ist unstreitig, dass sie nicht wie ein Nationalstaat organisiert ist und mithin nationale Strukturen auch nicht eins zu eins auf die Europäische Union übertragen werden können. Die demokratische Legitimation der Europäischen Union erfolgt durch die Rückkopplung des Handelns europäischer Organe an die Parlamente der Mitgliedstaaten und durch das von den Bürgern der Mitgliedstaaten gewählte Europäische Parlament. Das Demokratieprinzip wird auf diese Weise durch den Vertrag von Lissabon wesentlich gestärkt.
Im Einzelnen:
aa) Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments
Durch den Vertrag von Lissabon werden die Rechte des Europäischen Parlaments deutlich gestärkt, indem
- 1 das Mitentscheidungsverfahren zum ordentlichen Rechtsetzungsverfahren erhoben wird und damit dem Europäischen Parlament gleiche Rechte wie dem Rat eingeräumt werden;
- 2 im Bereich des Haushaltsrechts das Europäische Parlament gemäß Artikel 14 Abs. 1 Satz 1 EUV n.F. gleichberechtigt mitentscheidet; so hat das Europäische Parlament in Zukunft das Mitentscheidungsrecht über alle Ausgaben der EU, indem die Unterscheidung zwischen obligatorischen und nicht obligatorischen Ausgaben aufgehoben wurde;
- 3 die Wahl des Präsidenten der Europäischen Kommission durch das Europäische Parlament gemäß den Mehrheitsverhältnissen, die sich aus den Europawahlen ergeben, durchgeführt wird und das Kollegium der Europäischen Kommission samt ihres Präsidenten und des Hohen Vertreters für Außen- und Sicherheitspolitik gemäß Artikel 17 Abs. 7 UAbs. 3 EUV n.F. eines Zustimmungsvotums des Europäischen Parlaments bedarf;
- 4 die Rechtsmaterien der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen in den supranationalen Bereich überführt werden und damit das Mitentscheidungsrecht des Europäischen Parlaments grundsätzlich auch für diese Materien eingeführt wird;
bb) Verbesserte demokratische Legitimation der Europäischen Kommission
Der Vertrag von Lissabon führt durch die unter Doppelbuchstabe aa ausgeführten Rechte des Europäischen Parlaments gleichzeitig zu einer stärkeren demokratischen Legitimation der Kommission.
cc) Größere Transparenz durch öffentliche Ratssitzungen
Durch die Einführung öffentlicher Sitzungen des Rates im Legislativbereich wird die Transparenz seiner Entscheidungen erhöht. Damit kann auch eine stärkere Kontrolle der Arbeit der Regierungsvertreter durch die Bürger und die nationalen Parlamente erfolgen.
dd) Die gestärkte Rolle der nationalen Parlamente
Die nationalen Parlamente werden durch das Frühwarnsystem aus eigenem Recht Beteiligte am EU-Gesetzgebungsverfahren (Artikel 12 EUV n.F.). Sie erhalten wichtige Kontrollrechte, die durch ein Klagerecht ergänzt werden. Nach Artikel 5 EUV n.F., Artikel 69 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEUV) i.V.m. dem Protokoll Nr. 2 über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit erhalten sie die Möglichkeit der Subsidiaritätsrüge und -klage und werden auf diese Weise zum Hüter der mitgliedstaatlichen Souveränität. Auch die regionalen Parlamente, in Deutschland die Landtage, können an dem neuen Frühwarnsystem beteiligt werden.
Weiterhin werden die nationalen Parlamente über Artikel 69 bis 71 AEUV erstmals an der Unionspolitik zum Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts beteiligt. Über das sogenannte "Notbremseverfahren" der Artikel 82 Abs. 3 und Artikel 83 Abs. 3 AEUV im Strafrecht erhalten die nationalen Parlamente die Möglichkeit, auf europäische Rechtsakte Einfluss zu nehmen: Nach dem Protokoll Nr. 1 über die Rolle der nationalen Parlamente in der Union, nach dem Frühwarnsystem sowie aufgrund von Artikel 69 AEUV erhalten sie die Entwürfe für Rechtsakte sowie weitere Materialien des Rechtsetzungsprozesses so frühzeitig, dass für sie die Möglichkeit besteht, in angemessener Weise auf ihren jeweiligen Regierungsvertreter im Rat mit dem Ziele einzuwirken, die "Notbremse" auch tatsächlich zu betätigen. Auch in die politische Kontrolle von Europol und die Bewertung der Tätigkeit von Eurojust werden die nationalen Parlamente nach Artikel 85 Abs.1, Artikel 88 Abs. 2 AEUV eingebunden.
Besondere Bedeutung kommt den nationalen Parlamenten zudem noch im Bereich von Passerelle-Klauseln wie Artikel 48 Abs. 7 EUV n.F. und Artikel 81 Abs. 3 AEUV zu, bei denen allein der Widerspruch eines einzelnen nationalen Parlaments den Übergang vom Einstimmigkeits- zum Mehrheitsprinzip verhindert.
Die im Vorfeld der innerstaatlichen Ratifizierung durchgeführten Anhörungen sowie die begleitend gefassten Entschließungen belegen, dass es sich hier nicht um theoretische Einwirkungsmöglichkeiten handelt, sondern diese zusätzlichen Aufgaben erkannt und angenommen wurden - BT-Drs. 016/8917, Ziffer 2; BR-Drs. 275/08(B) -.
ee) Stärkung der Rolle des Ausschusses der Regionen
Die Kompetenzen des Ausschusses der Regionen (AdR), dessen Mitglieder entweder ein auf Wahlen beruhendes Mandat in einer regionalen oder lokalen Gebietskörperschaft innehaben oder gegenüber einer gewählten Versammlung politisch verantwortlich sind, werden durch den Vertrag von Lissabon gestärkt. Gemäß Artikel 263 AEUV erhält der AdR ein Klagerecht zur Wahrung seiner Rechte. Zudem erhält der AdR auch ein Klagerecht zur Wahrung des Subsidiaritätsprinzips.
b) Vorwurf der Entstaatlichung der Bundesrepublik Deutschland zugunsten einer europäischen Staatlichkeit
Durch den Vertrag von Lissabon erlangt die Europäische Union keine eigene Staatlichkeit. Weder zielt der Vertrag von Lissabon auf einen europäischen Bundesstaat noch ebnet er einem solchen implizit den Weg. Die Rolle der Mitgliedstaaten wird vielmehr gestärkt, weil eine wesentlich verbesserte Kompetenzabgrenzung sowie eine politische und gerichtliche Kontrolle europäischer Maßnahmen einer nur sehr begrenzten zusätzlichen Übertragung von Hoheitsrechten gegenüber stehen. Wie weit die Europäische Union auch nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon von einer Bundesstaatlichkeit entfernt sein wird, wird gerade auch durch die kaum supranational ausgestaltete europäische Außen- und Sicherheitspolitik belegt, bei der die Mitgliedstaaten nur geringe Zugeständnisse an die Europäische Union gemacht haben.
aa) Verbesserte Kompetenzabgrenzung
Gemäß Artikel 4 Abs. 1 EUV n.F. haben grundsätzlich die Mitgliedstaaten die Zuständigkeit, tätig zu werden. Die Kompetenzen der EU werden durch den Vertrag von Lissabon klarer von denen der Mitgliedstaaten und Regionen abgegrenzt. Es werden hierzu Kompetenzkategorien - ausschließliche, konkurrierende und ergänzende Zuständigkeiten der Europäischen Union - eingeführt. Dabei wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Ermächtigung der EU bei ergänzenden Zuständigkeiten nicht an die Stelle der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten tritt. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung wird darüber hinaus durch die Klarstellung gestärkt, dass Zielbestimmungen im EU-Vertrag keine eigenen Kompetenzen begründen können. Damit wird die Kompetenzabgrenzung transparenter und strikter, was vor allem auch der Wahrung der Rechte der deutschen Länder dient.
bb) Begrenzte Übertragung zusätzlicher Kompetenzen auf die Europäische Union
Zwar sieht der Vertrag von Lissabon zum Teil von den Ländern kritisierte Erweiterungen von EU-Kompetenzen (z.B. in den Bereichen Daseinsvorsorge, Sport und Tourismus) vor. Insgesamt werden aber durch den Vertrag von Lissabon nur in begrenztem Umfang zusätzliche Hoheitsrechte auf die Europäische Union übertragen. Insbesondere werden in der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen Eigenheiten der bisherigen Dritten Säule aufgelöst und einzelne zusätzliche Handlungsmöglichkeiten geschaffen.
Die Zuordnung neuer Aufgaben in der EU in einigen Politikfeldern, wie etwa in den Bereichen Klima- und Energiepolitik, führt nicht zu wesentlichen Kompetenzerweiterungen. So wird der Artikel über den Umweltschutz lediglich ergänzt um Maßnahmen auf internationaler Ebene zur Bekämpfung des Klimawandels, die in bereits bestehende Maßnahmen auf regionaler und internationaler Ebene eingebettet sind. Auch im Energiebereich hat die EU gestützt auf den Binnenmarktartikel bereits jetzt Maßnahmen durchgeführt, die nun lediglich einer klaren Kompetenznorm zugeordnet werden können und dadurch zu höherer Transparenz und Klarheit beitragen.
Diesen begrenzten zusätzlichen Hoheitsrechten stehen eine wesentlich verbesserte Kompetenzabgrenzung sowie politische und gerichtliche Kontrolle gegenüber. Auch nach Übertragung des derzeitigen Artikels 6 Abs. 4 EUV in den neuen Artikel 311 Abs. 1 AEUV gilt die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts im Maastricht-Urteil, dass diese Vorschrift die EU nicht ermächtigt, sich aus eigener Macht die Finanzmittel zu verschaffen, die sie zur Erfüllung ihrer Zwecke für erforderlich erachtet.
cc) Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten durch die Union
Artikel 4 Abs. 2 EUV n.F. enthält die Anerkennung der Achtung der nationalen Identität, die auch die politische und verfassungsrechtliche Struktur einschließlich der regionalen und kommunalen Selbstverwaltung umfasst. Damit werden von der Europäischen Union die mitgliedstaatlichen Strukturen anerkannt und dürfen folglich auch nicht angetastet werden.
dd) Recht auf Austritt
Mit dem in Artikel 50 EUV n.F. neu eingefügten ausdrücklichen Recht eines Mitgliedstaates, aus der Europäischen Union auszutreten, wird die dem Lissabon-Vertrag zugrunde liegende Überzeugung, dass die Mitgliedstaaten in ihrer souveränen Staatlichkeit nicht angetastet werden sollen, zusätzlich unterstrichen.
- 7. Der Bundesrat behält sich weitere Stellungnahmen vor.