Punkt 2 der 882. Sitzung des Bundesrates am 15. April 2011
Der Bundesrat möge beschließen:
1. Der Bundesrat stellt fest:
Die stärkere Regulierung der Leiharbeit und die Bekämpfung von Missbrauch in dieser Branche ist ein wesentlicher Baustein einer neuen Ordnung für Arbeit, die Armutslöhne und prekäre Beschäftigung zurückdrängen und das unbefristete, sozial abgesicherte und ordentlich bezahlte Normalarbeitsverhältnis stärken will.
Im Gesetzesbeschluss des Deutschen Bundestages zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes sucht man vergebens wirksame Maßnahmen zur Bekämpfung von Missbrauch in der Leiharbeit. Es fehlen klare Regelungen gegen Lohndumping und zum Austausch von Stammbelegschaften durch geringer entlohnte und schlechter abgesicherte Beschäftigte. Die Leiharbeit ist heute weniger ein Instrument der Flexibilität als der Lohndrückerei. Deshalb sind gesetzliche Regelungen, die die Arbeitnehmerüberlassung wieder auf ihre eigentliche Funktion als Instrument für mehr Flexibilität bei Auftragsspitzen beschränkt, erforderlich. Zwar ist Leiharbeit mit einem Anteil von 2,7 Prozent der Beschäftigten immer noch ein Randbereich des Arbeitsmarktes aber die Expansion der Leiharbeit setzt sich seit der Krise mit neuer Dynamik fort. So entstehen zunehmend flexible Rand- oder Parallelbelegschaften, die Stammbelegschaften teilweise ersetzen. Für die Arbeitnehmer bedeutet das größere Risiken und schlechtere Arbeitsbedingungen vor allem beim Lohn, aber auch beim Zugang zu betrieblicher Weiterbildung und bei der Mitbestimmung.
Das Arbeitgeberrisiko wird auf die Leiharbeitnehmer verlagert. Randbelegschaften im Vergleich zu den Stammbelegschaften sind aufgrund ihrer geringen oder allseits vorhandenen Qualifikationen und Fertigkeiten leichter ersetzbar, verursachen geringere Entlassungs- sowie Wiederbeschäftigungskosten und tragen deshalb ein höheres Beschäftigungsrisiko.
Betriebe variieren den Arbeitseinsatz so weit wie möglich durch die Zahl der Beschäftigten in den Randbelegschaften. Flexibilität wird aber auch zunehmend den Stammbelegschaften abverlangt. Leiharbeit wirkt sich daher negativ und auch disziplinierend auf die Stammbelegschaft aus.
Das vorliegende Gesetz zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes - Verhinderung von Missbrauch der Arbeitnehmerüberlassung führt eine längst überfällige Lohnuntergrenze für die Leiharbeit ein. Darüber hinaus enthält das Gesetz jedoch keine wirkungsvollen Maßnahmen zur Verhinderung des Missbrauchs in der Leiharbeit.
- a) Die im vorliegenden Gesetz beschlossenen Gesetzesänderungen sind nicht ausreichend, um den Missbrauch in der Leiharbeit effektiv zu bekämpfen und die Vorgaben der Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über Leiharbeit umzusetzen.
- b) Für die Leiharbeit ist der Mindestlohn gerade im Hinblick auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit zum 1. Mai 2011 - ein erster wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Künftig bildet der jeweilige tarifliche Mindestlohn die absolute Lohnuntergrenze und gilt nicht nur für die Zeit des Einsatzes beim entleihenden Unternehmen, sondern vor allem auch für die verleihfreie Zeit. Der Mindestlohn verhindert extrem niedrige Löhne und schützt vor Dumpingkonkurrenz aus dem Ausland. Er trägt aber nicht dazu bei, den Lohnunterschied zwischen Leiharbeitern und Stammbelegschaften in höheren Entgeltgruppen zu verringern. Das kann nur durch die Verwirklichung des Gleichbehandlungsgrundsatzes also den Grundsatz "gleicher Lohn für gleiche Arbeit" - erreicht werden. Die Lohnuntergrenze konnte im Vermittlungsverfahren zum Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch durchgesetzt werden. Eine gesetzliche Regelung für den Grundsatz "gleicher Lohn für gleiche Arbeit" wurde im Vermittlungsverfahren jedoch blockiert.
- c) Das vorliegende Gesetz wird den Austausch von Belegschaften (sogenannte "Drehtüreffekt") nicht wirkungsvoll verhindern. Die Einschränkung der zulässigen Überlassung auf "vorübergehend" verkauft die Bundesregierung als Verbot des Dauerverleihs. Es wird sich jedoch herausstellen, dass der unbestimmte Rechtsbegriff "vorübergehend" von der Rechtsprechung dahingehend definiert wird, dass hierunter jede nicht dauerhafte Überlassung zu verstehen ist. Das wird zu neuen Missbrauchstatbeständen führen. Dem plakativen Ziel des Gesetzes, die Substitution von Stammarbeitsplätzen und dauerhafte Überlassung zu vermeiden, kann das Gesetz nicht gerecht werden.
- d) Das vorliegende Gesetz wird dem in der EU-Richtlinie und im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz vorgesehenen Equalpay-Grundsatz nicht gerecht. An der tarifvertraglichen Möglichkeit der Schlechterstellung von Leiharbeitnehmern wird im vorliegenden Gesetz festgehalten. Eine Einschränkung dieser Abweichungsmöglichkeit ist weder durch zeitliche Begrenzung noch durch eine Begrenzung des Umfangs der Abweichung vorgesehen.
- e) Im vorliegenden Gesetz werden die besonderen Belange von Menschen mit Behinderung nicht ausreichend berücksichtigt. Das Gesetz wird auch dem sich aus der UN-Behindertenrechtskonvention ergebenden Auftrag nicht gerecht - damit werden vor allem die für diese Menschen wichtigen Arbeitsplätze in Integrationsunternehmen gefährdet.
- f) Zur effektiven Bekämpfung des Missbrauchs der Leiharbeit sind folgende gesetzliche Maßnahmen unerlässlich, die im vorliegenden Gesetz jedoch nicht enthalten sind:
- - Gleicher Lohn für gleiche Arbeit: Einen wirklichen Durchbruch für bessere Arbeitsbedingungen in der Leiharbeit kann es nur geben, wenn alle Leiharbeitskräfte und Stammbelegschaften gleich behandelt werden und den gleichen Lohn bekommen. Dafür muss das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz so geändert werden, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz vor allem das Prinzip "Gleiche Arbeit, gleicher Lohn" - ohne Ausnahme gilt. Nur so kann erreicht werden, dass Beschäftigungsverhältnisse zweiter Klasse in der Leiharbeit endgültig der Vergangenheit angehören.
- - Mehr Mitbestimmung: Die Betriebsräte in den Entleihbetrieben brauchen wirksame Mitbestimmungsrechte für in ihrem Betrieb eingesetzte Leiharbeitskräfte. Solche Regelungen gibt es bislang nicht. Im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz muss klargestellt werden, dass Leiharbeitnehmer nicht nur im Entleihbetrieb wählen dürfen, sondern auch mitzählen bei der Belegschaftsstärke, wenn die Überlassung länger als drei Monate dauert.
- - Gleiche Teilhabe: Leiharbeitnehmer müssen gleichen Zugang zu Gemeinschaftseinrichtungen (Kinderbetreuung, Gemeinschaftsverpflegung, Beförderungsmittel usw.) haben wie die Stammbelegschaft. Der Einsatz von Leiharbeitnehmern als Streikbrecher muss gesetzlich verboten werden. - Konzernleihe einschränken: Die Praxis der Konzernleihe muss durch gesetzliche Regelungen deutlich eingeschränkt werden.
- - Keine Verträge von Fall zu Fall: Der Grundsatz, dass Leiharbeitnehmer bei wechselnden Unternehmen eingesetzt werden, aber unbefristet bei den Leiharbeitsunternehmen beschäftigt sind, muss wieder gelten. Deshalb muss die Befristung eines Leiharbeitsverhältnisses und die Koppelung der Befristung an einen Arbeitseinsatz (Synchronisation) außerhalb der Probezeit untersagt werden.
- - Ein Platz, ein Jahr: Nach einem Jahr sind Leiharbeitseinsätze zu beenden. Der Leiharbeitnehmer steht dann für einen neuen Einsatz in einem anderen Betrieb zur Verfügung. Sofern der Arbeitskraftbedarf im Entleihbetrieb über ein Jahr andauert, ist eine Festanstellung dort angemessen.
2. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf,
- a) unverzüglich nach Inkrafttreten des Gesetzes das Verfahren zur Festsetzung der Lohnuntergrenze durch eine Rechtsverordnung einzuleiten, sodass die Rechtsverordnung über die Lohnuntergrenze zur Arbeitnehmerfreizügigkeit am 1. Mai 2011 in Kraft treten kann;
- b) unverzüglich die in der Protokollerklärung von Bund und Ländern vom 23. Februar 2011 vereinbarten Kontroll- und Sanktionsvorschriften analog des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes zur effektiven Kontrolle der Lohnuntergrenze in der Leiharbeit durch den Zoll gesetzlich umzusetzen;
- c) unverzüglich gesetzliche Regelungen zur Umsetzung der unter Abschnitt I Buchstabe f genannten Maßnahmen gegen den Missbrauch der Leiharbeit vorzulegen.