Der Bundesrat hat in seiner 983. Sitzung am 29. November 2019 die aus der Anlage ersichtliche Entschließung gefasst
Anlage
Entschließung des Bundesrates - Schutz von Versicherungsnehmerinnen und Versicherungsnehmern vor laufender Erhebung hochsensibler Gesundheitsdaten zu Zwecken der Tarifgestaltung in der Krankenversicherung
- 1. Der Bundesrat betont, dass die Digitalisierung, insbesondere im Gesundheitssektor, enorme Chancen birgt, um das Leben der Bürgerinnen und Bürger zu verbessern. Digitale Technologien können eine bessere und effizientere Versorgung und einen breiteren Zugang zu medizinischer Expertise gewährleisten, gerade auch in strukturschwächeren Regionen. Digitale Hilfsmittel können es den Bürgerinnen und Bürgern ermöglichen, eigenständig medizinische Parameter, wie zum Beispiel den Blutzucker, zu beobachten und sich bei Abweichungen mit ihrem Arzt in Verbindung zu setzen.
- 2. Dabei darf jedoch nicht aus dem Blick verloren werden, dass es sich bei Gesundheitsdaten um eine besondere Kategorie personenbezogener Daten nach Artikel 9 Absatz 1 Datenschutzgrundverordnung handelt, die überaus sensibel sind. Insbesondere die laufende automatisierte Datenübertragung, etwa durch Fitness-Tracker, lässt detaillierte Rückschlüsse über einzelne Personen zu. In Kombination mit anderweitig gewonnenen Daten ermöglichen sie die Erstellung umfassender individueller Gesundheitsprofile. Wie der Europarat in seiner Empfehlung vom 27. März 2019 (Recommendation CM/Rec(2019)2) zutreffend ausgeführt hat, sollten Big Data-Anwendungen im Gesundheitssektor mit rechtlichen und technischen Maßnahmen flankiert werden, die den effektiven Schutz jedes Individuums ermöglichen.
- 3. Die angesprochenen rechtlichen Maßnahmen müssen über rein datenschutzrechtliche Bestimmungen hinausgehen. Im Krankenversicherungswesen gilt es, das Grundprinzip von Versicherungen als eine Institution zur Übernahme von Risiken des Lebens durch einen Ausgleich im Versichertenkollektiv langfristig zu sichern. Diesem Grundprinzip läuft eine laufende automatisierte Übertragung hochsensibler Gesundheitsdaten an die Krankenversicherer oder deren Partnerunternehmen zur Tarifgestaltung zuwider, die beispielsweise durch Fitness-Tracker und die dazugehörigen Apps unproblematisch technisch möglich ist. Es besteht die Gefahr, dass sich mit der Einwilligung zur Datenübermittlung verbundene Self-Tracking-Tarife etablieren, die überwiegend von Versicherungsnehmerinnen und Versicherungsnehmern mit "guten" Risiken gewählt werden, wohingegen die anderen auf weniger günstige Tarife zurückgreifen müssen. Auch besteht die Gefahr der Kommerzialisierung der sensiblen Daten. Die bisherigen gesetzlichen Regelungen sind nicht ausreichend. Es gilt zu verhindern, dass Self-Tracking-Tarife den Krankenversicherungsmarkt durchdringen und sich Versicherungsnehmerinnen und Versicherungsnehmer aus ökonomischem Druck zur Preisgabe ihrer höchstpersönlichen Gesundheitsdaten veranlasst sehen.
- 4. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung daher dafür zu sorgen, dass die laufende (automatisierte) Erhebung hochsensibler Gesundheitsdaten zu Zwecken der Tarifgestaltung in der Krankenversicherung unabhängig von der Einwilligung der versicherten Person für unzulässig erklärt wird.
Begründung:
In jüngster Zeit ist auf dem deutschen Versicherungsmarkt zu beobachten, dass im Bereich der Risikolebens-, Unfall- und Erwerbsunfähigkeitsversicherung sowie der privaten Rentenversicherung Versicherungstarife angeboten werden, bei denen der Tarif unter anderem dadurch beeinflusst werden kann, dass die Versicherten Gesundheitsdaten über Trainingseinheiten, die sie mit Fitness-Trackern aufzeichnen, per App an ein Partnerunternehmen der Versicherer übermitteln. Bei derartigen Vertragskonstellationen können im Laufe der Zeit große Mengen an sensiblen Gesundheitsdaten erhoben, übertragen und gespeichert werden. Eine Ausweitung auf den Bereich der privaten Krankenversicherungen wird von den Versicherern geprüft.
Die Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister nahm die Entwicklung auf dem Versicherungsmarkt auf ihrer Frühjahrskonferenz im Juni 2017 zum Anlass, die Arbeitsgruppe "Digitaler Neustart" um Prüfung zu bitten, ob und wie sensible Gesundheitsdaten wirksam gegen Kommerzialisierung geschützt werden können. Auch die Verbraucherschutzministerkonferenz setzte eine Projektgruppe zur Beobachtung der Telematiktarife im Versicherungsbereich ein.
Sowohl die Arbeitsgruppe "Digitaler Neustart" als auch die Projektgruppe der Arbeitsgemeinschaft Wirtschaftlicher Verbraucherschutz "Telematiktarife im Versicherungsbereich" kamen zu dem Ergebnis, dass die Versicherungsnehmerinnen und Versicherungsnehmer in der Krankenversicherung vor einer laufenden Erhebung hochsensibler Gesundheitsdaten zu Zwecken der Tarifgestaltung zu schützen seien (vgl. Arbeitsgruppe "Digitaler Neustart", Berichte vom 1. Oktober 2018 und 15. April 2019, Seite 103 bis 127, und Abschlussbericht der Projektgruppe Arbeitsgemeinschaft Wirtschaftlicher Verbraucherschutz - "Telematiktarife im Versicherungsbereich" - Fassung vom 18. April 2019, Seite 9).
Die vorhandenen gesetzlichen Regelungen zur privaten Krankenversicherung, etwa zur Rechnungsgrundlage in § 203 Absatz 2 des Versicherungsvertragsgesetzes und zur Prämienanpassung in § 155 in Verbindung mit § 160 des Versicherungsaufsichtsgesetzes, stehen den denkbaren Vertragsgestaltungen, die eine laufende (automatisierte) Übermittlung von Gesundheitsdaten an den Versicherer oder dessen Partnerunternehmen zum Inhalt haben, bisher nicht ausreichend entgegen. In der gesetzlichen Krankenkasse wären hingegen entsprechende Tarifgestaltungen bereits aufgrund eines Verstoßes gegen das Solidarprinzip unzulässig (vgl. Arbeitsgruppe "Digitaler Neustart", Berichte vom 1. Oktober 2018 und 15. April 2019, Seite 103 bis 127).
Es gilt, das Grundprinzip von Versicherungen als eine Institution zur Übernahme von Risiken des Lebens durch einen Ausgleich im Versichertenkollektiv langfristig zu sichern. Diesem Grundprinzip läuft eine laufende automatisierte Übertragung hochsensibler Gesundheitsdaten zur Tarifgestaltung, etwa durch Fitness-Tracker, zuwider. Die laufende Datenübertragung ermöglicht es, umfassende individuelle Gesundheitsprofile zu erstellen, insbesondere, wenn die Daten aufgrund einer Einwilligung mit anderen Datenmengen zusammengeführt werden. Diesem Risiko werden sich voraussichtlich lediglich diejenigen Personen aussetzen, bei denen ein geringes Krankheitsrisiko angenommen werden kann. Es könnten sich somit Tarife etablieren, die vorwiegend Personen mit "guten" Risiken vorbehalten sind und daneben solche Tarife, in denen sich Personen mit vermeintlich "schlechten" Risiken versichern müssen. Es würden vor allem diejenigen benachteiligt, die aufgrund ihrer nachteiligen Disposition ohnehin bereits höhere Beiträge zahlen müssen oder die nicht zur laufenden Überwachung ihres gesundheitsbezogenen Verhaltens bereit sind. Auch könnte die Durchdringung des Marktes mit entsprechenden Tarifen einen ökonomischen Druck auf die Versicherungsnehmerinnen und Versicherungsnehmer ausüben, ihre Daten zukünftig preiszugeben. Die dergestalt preisgegebenen hochsensiblen Daten könnten schließlich kommerziell weiterverwendet werden, insbesondere durch Kooperationen mit anderen Unternehmen zur Ermittlung eines etwaigen Bedarfs des Kunden an weiteren Versicherungsprodukten und zu Werbezwecken.
Diesem Szenario ist entschieden entgegenzutreten.
Der Gesetzgeber ist gehalten, im Prozess der Digitalisierung rechtsgestaltend tätig zu werden, um positive Effekte der neuen Technologien zu fördern und gleichzeitig negativen Effekten entgegenzuwirken. Hierbei ist es im Hinblick auf staatliche Schutzpflichten am sinnvollsten, lenkend einzugreifen, bevor entsprechende Self-Tracking-Tarife den Gesundheitsmarkt durchdrungen haben. Es bedarf einer gesetzlichen Regelung, die die laufende (automatisierte) Übermittlung hochsensibler Gesundheitsdaten zu Zwecken der Tarifgestaltung in der Krankenversicherung unabhängig von der Einwilligung der versicherten Person für unzulässig erklärt.
Die wirkungsvolle Gesundheitsförderung und Prävention durch die Krankenversicherer wird durch das gesetzgeberische Vorgehen nicht berührt. Der vom Gesetzgeber und den Krankenversicherern gewünschte Effekt, Versicherten Anreize zu einem gesundheitsbewussten Verhalten zu geben, lässt sich gleichermaßen durch datensparsame Bonusprogramme realisieren.