Der Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz
Mainz, den 20. Juni 2012
An den Präsidenten des Bundesrates
Herrn Ministerpräsidenten
Horst Seehofer
Sehr geehrter Herr Präsident,
das Land Rheinland-Pfalz möchte zur erweiterten Wiedereinführung von Grenzkontrollen im Schengenraum die anliegenden Fragen an die Bundesregierung stellen.
Namens der Landesregierung bitte ich Sie, diese Fragen gemäß § 19 Absatz 2 der Geschäftsordnung des Bundesrates an die Bundesregierung weiterzuleiten und auf die Tagesordnung der Sitzung des Bundesrates am 6. Juli 2012 zu setzen.
Mit freundlichen Grüßen
Kurt Beck
Fragen an die Bundesregierung zur erweiterten Wiedereinführung von Grenzkontrollen im Schengenraum
Der Rat der Justiz- und Innenminister der Europäischen Union hat am 07. Juni 2012 beschlossen, den Mitgliedstaaten auch zukünftig die Möglichkeit einzuräumen, über die Wiedereinführung von Grenzkontrollen im Schengenraum selbst zu entscheiden. Darüber hinaus wurde für "außergewöhnliche Umstände, die das Funktionieren des Schengengebietes gefährden" eine weitere und neue Möglichkeit für die Durchführung von Binnengrenzkontrollen geschaffen. Im Extremfall sollen die Grenzkontrollen auf einen Zeitraum von bis zu zwei Jahren ausgedehnt werden können.
Dieser Beschluss ging insbesondere auf eine deutschfranzösische Initiative zurück. Wenige Tage vor der französischen Präsidentschaftswahl richteten der deutsche Innenminister Hans-Peter Friedrich zusammen mit seinem damaligen französischen Amtskollegen Claude Guéant einen Brief an die dänische Ratspräsidentschaft, in dem sie die Einführung eines neuen Mechanismus für zeitlich begrenzte Grenzkontrollen angeregten, sofern die Standards zum Schutz der europäischen Außengrenzen nicht hinreichend gesichert seien. Begründet wurde dies unter anderem mit der Bekämpfung der illegalen Migration.
Mit dem Schengener Abkommen wurde die Grundlage für eine der größten Errungenschaften der Europäischen Union (EU) geschaffen: Das freie Reisen ohne Grenzkontrollen für die Menschen innerhalb von zwischenzeitlich 26 Ländern des Kontinents. Der ungehinderte Grenzübertritt ist eine wichtige Grundlage für Wirtschaft, Gesellschaft und gute Nachbarschaft in Europa. Der europäische Gedanke von Freiheit und Gemeinsamkeit ist insbesondere in den Grenzregionen gelebte Wirklichkeit. Durch den aktuellen Beschluss der Justiz- und Innenminister wird dieses tragende Element der Europäischen Union nunmehr in Frage gestellt und das Tor für innenpolitisch motivierte populistische Maßnahmen geöffnet. Hiergegen richtet sich auch die ausgeprägte Kritik des Europäischen Parlaments (EP).
Das Europäische Parlament kritisierte im Rahmen seiner Debatte zum Abschluss der dänischen Ratspräsidentschaft am 12. Juni in Straßburg insbesondere, dass die EU-Innenminister einseitig beschlossen haben, die rechtliche Grundlage zur Evaluierung und Kontrolle des Schengen-Abkommens zu ändern. Statt wie bisher gemeinsam mit dem Europäischen Parlament über Reformen an der praktischen Umsetzung der Reisefreiheit im Schengen-Raum zu entscheiden, wollen die Regierungen der Schengen-Staaten dies in Zukunft ohne Rücksprache tun. Die Abgeordneten würden nur noch über geplante Änderungen informiert. Im EP wird dagegen eine Klage beim Gerichtshof der Europäischen Union erwogen.
Vor diesem Hintergrund bittet das Land Rheinland-Pfalz die Bundesregierung um Beantwortung folgender Fragen:
- 1. Wie stellt sich der aktuelle Verhandlungsstand auf europäischer Ebene dar bzw. wie wird sich das weitere Verfahren voraussichtlich gestalten?
- 2. Hält die Bundesregierung an ihrer Forderung fest, begrenzte Grenzkontrollen auch dann zu ermöglichen, wenn Zweifel an der Fähigkeit von Mitgliedsstaaten bestehen, die Außengrenzen zu schützen? In welchen Fällen und unter welchen Voraussetzungen sollen nach Auffassung der Bundesregierung die Mitgliedstaaten zukünftig Kontrollen an den Binnengrenzen durchführen können?
- 3. Welche Rolle sollen nach Auffassung der Bundesregierung die Kommission und das Europäische Parlament bei der Entscheidung über die Einführung von Grenzkontrollen spielen?
- 4. Wie begegnet die Bundesregierung der Sorge, dass es ggf. durch solche Grenzkontrollen auch zu wirtschaftlichen Schäden, gerade in den Grenzregionen, kommen kann?
- 5. Sieht die Bundesregierung die Gefahr, dass einzelne Schengen-Staaten die neuen Regeln aus innenpolitischen Gründen missbrauchen könnten und dadurch das Schengen-System insgesamt in Gefahr gerät und wie begegnet sie der Sorge, dass durch die Wiedereinführung von Grenzkontrollen gerade in den Grenzregionen der nachbarschaftliche Austausch und die gelebte Freiheit des ungehinderten Grenzübertrittes ggf. unverhältnismäßig behindert wird und dadurch der europäische Gedanke, der gerade bei der Bevölkerung in Grenzregion vorhanden ist, Schaden leidet?
- 6. Mit welchen Mechanismen soll zukünftig unrechtmäßigen Grenzkontrollen aufgrund nationaler Alleingänge mit der Folge der Verletzung des Rechts auf Freizügigkeit und des erreichten Schengen-Besitzstandes auch kurzfristig, d.h. nicht ausschließlich durch gerichtliche Befassung, begegnet werden und wie kann sichergestellt werden, dass der freie Reiseverkehr ggf. möglichst schnell wieder aufgenommen wird?
- 7. Teilt die Bundesregierung die Sorge, dass die Europäische Union auch durch die aktuellen währungspolitischen Entwicklungen und ihre Folgen an Legitimation verlieren könnte? Teilt sie ferner die Auffassung, dass es deshalb umso dringlicher ist, die Vorteile der europäischen Integration den Menschen zu vermitteln und dass gerade deshalb die ungehinderte Reisefreiheit ein hohes Gut ist, das dazu beiträgt, die Legitimation der EU zu stärken.