Der Bundesrat hat in seiner 919. Sitzung am 14. Februar 2014 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
Zur Vorlage allgemein
- 1. Der Bundesrat begrüßt das mit dem Richtlinienvorschlag verfolgte Ziel der Stärkung der Rechte von Kindern, die Verdächtige oder Beschuldigte in Strafverfahren sind.
- 2. Er teilt die Ansicht der Kommission, dass europaweit einheitliche Mindeststandards für die Rechte der Verdächtigen oder Beschuldigten im Strafverfahren für das gegenseitige Vertrauen in die Strafrechtspflege in anderen Mitgliedstaaten unerlässlich sind.
- 3. Der Bundesrat unterstützt das Ziel der Kommission, den Schutz von in Strafverfahren verdächtigten oder beschuldigten Kindern europaweit zu stärken. Er begrüßt daher das Vorhaben der Kommission, durch die Abstimmung von Mindeststandards der Strafverfolgung bei unter 18-Jährigen zentrale Rechte und legitime Interessen von Kindern und Jugendlichen als Beschuldigte in Strafverfahren zu gewährleisten. Kindern müssen im Strafverfahren zusätzliche Verfahrensrechte zustehen, die ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit Rechnung tragen. Dies gilt insbesondere für das Recht auf Anwesenheit in der Gerichtsverhandlung oder das Recht eines Trägers elterlicher Verantwortung auf Zugang zu Gerichtsverhandlungen.
Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass Kinder größere Schwierigkeiten haben können, Bedeutung und Ablauf eines Strafverfahrens zu verstehen und ihre Rechte geltend zu machen.
- 4. Der Bundesrat teilt auch die Einschätzung der Kommission, wonach es sinnvoll ist, die Verfahrensgarantien für Kinder im Strafverfahren in einem eigenen Rechtsinstrument zu bündeln.
Zu Artikeln 6 und 18
- 5. Der Bundesrat ist aber der Ansicht, dass das in Artikel 6 des Richtlinienvorschlags verankerte Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand zu weit gefasst ist. Insbesondere begegnet die Unverzichtbarkeit der Hinzuziehung eines Verteidigers erheblichen Bedenken. Ein Kind mag zwar aufgrund seiner Minderjährigkeit mehr Schwierigkeiten haben als ein Erwachsener, seine Lage und seine Möglichkeiten zu erfassen. Ihm und seinen Erziehungsberechtigten jedoch jegliche diesbezügliche Entscheidungsmöglichkeit abzusprechen, ist zu weitgehend.
Die zwingende Ausgestaltung der Regelung - unabhängig vom Willen des Kindes und seiner Erziehungsberechtigten sowie unabhängig von der Schwierigkeit des Sachverhalts und der Schwere der Straftat - erscheint nicht sachgerecht. Sie wird zum einen der Unterschiedlichkeit der in Betracht kommenden Fallgestaltungen nicht gerecht und dürfte zum anderen teilweise auch das legislative Ziel der Stärkung der verfahrensrechtlichen Position von Kindern verfehlen. Die Unterstützung durch einen Pflichtverteidiger ist nicht bei allen Ermittlungs- und Strafverfahren gegen Minderjährige erforderlich.
Das Jugendstrafrecht orientiert sich am Erziehungsgedanken. Ziel ist es, weiteren Straftaten entgegenzuwirken und dabei erzieherisch auf den Jugendlichen einzuwirken. Dem beschuldigten oder verdächtigen Kind für alle Verfahren - auch jene im Bereich der unteren Kriminalität bis hin zu den Bagatelldelikten - einen Pflichtverteidiger beizuordnen, wäre dem Erziehungsgedanken abträglich. In vielen Fällen würde die verpflichtende Hinzuziehung eines Verteidigers auch von dem beschuldigten Kind und seinen Erziehungsberechtigten als überzogen oder überflüssig erachtet werden. Dies gilt insbesondere für geringfügige Straftaten, bei denen es zu keiner strafrechtlichen
Verurteilung kommt, sondern eine informelle Erledigung durch die Staatsanwaltschaft erfolgt.
- 6. Das regelhafte Stellen eines Rechtsbeistands mit Prozesskostenhilfe für beschuldigte Jugendliche erscheint in den zahlreichen Fällen der Erledigung im Rahmen des sogenannten Diversionsverfahrens (Einstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft, folgenlos oder gegen Erfüllung meist niedrigschwelliger Auflagen) nicht verhältnismäßig.
- 7. Darüber hinaus verzögert der Einsatz eines Pflichtverteidigers, der erst ausgesucht, benannt, benachrichtigt, eingeladen und zuletzt auch über den Stand des Verfahrens informiert werden muss, das Verfahren erheblich, obgleich die Verfahrensbeschleunigung einen wesentlichen Bestandteil der erfolgreichen Erziehungswirkung darstellt.
Der Bundesrat ist der Auffassung, dass das in Artikel 6 in Verbindung mit Artikel 18 verankerte Recht auf einen Rechtsbeistand - unter Gewährung von Prozesskostenhilfe - in seiner konkreten Ausgestaltung nicht zu unterstützen ist.
Die Regelung über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand sollte daher nicht zwingend, sondern differenziert ausgestaltet werden. Dies könnte durch die Einfügung einer Verhältnismäßigkeitsklausel im Hinblick auf die Komplexität des Falls, die Schwere der zur Last gelegten Straftat und die zu erwartende Sanktion erfolgen.
Zu Artikeln 7 und 8
- 8. Der Bundesrat befürwortet das in Artikel 8 Absatz 1 des Richtlinienvorschlags vorgesehene Recht des Kindes auf Zugang zu einer medizinischen Untersuchung, um zu ermitteln, ob das Kind Befragungen oder anderen Ermittlungsoder Beweiserhebungshandlungen oder zu Lasten des Kindes ergriffenen oder geplanten Maßnahmen gewachsen ist. Dies sollte allerdings nur gelten, wenn die allgemeine geistige und körperliche Verfassung des Kindes hierzu Anlass gibt.
- 9. Verpflichtende Begutachtungen und medizinische Untersuchungen sollten darüber hinaus in bewährter Praxis auf geeignete Fälle und geeignete Stellen im Strafverfahren - z.B. vor dem Antritt von Jugendarrest oder Jugendstrafen - beschränkt werden.
Zu Artikel 9
- 10. Der Bundesrat ist der Ansicht, dass auch die Regelung in Artikel 9 des Richtlinienvorschlags, die die audiovisuelle Aufzeichnung grundsätzlich jeder Befragung von Kindern vorsieht, zu weitgehend und nicht sachgerecht ist. Die verpflichtende regelhafte audiovisuelle Aufzeichnung strafrechtlicher Befragungen und Vernehmungen von jugendlichen Beschuldigten erhöht den zeitlichen und personellen Aufwand und erscheint nicht zielführend. Die Regelung blendet insbesondere aus, dass das Kind und/oder seine Erziehungsberechtigten möglicherweise auf eine - mit zusätzlichen Belastungen verbundene - Ton- und Bildaufnahme verzichten möchten. Sie wirft zudem die Frage auf, wie in Fällen zu verfahren ist, in denen der beschuldigte Jugendliche zwar grundsätzlich Aussagebereitschaft signalisiert, sich aber einer audiovisuellen Aufzeichnung der Vernehmung - etwa unter Berufung auf seine Persönlichkeitsrechte - verweigert oder seine Erziehungsberechtigten eine solche Aufzeichnung ablehnen.
- 11. Der Bundesrat weist darauf hin, dass sich die geäußerten Bedenken gerade aus der Pauschalität sowohl der Bestellung eines Rechtsbeistandes als auch der audiovisuellen Aufzeichnung der Befragung ergeben.
Kinder sollen gerade nicht zum Objekt eines Verfahrens werden, sondern als Subjekt Anteil am und Einflussmöglichkeit auf den Verlauf des Verfahrens haben. Deshalb sollte ihr Wille und der der Träger der elterlichen Verantwortung bei der Gewährung dieser Rechte nicht unberücksichtigt bleiben. Ihnen jegliche Entscheidungskompetenz im Verfahrensablauf hinsichtlich der genannten Punkte abzusprechen, führt zu weit.
Zu Artikel 12 Absatz 2 Buchstabe b
- 12. Der Bundesrat gibt zu bedenken, dass in Artikel 12 Absatz 2 Buchstabe b des Richtlinienvorschlags im Hinblick auf das Recht des Kindes auf Erziehung und Ausbildung die Dauer des Freiheitsentzugs Berücksichtigung finden sollte. Bei einem nur kurzzeitigen Freiheitsentzug wird sich eine Ausbildung nicht anbieten. Auch für erzieherische Maßnahmen bedarf es eines Mindestzeitrahmens, um sie effektiv ausgestalten zu können.
Zu Artikel 12 Absatz 2 Buchstabe c
- 13. Der Bundesrat befürwortet die in Artikel 12 Absatz 2 Buchstabe c des Richtlinienvorschlags vorgesehene Gewährleistung der wirksamen und regelmäßigen Ausübung des Rechts auf Familienleben, einschließlich der Erhaltung familiärer Bindungen, soweit dies von Seiten des Kindes und der Familienangehörigen gewünscht wird und dem Kindeswohl dient.
Zu Artikel 14
- 14. Der Schutz der Privatsphäre von minderjährigen Beschuldigten ist ein hohes Gut und wird in Deutschland - u.a. durch die Nicht-Öffentlichkeit von Verhandlungen der Jugendgerichte - bereits umfassend gewährleistet.
- 15. Ein generelles Verbot, etwa Foto- und Videomaterial noch nicht identifizierter jugendlicher Tatverdächtiger zu nutzen - ggf. nach schwersten Gewalttaten im Rahmen der Öffentlichkeitsfahndung -, würde aber die legitimen Belange der Öffentlichen Sicherheit und der Opfer von Gewalttaten in unverhältnismäßiger Form beeinträchtigen und sollte durch einen ausdrücklichen Hinweis im Text der Richtlinie von einem Verbot unberührt bleiben.
Zu Artikel 15
- 16. Bei polizeilichen Vernehmungen im Rahmen von Strafverfolgungsmaßnahmen sollte es ausreichen, dass ein Träger der elterlichen Verantwortung informiert wird und teilnehmen kann, da nicht nur bei Alleinerziehenden häufig nur ein Elternteil erreicht werden kann bzw. zur Verfügung steht.
Zu Artikel 19
- 17. Der Bundesrat hat zudem Bedenken gegen den Richtlinienvorschlag, soweit er in Artikel 19 Vorgaben für die Spezialisierung der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von Justiz- und Strafverfolgungsbehörden sowie der Bediensteten von Justizvollzugsanstalten und deren Aus- und Fortbildung macht. Zum einen bestehen kompetenzrechtliche Bedenken, weil Artikel 82 Absatz 2 Buchstabe b AEUV nur die Angleichung der Rechte der Verfahrensbeteiligten erlaubt, also nur die Harmonisierung solcher Vorschriften des Strafverfahrensrechts, die dem Einzelnen unmittelbare Rechte verleihen. Organisatorische Vorgaben wie die Verpflichtung, nur auf Kinder spezialisierte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen einzusetzen und diese besonders aus- und fortzubilden, stellen, auch wenn sie mittelbar dem Schutz der Kinder dienen sollen, aber kein unmittelbares Recht der Verfahrensbeteiligten dar. Auch Artikel 82 Absatz 1 Buchstabe c AEUV verleiht der Union keine Rechtsetzungskompetenz für die vorliegende Vorgabe. Zum anderen erscheint es auch nicht sachgerecht, dass die Union den Mitgliedstaaten hierzu zwingende Vorgaben macht. Wie die Mitgliedstaaten die Kompetenz der mit der Umsetzung der Vorgaben befassten Personen sicherstellen, muss diesen selbst überlassen bleiben. Dies gilt sowohl für die Justiz- und Vollzugsbediensteten als auch für die Strafverteidiger. Die diesbezügliche Regelung sollte daher entfallen.
Zu Artikel 20
- 18. Der Bundesrat weist darauf hin, dass die in Artikel 20 vorgesehene Erhebung von Daten einen erheblichen Verwaltungs- und Kostenaufwand nach sich ziehen wird. Dieser erscheint nicht verhältnismäßig, weil die schlichte Erhebung von Fallzahlen nicht die Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten berücksichtigt und daher wenig aussagekräftig ist. Für eine Bewertung, inwieweit die mit dem Richtlinienvorschlag verfolgten Ziele erreicht werden, erscheinen alternative Evaluierungsmechanismen besser geeignet.
Zu Artikel 21
- 19. Der Bundesrat weist darauf hin, dass durch die in Artikel 21 des Richtlinienvorschlags vorgesehene Kostenregelung - Kostentragung der Mitgliedstaaten für Begutachtungen, medizinische Untersuchungen und audiovisuelle Aufzeichnungen unabhängig vom Verfahrensausgang - haushaltsrechtlich relevante Mehrkosten für die Justiz entstehen können.
Weiteres
- 20. Er bittet die Bundesregierung, an die Kommission die Bitte zu richten, diesen Richtlinienvorschlag zu überarbeiten und hierbei auch die Belange eines zügigen und effektiven Strafverfahrens, eines hohen Niveaus der öffentlichen Sicherheit, eines wirksamen Opferschutzes und der Begrenzung zusätzlicher Kosten für die öffentlichen Haushalte angemessen und hinreichend zu berücksichtigen.
- 21. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.