Punkt 23a der 896. Sitzung des Bundesrates am 11. Mai 2012 und zu
Punkt 23b Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. Februar 2012 zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus - Drucksache 165/12 (PDF) - Punkt 23c Entwurf eines Gesetzes zur finanziellen Beteiligung am Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM-Finanzierungsgesetz - ESMFinG) - Drucksache 166/12 (PDF) - Der Bundesrat möge ergänzend zu den Empfehlungen der Ausschüsse zu den Gesetzentwürfen gemäß Artikel 76 Absatz 2 des Grundgesetzes wie folgt Stellung nehmen:
Zu den Gesetzentwürfen allgemein
- 1. Aufgrund der Anwendbarkeit von Artikel 23 GG als Ratifikationsgrundlage des ESM-Vertrages steht dem Bundesrat im vorliegenden Fall grundsätzlich eine Beratungsfrist von neun Wochen zu. Ungeachtet dessen nimmt der Bundesrat bereits jetzt zu dem Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. Februar 2012 Stellung.
- 2. Der Bundesrat erinnert an seinen Beschluss in der BR-Drucksache 369/11 (PDF) . Er ist der Auffassung, dass im Hinblick auf den Vollzug des ESM-Vertrages an sich schon die Mitwirkungsrechte aus Artikel 23 GG und den entsprechenden Zusammenarbeitsgesetzen in EU-Angelegenheiten Anwendung finden. Er wiederholt seine Forderung nach einer gesetzlichen Regelung seiner Mitwirkungsrechte. Aus systematischen Gründen präferiert der Bundesrat eine klarstellende Regelung der Mitwirkungsrechte in den Gesetzen über die Zusammenarbeit in EU-Angelegenheiten. Der Bundesrat fordert daher mittelfristig eine Konsolidierung der Mitwirkungsrechte in EU-Angelegenheiten in einem Gesetz, trägt aber aktuell die Regelung der Mitwirkungsrechte im ESM-Finanzierungsgesetz mit.
Zum Entwurf eines Gesetzes zur finanziellen Beteiligung am Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM-Finanzierungsgesetz - ESMFinG), BR-Drucksache 166/12 (PDF)
3. Zu § 3 ESMFinG
§ 3 ist wie folgt zu fassen:
" § 3 Beteiligung des Bundesrates
- (1) Die Bundesregierung beteiligt den Bundesrat in Angelegenheiten dieses Gesetzes und berücksichtigt seine Stellungnahmen.
- (2) Gibt der Bundesrat eine Stellungnahme nach Absatz 1 zu einer Stabilitätshilfe und der Festsetzung der Bedingungen für deren Bereitstellung im Rahmen des Europäischen Stabilitätsmechanismus ab, ist die Bundesregierung verpflichtet, eine Abweichung von der Stellungnahme des Bundesrates zu begründen. Das soll nach Möglichkeit vor einer Beschlussfassung im Gouverneursrat des Europäischen Stabilitätsmechanismus geschehen."
4. Zu § 3a - neu - ESMFinG
Nach § 3 ist folgender § 3a einzufügen:
" § 3a Unterrichtung des Bundesrates durch die Bundesregierung
- (1) Die Bundesregierung hat den Bundesrat in Angelegenheiten dieses Gesetzes umfassend, zum frühestmöglichen Zeitpunkt, fortlaufend und in der Regel schriftlich zu unterrichten. Die Bundesregierung unterrichtet darüber hinaus auf Verlangen des Bundesrates mündlich.
- (2) Die Bundesregierung übermittelt dem Bundesrat alle ihr zur Verfügung stehenden Dokumente, die zur Ausübung der Beteiligungsrechte des Bundesrates nach § 3 dienlich sind.
- (3) Die Bundesregierung übermittelt dem Bundesrat alle Dokumente und Einschätzungen, die auch dem Deutschen Bundestag übermittelt werden. Sie informiert insbesondere über:
- 1. die Entscheidung nach Artikel 13 Absatz 2 des ESM-Vertrags, einer Vertragspartei des Europäischen Stabilitätsmechanismus auf deren Hilfeersuchen Stabilitätshilfe in Form einer im ESM-Vertrag vorgesehenen Finanzhilfefazilität zu gewähren,
- 2. die Annahme einer Vereinbarung über die Finanzhilfefazilität nach Artikel 13 Absatz 3 Satz 3 des ESM-Vertrags und Zustimmung zu einem entsprechenden Memorandum of Understanding nach Artikel 13 Absatz 4 des ESM-Vertrags,
- 3. Entscheidungen über die Bereitstellung zusätzlicher Instrumente einer bestehenden Finanzhilfe oder wesentliche Änderungen der Bedingungen der Finanzhilfefazilität,
- 4. Änderungen des ESM-Vertrags bzw. Beschlüsse im Rahmen des Europäischen Stabilitätsmechanismus zur Veränderung des genehmigten Stammkapitals sowie des maximalen Darlehensvolumens nach Artikel 10 Absatz 1 des ESM-Vertrags sowie zur Änderung der Liste der Finanzhilfeinstrumente nach Artikel 19 des ESM-Vertrags,
- 5. Beschlüsse über den Abruf von Kapital nach Artikel 9 Absatz 1 des ESM-Vertrags sowie die Annahme oder wesentliche Änderung der Regelungen und Bedingungen, die für Kapitalabrufe nach Artikel 9 Absatz 4 des ESM-Vertrags gelten,
- 6. die Annahme oder wesentliche Änderung der Leitlinien des Direktoriums des ESM zu Stabilitätshilfen in den Fällen der Artikel 14 bis 18 des ESM-Vertrags und der Preisgestaltungsleitlinien nach Artikel 20 Absatz 2 des ESM-Vertrags.
- 7. Beschlüsse über die Auszahlung einzelner Tranchen der gewährten Stabilitätshilfe.
- (4) Dem besonderen Schutzbedürfnis laufender vertraulicher Verhandlungen trägt der Bundesrat durch eine vertrauliche Behandlung Rechnung.
- (5) Im Falle des Stabilitätshilfeersuchens einer Vertragspartei des Europäischen Stabilitätsmechanismus nach Artikel 13 Absatz 1 des ESM-Vertrags übermittelt die Bundesregierung dem Bundesrat zum frühestmöglichen Zeitpunkt nach Antragstellung eine erste Einschätzung zu Inhalt und Umfang der beantragten Hilfen. Beabsichtigt die Bundesregierung, der Gewährung der Stabilitätshilfe zuzustimmen, übermittelt sie zum frühestmöglichen Zeitpunkt eine umfassende Einschätzung zu Inhalt und Umfang der beantragten Hilfen sowie eine Stellungnahme zu der Bewertung der Kommission nach Artikel 13 Absatz 1 des ESM-Vertrags und eine Abschätzung der finanziellen Folgen.
- (6) Der Bundesrat ist darüber hinaus regelmäßig über das Finanzmanagement des Europäischen Stabilitätsmechanismus im Sinne des Kapitels 5 des ESM-Vertrags schriftlich zu unterrichten. Die Bundesregierung übermittelt ihm zudem die nach Artikel 27 Absatz 2 des ESM-Vertrags zusammengefassten Quartalsabschlüsse sowie die Gewinn- und Verlustrechnung des Europäischen Stabilitätsmechanismus.
- (7) Die fortlaufende Unterrichtung der Bundesregierung enthält auch Angaben zur jeweiligen Berücksichtigung der nach diesem Gesetz abgegebenen Stellungnahmen des Bundesrates bei den Verhandlungen.
- (8) Wenn bei Staatsanleihekäufen auf dem Sekundärmarkt nach Artikel 18 ESM-Vertrag eine besondere Vertraulichkeit vorliegt, hat die Bundesregierung den Bundesrat unverzüglich zu unterrichten, sobald die Gründe der besonderen Vertraulichkeit nicht mehr vorliegen."
Begründung:
Dem Bundesrat muss es möglich sein, in Angelegenheiten des Europäischen Stabilitätsmechanismus seine Integrationsverantwortung und seine Verantwortung zur Kontrolle des Haushaltsvollzugs wahrzunehmen.
Sowohl die Gewährung von Stabilitätshilfe als auch die Festlegung von deren Modalitäten sind aus Sicht der Länder EU-Vorhaben und die Beteiligungsrechte des Bundesrates in EU-Angelegenheiten (Artikel 23 GG und EUZBLG) somit einschlägig.
Die Gewährung einer Stabilitätshilfe des ESM kann Auswirkungen auf die Einnahmen und Ausgaben des Bundeshaushalts einschließlich der Kreditaufnahme des Bundes haben. Damit sind auch Länderinteressen berührt.
Da die Maßnahmen des ESM Interessen der Länder berühren, ist Artikel 23 Absatz 5 GG einschlägig. Danach muss die Bundesregierung eine Stellungnahme des Bundesrates berücksichtigen. Zur "Berücksichtigung" einer Stellungnahme des Bundesrates nach Artikel 23 Absatz 5 GG gehört aus Sicht der Länder, dass sich die Bundesregierung mit entsprechenden Stellungnahmen befasst und sich mit ihnen auseinandersetzt (so auch Jarass in: Jarass/Pieroth, GG, Artikel 23 GG Rn. 58). Wenn die Bundesregierung von einer solchen Stellungnahme abweichen will, so sollte sie dies dem Bundesrat gegenüber - schon nach den Grundsätzen der Verfassungsorgantreue - mit entsprechender Begründung tun. Schon nach geltendem Recht muss die Bundesregierung die maßgeblichen Gründe für ein Abweichen nach Abschluss eines EU-Vorhabens auf Verlangen des Bundesrates mitteilen. Damit der Bundesrat bei einer Abweichung von einer Stellungnahme des Bundesrates zu einer Finanzhilfe ggf. nochmals Stellung nehmen kann, sollen die Gründe für eine Abweichung nach Möglichkeit vor der Beschlussfassung im Gouverneursrat des ESM erfolgen. Des Weiteren haben die Länder bei der Aufstellung des Haushaltes nach Artikel 110 GG sowie bei der Übernahme von Gewährleistungen nach Artikel 115 GG das Recht, nach erfolgloser Durchführung eines Vermittlungsverfahrens Einspruch einzulegen. Zur Kompensation der fehlenden Einspruchsmöglichkeit fordern die Länder daher die Begründungspflicht der Bundesregierung im Falle einer geplanten Abweichung von einem Bundesratsbeschluss. Eine Bindungswirkung besteht nicht. Der Bundesrat fordert kein Vetorecht bezüglich der Gewährung von Stabilitätshilfe und der Auflagen.
Aus Artikel 23 Absatz 2 GG folgt außerdem, dass Bundestag und Bundesrat in EU-Angelegenheiten gleichrangig zu unterrichten sind. Im Hinblick auf das Urteil des BVerfG vom 28. Februar 2012 zum sog. 9-er Gremium muss jedoch eine Ausnahme aufgenommen werden, aus der hervorgeht, dass in Fällen von Sekundärmarkt-Unterstützungsfazilitäten im Sinne von Artikel 18 ESM-Vertrag eine Unterrichtung erst erfolgt, wenn die Gründe für die besondere Vertraulichkeit weggefallen sind.
Zum Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. Februar 2012 zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus, BR-Drucksache 165/12 (PDF)
5. Zu Artikel 1a - neu - Nach Artikel 1 ist folgender Artikel 1a einzufügen:
"Artikel 1a
Eine Zustimmung der Bundesrepublik Deutschland zur Änderung des ESM-Vertrags erfolgt durch ein Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates." Begründung:
Aus Sicht der Länder ist der ESM-Vertrag nach Artikel 23 Absatz 1 GG zu ratifizieren. Hieraus folgt, dass auch zukünftige Änderungen des ESM-Vertrags wiederum einer Zustimmung des Bundesrates bedürfen.
6. Zu Artikel 2:
Artikel 2 ist wie folgt zu fassen:
"Artikel 2
- (1) Erhöhungen des genehmigten Stammkapitals nach Artikel 10 Absatz 1 des Vertrags bedürfen zum Inkrafttreten einer bundesgesetzlichen Ermächtigung mit Zustimmung des Bundesrates zur Bereitstellung weiteren Kapitals.
- (2) Der deutsche Vertreter darf einem Beschlussvorschlag zur Änderung der Finanzhilfeinstrumente nach Artikel 19 des Vertrages nur zustimmen oder sich bei der Abstimmung über einen solchen Beschlussvorschlag der Stimme enthalten, wenn er hierzu zuvor durch Bundesgesetz mit Zustimmung des Bundesrates ermächtigt wurde."
Begründung:
Bei Nutzung der vertragsimmanenten Änderungsklauseln der Artikel 10 und 19 ESM-Vertrag handelt es sich um substantielle Änderungen des ESM-Vertrags, die auch im Zeitpunkt der Zustimmung zu dem Gesetz zu dem Vertrag vom 2. Februar 2012 zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus nicht überschaubar sein werden. Deshalb berührt die Nutzung der vertragsimmanenten Änderungsklauseln erneut die Integrationsverantwortung von Bundestag und Bundesrat. Auch diese im Vertrag angelegten Evolutivklauseln bedürfen daher erneut eines Zustimmungsgesetzes nach Artikel 23 Absatz 1 GG.