Entwurf des gemeinsamen Beschäftigungsberichts der Kommission und des Rates (Begleitunterlage zur Mitteilung der Kommission zum Jahreswachstumsbericht 2015) - COM (2014) 906 final Drucksache: 584/14 (PDF)
Der Bundesrat hat in seiner 930. Sitzung am 6. Februar 2015 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
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- 1. Der Bundesrat stellt fest, dass die Kommission im Jahreswachstumsbericht 2015 wichtige Handlungsprioritäten herausgestellt hat. Er begrüßt insbesondere die Ankündigung, den Fokus auf Investitionsimpulse zu legen. Das im November 2014 vorgestellte Investitionspaket ist dabei ein erster wichtiger Schritt im Rahmen einer verantwortungsvollen Fiskalpolitik. Eine ausschließlich am Austeritätsgedanken orientierte Politik kann die soziale Situation in den Krisenländern nicht nachhaltig verbessern.
- 2. Er begrüßt das angekündigte erneuerte Engagement für Strukturreformen. Weitere Maßnahmen gegen die teilweise sehr hohe Arbeitslosigkeit und gegen den weiteren Anstieg von Armut und sozialer Ausgrenzung sind erforderlich. Er fordert die Kommission daher auf, die grundsätzlich erforderlichen Strukturreformen in den Mitgliedstaaten, insbesondere im Rahmen des Europäischen Semesters, weiterhin intensiv zu begleiten, damit Wachstum und Beschäftigung entstehen und der Ausbau funktionierender sozialer Netze voranschreiten kann. Der Bundesrat weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Arbeitsmarktreformen jedoch nicht zu einer Verschlechterung von Arbeitsbedingungen führen dürfen. Eine Flexibilisierung und Anpassung der Löhne durch die Einschränkung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen kann kein geeignetes Beispiel für erfolgreiche Strukturreformen sein. Insgesamt geht die Kommission zu wenig auf die Qualität der Arbeitsplätze ein, die aber für die Armutsbekämpfung eine fundamentale Grundlage sind.
- 3. Der Bundesrat bedauert, dass im Gegensatz zu den Vorjahren die Reduzierung von Armut und sozialer Ausgrenzung im Jahreswachstumsbericht 2015 nicht explizit als eine der Prioritäten der Wirtschafts- und Sozialpolitik der EU aufgeführt wird. Angesichts der sozialen Situation in vielen EU-Mitgliedstaaten ist die Fokussierung auf die Modernisierung der Sozialschutzsysteme nicht ausreichend, um das Armutsbekämpfungsziel der Strategie Europa 2020 zu erreichen. Der Bundesrat fordert daher eine stärkere Berücksichtigung der sozialen Ziele der Strategie im Europäischen Semester. Gleichzeitig betont er die Notwendigkeit einer sozialen Folgenabschätzung der länderspezifischen Empfehlungen durch ein unabhängiges Gremium.
- 4. Der Bundesrat begrüßt die Ankündigung der Kommission, das Europäische Semester zu straffen, aufzuwerten und effektiver zu gestalten. Er teilt die Auffassung, dass die nationalen Parlamente und die Sozialpartner enger in das Europäische Semester einbezogen werden sollen. Der Bundesrat stellt im Hinblick auf die Halbzeitbilanz der Strategie Europa 2020 fest, dass es innerhalb der Union einer größeren sozialen Kohäsion unter Beachtung der Subsidiarität bedarf. Der Bundesrat ist daher der Auffassung, dass die Kommission bei der Neuordnung des Europäischen Semesters auch Vorschläge unterbreiten sollte, wie hierbei die Erkenntnisse der Strategischen Sozialberichterstattung der Mitgliedstaaten im Rahmen der Offenen Methode der Koordinierung im Bereich Sozialschutz bestmöglich zum Tragen kommen können. Die Strategische Sozialberichterstattung erfolgt in Form der Nationalen Sozialberichte im Rhythmus synchron mit den Nationalen Reformprogrammen und dem Verfahren des Europäischen Semesters. Sie stellt dem Rat faktengestützte Analysen zur Überwachung und Bewertung der sozialen Dimension der Strategie Europa 2020 zur Verfügung, wobei die Kommission das Verfahren unterstützt. Der Bundesrat gibt zu bedenken, ob der Berichtszeitraum für die Strategische Sozialberichterstattung (1. Juli des Vorjahres bis 30. Juni des laufenden Jahres) dem Berichtszeitraum für die Nationalen Reformprogramme (1. April des Vorjahres bis 31. März des laufenden Jahres) angeglichen werden sollte, zumal beide Berichte zur gleichen Zeit (Mitte April des laufenden Jahres) vorgelegt werden. Der Ausschuss für Sozialschutz hatte darüber hinaus bereits angemerkt, dass auf Grundlage seiner thematischen Arbeit auch gemeinsame Berichte der Kommission und der Mitgliedstaaten erstellt werden könnten.
Eine Verstärkung der Rechenschaftspflicht der Mitgliedstaaten darf nicht zu einer erneuten Ausweitung der Berichtspflichten führen. In diesem Zusammenhang fordert der Bundesrat, von der Kommission und der Bundesregierung bei der Besprechung der länderspezifischen Empfehlungen einbezogen zu werden, da diese in vielen Fällen die Zuständigkeiten der Länder im föderalen System der Bundesrepublik Deutschland berühren.
Zu den BR-Drucksachen 583/14 (PDF) und 584/14 (PDF)
- 5. Der Bundesrat unterstützt die Aussage der Kommission im Jahreswachstumsbericht 2015, dass berufliche Bildung und duale Bildungssysteme in Europa aufgewertet werden sollen. Qualitativ hochwertige berufliche Bildung kann einen bedeutenden Beitrag bei der Überwindung der Beschäftigungskrise in Europa leisten, was der Bundesrat bereits in der Vergangenheit hervorgehoben hat (vergleiche unter anderem BR-Drucksache 471/13(B) ).
- 6. Zudem stellt die Kommission fest, dass dem Bildungssektor bei der Anpassung der Qualifikationen an die Signale des Arbeitsmarkts eine Schlüsselrolle zukommt. Aus Sicht des Bundesrates stellt die allgemeine und berufliche Bildung einen entscheidenden Faktor hinsichtlich der Beschäftigungsfähigkeit junger Menschen dar. Jedoch gibt der Bundesrat zu bedenken, dass der staatliche Bildungsauftrag weit über das Ziel der Beschäftigungsfähigkeit hinausgeht. Nur inhaltlich und pädagogisch breit angelegte, die Gesamtpersönlichkeit beachtende Bildungsangebote können junge Menschen mit Kompetenzen, Persönlichkeit und Werten rüsten, auf die auch der Arbeitsmarkt und die Wirtschaft angewiesen sind (vergleiche auch BR-Drucksache 471/13(B) ).
- 7. Der Bundesrat stellt bezüglich des Jahreswachstumsberichts 2015 sowie des Entwurfs des gemeinsamen Beschäftigungsberichts fest, dass die neue Kommission Bildung noch stärker in den Dienst der Beschäftigungsfähigkeit stellt und darüber hinausgehende Aspekte ganzheitlicher Bildung damit vernachlässigt werden. Dies findet auch in der gegenwärtigen Umstrukturierung der Generaldirektionen der Kommission, das heißt in der Ausgliederung der beruflichen Bildung und Erwachsenenbildung sowie des Bereichs der "Kompetenzen" aus der Generaldirektion für Bildung und Kultur, seinen Ausdruck. Dies sieht der Bundesrat mit großer Sorge:
- - Die Kooperation im Bereich der Bildung stellt auf europäischer Ebene einen ausschließlich freiwilligen Prozess dar - hierin unterscheidet sich der Bildungsbereich elementar von dem stärker vergemeinschafteten Beschäftigungsbereich. Der Bundesrat weist mit Nachdruck darauf hin, dass die in Artikel 165 und 166 AEUV eng gesetzten Kompetenzgrenzen für sämtliche Bildungsbereiche - vollkommen unabhängig von der verwaltungsorganisatorischen Angliederung dieser Bereiche - gelten und zwingend zu beachten sind. - Bildung stellt zweifelsohne einen bedeutenden Faktor bei der Generierung von Beschäftigungsfähigkeit dar, beschränkt sich jedoch nicht auf dieses Ziel. Ganzheitliche Bildung richtet sich stets an Menschen als Subjekte und kann nicht allein der Schaffung von "Humankapital" dienen.
- - Darüber hinaus stellt Bildung einen einheitlichen lebenslangen Prozess dar, dessen Bedeutung die Kommission im Jahreswachstumsbericht 2015 auch selbst anspricht. Vor diesem Hintergrund fordert der Bundesrat die Kommission auf, sicherzustellen, dass dieser Prozess durch Fragen der Verwaltungsorganisation auf europäischer Ebene nicht künstlich aufgespalten wird. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, sich ebenfalls hierfür gegenüber der Kommission einzusetzen.
- - Zudem ist nach Auffassung des Bundesrates zwingend zu gewährleisten, dass die für Bildung zuständigen Fachgremien des Rates auf Ministersowie auf Arbeitsebene weiterhin federführend mit sämtlichen Bildungsthemen befasst werden, die auf europäischer Ebene diskutiert werden. Dies umfasst auch diejenigen Bildungsbereiche, welche in die Verwaltungsorganisation der Generaldirektion für Beschäftigung, Soziales und Integration eingegliedert werden.
- 8. Abermals weist der Bundesrat die von der Kommission erneut geäußerte Kritik, Deutschland habe nur geringe Fortschritte bei der Erhöhung des Angebots an Ganztagsschulen zu verzeichnen, zurück (siehe zuletzt BR-Drucksache 249/14(B) ). Diese auch im Entwurf des gemeinsamen Beschäftigungsberichts enthaltene Aussage wird den enormen Anstrengungen der Länder zum quantitativen Ausbau des Ganztagsangebots im Primar- und Sekundar-I-Bereich, der nachweislich in einer kontinuierlich und substantiell wachsenden Verfügbarkeit von Ganztagsangeboten resultiert, nicht gerecht.
- 9. Die Reformierung des Europäischen Semesters soll darauf abzielen, die Wirksamkeit der wirtschaftspolitischen Koordinierung auf EU-Ebene unter anderem durch eine Verstärkung der Rechenschaftspflicht zu erhöhen. Für den Bereich der allgemeinen und beruflichen Bildung weist der Bundesrat nachdrücklich darauf hin, dass der Bildungsbereich nicht verstärkt in die wirtschaftspolitische Koordinierung mit einbezogen werden kann. Formalisierte Kontrolle, Überwachung, Bewertung und damit Steuerung durch die europäische Ebene würden dem Grundsatz der Freiwilligkeit der europäischen Bildungskooperation widersprechen.
- 10. Ungeachtet der wichtigen Rolle von Bildung für nachhaltiges und stabiles Wirtschaftswachstum betont der Bundesrat, dass eine Bewertung von Bildungsinvestitionen allein aus wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischer Perspektive unzureichend ist. Der Eigenwert von Bildung ist nicht quantifizierbar. Die Qualität von Investitionen in Bildung stellt einen vielschichtigen Fragenkomplex dar, der sich simplen Lösungs- und Bewertungsansätzen entzieht. Der Bundesrat weist darüber hinaus darauf hin, dass die Höhe der Gesamtinvestitionen innerhalb eines Bildungssystems keine Rückschlüsse auf dessen Qualität zulässt (siehe auch BR-Drucksache 837/07(B) sowie BR-Drucksache 141/07(B) ). Zudem unterliegt die Ausgestaltung der Finanzierung des Bildungswesens allein der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, in Deutschland der Länder (vergleiche BR-Drucksache 725/12(B) ).
- 11. Der Bundesrat stellt bezüglich des Jahreswachstumsberichts 2015 außerdem fest, dass die neue Kommission Forschung und Innovation nur als Instrument zur Stärkung des Wachstums beschreibt. Dies wird nach Ansicht des Bundesrates solchen Formen der Forschung nicht gerecht, die - wie die Grundlagenforschung - überwiegend durch menschliches Erkenntnisinteresse und nur nachrangig durch wirtschaftliches Interesse motiviert sind. Eine Priorisierung unmittelbar wirtschaftlich verwendbarer Forschung empfiehlt sich nach Ansicht des Bundesrates nicht, da solche Forschung nötige wirtschaftliche, soziale und geistige Innovationen für sich genommen nicht nachhaltig bewirken kann.
Direktzuleitung an die Kommission
- 12. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.