Der Bundesrat wird über die Vorlage gemäß § 2 EUZBLG auch durch die Bundesregierung unterrichtet.
Hinweis: vgl.
Drucksache 260/04 (PDF) = AE-Nr. 041176,
Drucksache 870/04 (PDF) = AE-Nr. 043356,
Drucksache 211/05 (PDF) = AE-Nr. 050798,
Drucksache 951/08 (PDF) = AE-Nr. 080941,
Drucksache 772/11 (PDF) = AE-Nr. 111005,
Drucksache 774/11 (PDF) = AE-Nr. 111007,
Drucksache 298/12 (PDF) = AE-Nr. 120345 und AE-Nr. 070276
Straßburg, den 11.6.2013
COM (2013) 401 final
1. Einleitung
1.1. Zweck dieser Mitteilung
In wirtschaftlich schwierigen Zeiten können ein solider Rechtsrahmen und ein effizientes Justizsystem entscheidend dazu beitragen, dass die Europäische Union ihr Ziel erreicht, Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit miteinander zu verbinden. Wie die EU in ihrer Strategie Europa 2020 und in der Binnenmarktakte betont hat, ist ihr wichtigstes politisches Ziel, ihre Wettbewerbsfähigkeit auf internationaler Ebene zu erhalten und für einen offenen, reibungslos funktionierenden Binnenmarkt zu sorgen. Rechtssicherheit und verlässliche rechtliche Rahmenbedingungen sind hierfür unverzichtbar.
Die Justizpolitik der EU ist auf den Aufbau eines echten Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts im Dienste der Bürger und Unternehmen gerichtet.1 Bürger wie Unternehmen sollten ihre Rechte gerade bei Streitsachen mit Bezug zu einem anderen EU-Mitgliedstaat und in Fällen, in denen die ihnen kraft Unionsrecht zustehenden Rechte verletzt wurden, wirksam durchsetzen können. Hierzu müssen gegebenenfalls verfahrensrechtliche Lösungen auf der Grundlage von EU-Recht gefunden werden. Die Arbeiten im Bereich des Verfahrensrechts haben bereits eine Reihe von Regelungen hervorgebracht, die den Zugang zum Recht erleichtern. Das europäische Verfahren für geringfügige Forderungen2 beispielsweise ist ein vereinfachtes, kostengünstiges europäisches Zivilverfahren, das Verbrauchern die Geltendmachung ihrer Ansprüche aus Käufen im Ausland erleichtert. Mit dem Europäischen Mahnverfahren3 können Unternehmen ihre ausstehenden Forderungen in anderen Mitgliedstaaten schneller eintreiben. Die Mediationsrichtlinie4, die für alle grenzübergreifenden Zivilrechtsstreitigkeiten gilt, fördert die alternative Streitbeilegung und spart Zeit und Kosten bei Streitsachen mit Auslandsbezug. Noch weiter gehen im Bereich des Verbraucherschutzes5 die unlängst erlassene Richtlinie über Formen der alternativen
Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten6 und die Verordnung über die Online-Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten7, nach denen die Mitgliedstaaten sicherstellen müssen, dass Streitigkeiten zwischen einem Verbraucher und einem Unternehmer aus einem Kaufvertrag oder einem Dienstleistungsvertrag einer Stelle zur alternativen Streitbeilegung unterbreitet werden können.
Die vorgenannten Rechtsakte, die zusammen mit anderen Rechtsinstrumenten das Unionsrecht im Bereich Justiz und Verbraucherschutz bilden, entsprechen ganz bestimmten, konkreten Bedürfnissen der Bürger und Unternehmen. Sie lassen im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip aber auch Raum für rechtliche Lösungen und Rechtsschutzsysteme auf mitgliedstaatlicher Ebene.
Die EU interessiert sich schon seit einiger Zeit für die Erfahrungen, die mehrere Mitgliedstaaten bereits mit dem kollektiven Rechtsschutz gesammelt haben. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, inwieweit der kollektive Rechtsschutz im Rahmen der Entwicklung des europäischen Rechtsraums zur Gewährleistung eines hohen Verbraucherschutzniveaus und zu einer besseren Durchsetzung des EU-Rechts allgemein - nicht nur des Wettbewerbsrechts - beitragen und gleichzeitig dem Wirtschaftswachstum und einem einfacheren Rechtsschutz insgesamt dienlich sein kann. Die Kommission hat sich 2010 bis 2012 eingehend mit diesem Thema beschäftigt, um Aufschluss über drei grundlegende Fragen zu gewinnen:
- 1) Welche Probleme konnten mit den vorhandenen Regelungen noch nicht zufriedenstellend gelöst werden?
- 2) Könnten diese Probleme mit einem besonderen Verfahren - beispielsweise einem europäischen Verfahren für den kollektiven Rechtsschutz - gelöst werden?
- 3) Wie ließe sich ein solches Verfahren mit dem Gebot des Artikels 67 Absatz 1 AEUV in Einklang bringen, wonach die Union im europäischen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts die verschiedenen Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten achten muss? Dies gilt insbesondere für Bereiche wie das Prozessrecht, das auf einzelstaatlicher Ebene fest verankert, aber auf EU-Ebene noch relativ neu ist.
Maßnahmen im Bereich des Rechtsschutzes müssen nach Dafürhalten der Kommission angemessen, wirksam und ausgewogen sein, um dem Wachstum in Europa förderlich zu sein und einen effektiven Zugang zum Recht zu gewährleisten. Es muss daher verhindert werden, dass sie Klagemissbrauch Vorschub leisten oder sich ungeachtet des Ausgangs des Verfahrens nachteilig auf die beklagte Partei auswirken. Solche negativen Auswirkungen sind insbesondere bei den sogenannten "class actions" (Sammelklagen) in den USA erkennbar. Die europäischen Überlegungen zum kollektiven Rechtsschutz müssen sich daher eingehend der Frage widmen, wie diese negativen Auswirkungen vermieden werden können und welche Schutzvorkehrungen zu treffen sind.
- 2011. führte die Kommission eine allgemeine öffentliche Konsultation unter dem Titel "Kollektiver Rechtsschutz: Hin zu einem kohärenten europäischen Ansatz" durch. Von dieser Konsultation erhoffte man sich Aufschluss über etwaige gemeinsame Rechtsgrundsätze zum kollektiven Rechtsschutz und eine Antwort darauf, wie sich solche gemeinsamen Grundsätze in das Rechtssystem der EU und in die Rechtsordnungen der 27 Mitgliedstaaten integrieren lassen. Eingegangen wurde auch auf die Bereiche, in denen verschiedene Formen des kollektiven Rechtsschutzes zu einer besseren Durchsetzung des EU-Rechts oder zu einem besseren Schutz der Rechte der Unionsbürger und Unternehmen beitragen können.
Das Europäische Parlament beteiligte sich an dieser europaweiten Diskussion mit einer Entschließung, der ein umfassender Initiativbericht zum kollektiven Rechtsschutz zugrunde lag.8
Die vorliegende Mitteilung gibt die wesentlichen im Laufe der öffentlichen Konsultation geäußerten Meinungen sowie die Position der Kommission zu einigen zentralen Fragen des kollektiven Rechtsschutzes wieder. Parallel dazu legt die Kommission eine Empfehlung vor, in der allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Einführung einzelstaatlicher Systeme für den kollektiven Rechtsschutz auf der Grundlage gemeinsamer europäischer Prinzipien nahegelegt wird. In der Empfehlung wird ein allgemeiner Ansatz vertreten, so dass sie auch für das Wettbewerbsrecht gilt. Dieser Bereich ist aufgrund seiner Besonderheiten Gegenstand eines eigenständigen Vorschlags für eine Richtlinie über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen nach einzelstaatlichem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union9. Während die Empfehlung alle Mitgliedstaaten dazu auffordert, den dort festgehaltenen Grundsätzen zu folgen, bleibt es den Mitgliedstaaten in dem Richtlinienvorschlag freigestellt, ob sie Kollektivklagen im Rahmen der privaten Durchsetzung des Wettbewerbsrechts einführen oder nicht.10
1.2. Was bedeutet "kollektiver Rechtsschutz"?
Der kollektive Rechtsschutz umfasst prozessuale Mechanismen, die aus Gründen der Verfahrensökonomie und/oder einer effizienten Rechtsverfolgung die Zusammenfassung einer Vielzahl ähnlicher Rechtsansprüche in einer einzigen Klage ermöglichen. Kollektive Rechtsschutzverfahren erleichtern die Geltendmachung von Ansprüchen vor allem in Fällen, in denen der individuelle Schaden so gering ist, dass der mit einer Individualklage verbundene Aufwand unverhältnismäßig erscheint. Sie stärken zudem die Verhandlungsposition potenzieller Kläger und tragen zu einer effizienten Rechtspflege bei, da sie eine Vielzahl von Einzelverfahren wegen derselben Rechtsverletzung überflüssig machen.
Je nach Art des Anspruchs kann im Wege des kollektiven Rechtsschutzes auf Unterlassung, d.h. Einstellung eines rechtswidrigen Verhaltens, oder auf Ersatz des erlittenen Schadens geklagt werden. Beide Formen des kollektiven Rechtsschutzes sind Gegenstand dieser Mitteilung wie auch der parallel dazu vorgelegten Kommissionsempfehlung. Die in den Mitgliedstaaten auf der Grundlage des Unionsrechts bestehenden Möglichkeiten der Unterlassungsklage bleiben davon unberührt.
Zu beachten ist, dass es sich bei Klagen, die auf Unterlassung oder Schadensersatz wegen einer mutmaßlichen Rechtsverletzung oder auf Unterlassung eines bestimmten rechtswidrigen Verhaltens gerichtet sind, um zivilrechtliche Streitigkeiten zwischen zwei Privatparteien1 1 handelt, und zwar auch dann, wenn es sich bei einer Partei um ein "Kollektiv" handelt, d.h. um eine Gruppe von Klägern. Jede Rechtsverletzung und jeder darauf gründende Unterlassungs- oder Schadensersatzanspruch wird erst durch Entscheidung des Gerichts12 in der Hauptsache13 festgestellt. Das Verhalten der beklagten Partei (des Antragsgegners) in einer Zivilsache gilt daher im Einklang mit dem Rechtsstaatsprinzip erst dann als Verfehlung oder Rechtsverletzung, wenn das Gericht in diesem Sinne entschieden hat. 14
1.3. Stand des kollektiven Rechtsschutzes in der Europäischen Union
In bestimmten Bereichen sind die Mitgliedstaaten kraft EU-Rechts und internationaler Übereinkommen, denen die EU beigetreten ist, verpflichtet, die Möglichkeit einer kollektiven Unterlassungsklage vorzusehen. Im Bereich des Verbraucherrechts gibt die Richtlinie über Unterlassungsklagen 15 qualifizierten, d.h. klagebefugten Verbraucherschutzbehörden und -organisationen, die Möglichkeit, in allen Mitgliedstaaten Verfahren vor einem Gericht oder einer Verwaltungsbehörde einzuleiten, um die Abstellung von Verhaltensweisen zu erwirken, die gegen nationales und EU-Verbraucherrecht verstoßen. Im Bereich des Umweltrechts verpflichtet das Aarhus-Übereinkommen die Mitgliedstaaten, bei Verstößen gegen Umweltnormen eine Klagemöglichkeit vorzusehen. 16 In allen Mitgliedstaaten gibt es somit Verfahren, die es Klägern als Kollektiv oder in Vertretung erlauben, die Abstellung rechtswidriger Verhaltensweisen zu erwirken.
In einigen Mitgliedstaaten wurden im Zuge der dortigen rechtspolitischen Entwicklungen auch Verfahren für kollektive Schadensersatzklagen eingeführt. Auf EU-Ebene gibt es noch keine entsprechenden Instrumente. Die auf nationaler Ebene bestehenden Verfahren, die es einer Gruppe von Personen, die durch unerlaubte Geschäftspraktiken geschädigt worden sind, ermöglichen, Schadensersatz einzuklagen, sind von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich. 17 Unterschiede gibt es im Wesentlichen im Anwendungsbereich, in der Klagebefugnis für Vertreterorganisationen, Einzelpersonen, Unternehmen und insbesondere für KMU, in der Bildung der Klägergruppe ("optin" oder "optout"), der Kostenübernahme und der Verteilung des zugesprochenen Betrags.
Die Kommission arbeitet seit mehreren Jahren an europäischen Normen für kollektive
Schadensersatzverfahren im Bereich des Wettbewerbs- und Verbraucherrechts. 2005 gab sie ein Grünbuch18 über Schadensersatzklagen wegen Verletzung des EU-Wettbewerbsrechts und 2008 ein Weißbuch19 dazu heraus, in denen sie die Einführung des kollektiven Rechtsschutzes als weiteres Instrument zur Durchsetzung des EU-Wettbewerbsrechts durch Private erörterte. 2008 veröffentlichte sie zudem ein Grünbuch20 über kollektive Rechtsdurchsetzungsverfahren für Verbraucher.
In der Konsultation wurde auf Unstimmigkeiten zwischen den verschiedenen Initiativen zum kollektiven Rechtsschutz hingewiesen, die die Notwendigkeit eines kohärenteren Systems deutlich machen, denn der kollektive Rechtsschutz ist ein Verfahrensinstrument, das nicht nur für den Wettbewerb oder den Verbraucherschutz, sondern auch für andere Bereiche der EU-Politik relevant sein kann. Gute Beispiele sind die Finanzdienstleistungen, der Umweltschutz, Datenschutz 21 oder das Gleichbehandlungsgebot. Die Kommission hält daher auf der Grundlage der 2011 durchgeführten öffentlichen Konsultation22 ein einheitlicheres Vorgehen und einen allgemeinen Ansatz für den kollektiven Rechtsschutz für notwendig.
2. Wesentliche Ergebnisse der öffentlichen Konsultation
2.1. Beiträge der Teilnehmer
Die öffentliche Konsultation der Kommission zum kollektiven Rechtsschutz stieß auf erhebliches Interesse: Die Kommission erhielt 310 Antworten, und 300 Personen nahmen am 5. April 2011 an einer mündlichen Anhörung teil. Mehr als 19 000 Antworten gingen als Massen-E-Mail von Bürgern ein. 23 Die meisten Beiträge waren von hoher Qualität, was zeigt, wie groß das Interesse an diesem Thema ist und welche Bedeutung ihm beigemessen wird. Sie vermittelten der Kommission einen Einblick in die unterschiedlichen Standpunkte der Konsultationsteilnehmer und machten deutlich, welche Punkte kontrovers diskutiert werden und bei welchen Punkten eher Einvernehmen besteht.
Wenn es um die Vorteile geht, die mit neuen Verfahren für den kollektiven Rechtsschutz zur Durchsetzung des EU-Rechts verbunden wären, sind die Konsultationsteilnehmer in zwei Lager - Bürger/Verbraucher und Unternehmen - gespalten: Neue Verfahren werden von den Verbrauchern generell befürwortet, während Unternehmen in der Regel dagegen sind. Vertreter der Wissenschaft und Lehre sind allgemein dafür, Anwälte sind geteilter Meinung, wobei die Skeptiker oder Gegner in der Überzahl sind.
Unterschiedliche Positionen vertraten auch die Mitgliedstaaten, die sich an der Konsultation beteiligten:24 Sie reichten von verbindlichen EU-Vorschriften für den kollektiven Rechtsschutz bis zu starker Skepsis.
Einige Mitgliedstaaten befürworteten eine verbindliche EU-Regelung nur für bestimmte Rechtsbereiche oder Problemlösungen: Dänemark - für einen grenzüberschreitenden kollektiven Rechtsschutz; die Niederlande - für Aspekte des Internationalen Privatrechts; Schweden - für Bereiche mit harmonisiertem materiellem Recht (z.B. Wettbewerb); Vereinigtes Königreich - für den Bereich Wettbewerb; Lettland - für verbindliche Mindestnormen im Bereich des Verbraucher- und Wettbewerbsrechts bei grenzüberschreitenden Fällen.
In mehreren Beiträgen, die verschiedenen Teilnehmergruppen zuzuordnen sind, wurde die Ansicht vertreten, dass die kollektive Rechtsdurchsetzung im privaten Interesse in der Regel unabhängig von der Rechtsdurchsetzung durch hoheitliche Stellen erfolgen sollte, dass aber ein gewisses Maß an Koordinierung zwischen diesen beiden Formen der Rechtsdurchsetzung erforderlich ist, ja, dass sie einander ergänzen sollten. Andere sprachen sich dafür aus, dass der kollektive Rechtsschutz erst nach der staatlichen Rechtsdurchsetzung, d.h. in Form einer Folgeklage, greifen sollte.
Die meisten Teilnehmer halten die Formulierung gemeinsamer Grundsätze für den kollektiven Rechtsschutz auf EU-Ebene für wünschenswert. Diese Grundsätze müssten aber mit dem EU-Rechtssystem und den Rechtsordnungen der 27 Mitgliedstaaten vereinbar sein und den praktischen Erfahrungen Rechnung tragen, die einige Mitgliedstaaten bereits mit dem kollektiven Rechtsschutz gemacht haben. Sie sollten nach Ansicht vieler Teilnehmer für ein wirksames Verfahren sorgen, Klagemissbrauch verhindern, eine kollektive, einvernehmliche Streitbeilegung fördern und die Urteilsvollstreckung im Ausland erleichtern.
In Bezug auf Wirksamkeit und Schutzvorkehrungen fanden die folgenden Eckpunkte eines kollektiven Rechtsschutzsystems große Zustimmung: Verfahren des kollektiven Rechtsschutzes sollten vor allem in der Lage sein, eine Vielzahl individueller Ansprüche, die in derselben mutmaßlichen Verletzung von durch EU-Recht garantierten Rechten begründet sind und dieselben oder gemeinsame Fragen betreffen, wirksam zu regeln. Sie sollten innerhalb eines angemessenen zeitlichen Rahmens unter Beachtung der Rechte aller Beteiligten ein gerechtes Ergebnis liefern, das rechtlich Bestand hat. Gleichzeitig sollte es Schutzvorkehrungen gegen Klagemissbrauch geben, und wirtschaftliche Anreize für spekulative Forderungen sollten vermieden werden. Wie sich in der öffentlichen Konsultation bei näherer Betrachtung der Komponenten, die für ein wirksames und vor Missbrauch geschütztes System notwendig sind, gezeigt hat, ist der kollektive Rechtsschutz in den Mitgliedstaaten unterschiedlich ausgestaltet. Dies gilt für die Art der Kollektivklage, die zur Verfügung steht, und deren wesentliche Merkmale wie Zulässigkeit, Klagebefugnis, "Optin"- oder "Optout"-Prinzip, die Rolle des Richters im Verfahren und die Pflicht zur Information potenzieller Kläger über eine Kollektivklage. Zudem ist jedes Verfahren des kollektiven Rechtsschutzes in den größeren Rahmen des allgemeinen Zivil- und Prozessrechts, der für die Rechtsberufe geltenden Vorschriften und sonstiger einschlägiger Regelungen eingebettet, die ebenfalls von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich sind. Angesichts dieser Vielfalt gehen die Meinungen darüber, ob ein bestimmtes nationales System für den kollektiven Rechtsschutz - oder Teile davon - für die Formulierung EU-weiter Standards in Bezug auf Wirksamkeit und Schutzvorkehrungen von besonderem Nutzen sein könnte, naturgemäß weit auseinander.
2.2. Mögliche Vor- und Nachteile des kollektiven Rechtsschutzes
In zahlreichen Konsultationsbeiträgen wurde auf die Vor- und Nachteile hingewiesen, die mit dem kollektiven Rechtsschutz verbunden sind. Diese möglichen Vor- und Nachteile müssen vor dem Hintergrund der Werte und der Politik der Europäischen Union, wie sie insbesondere in den Verträgen und in der Gesetzgebung zum Ausdruck kommen, gesehen werden. Vorteile sind dann zu erwarten, wenn die in der Empfehlung der Kommission vorgegebenen gemeinsamen Grundsätze ordnungsgemäß umgesetzt werden; mögliche Nachteile würden dadurch abgeschwächt.
2.2.1. Vorteile: Zugang zur Justiz und wirksamere Rechtsverfolgung
Nach Artikel 47 Absatz 1 der Grundrechtecharta hat jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht, bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen. Die Wirksamkeit des Rechtsbehelfs hängt von verschiedenen Faktoren ab, darunter auch von der Art und Weise, wie der gebotene Rechtsschutz konkret in Anspruch genommen werden kann.
Wie der Europäische Rat im Stockholmer Programm betont hat, muss der Zugang zur Justiz im europäischen Rechtsraum, insbesondere in grenzüberschreitenden Verfahren, verbessert werden. Ein Hindernis für den Zugang zur Justiz können die Prozesskosten sein. Wenn eine Vielzahl von Personen behauptet, durch eine mutmaßliche Verletzung von durch EU-Recht garantierten Rechten geschädigt worden zu sein, der mögliche Schaden für den Einzelnen aber im Vergleich zu seinen möglichen Prozesskosten gering ist, können diese Personen ihre Schadensersatzansprüche, soweit sie vergleichbar sind, in einem Verfahren des kollektiven Rechtsschutzes gemeinsam geltend machen und die Verfahrenskosten teilen, wodurch sich die finanzielle Belastung für den Einzelnen verringert. Die Möglichkeit der Kollektivklage gibt einer größeren Zahl potenziell Geschädigter die Gelegenheit, ihre Schadensersatzansprüche geltend zu machen. 25 Kollektivklagen in den nationalen Rechtssystemen können daher - zusammen mit kollektiven außergerichtlichen Streitbeilegungsverfahren - zu einem besseren Zugang zur Justiz beitragen.
Wenn Geschädigte auf diese Weise ihre durch EU-Recht garantierten Rechte wirksamer gegen Rechtsverletzer durchsetzen können, wird dadurch auch die Durchsetzung des EU-Rechts insgesamt gefördert. In Bereichen, in denen Stellen der öffentlichen Verwaltung zur Rechtsdurchsetzung im öffentlichen Interesse befugt sind, sind öffentliche und private Rechtsdurchsetzung komplementär: Die öffentliche Rechtsdurchsetzung ist auf Prävention, Feststellung und Abschreckung von Rechtsverstößen gerichtet, während die private Rechtsdurchsetzung auf Schadensersatz für Geschädigte abzielt. In Bereichen, in denen die öffentliche Rechtsdurchsetzung schwächer ausgeprägt ist, kann der kollektive Rechtsschutz neben seiner kompensatorischen oder präventiven Funktion auch abschreckende Wirkung entfalten.
2.2.2. Nachteil: Gefahr von Klagemissbrauch
Gegen die Einführung kollektiver Rechtsschutzverfahren wurde vor allem vorgebracht, sie würden Klagemissbrauch Vorschub leisten oder sich negativ auf die Wirtschaftstätigkeit von EU-Unternehmen auswirken. 26 Eine Klage kann dann als missbräuchlich angesehen werden,
wenn sie bewusst gegen ein sich rechtskonform verhaltendes Unternehmen gerichtet ist, um sein Ansehen in Misskredit zu bringen oder seine Finanzen ohne Grund zu belasten.
Allein die Behauptung einer Rechtsverletzung kann das Bild, das sich Kunden oder potenzielle Kunden von einem Unternehmen machen, negativ beeinflussen. Gesetzestreue Unternehmen, gegen die Klage erhoben worden ist, sind unter Umständen geneigt, sich auf einen Vergleich einzulassen, nur um einen möglichen Schaden abzuwenden oder den Schaden zu begrenzen. Zudem können die Kosten für die rechtliche Vertretung in einem komplexen Fall, insbesondere für kleinere Unternehmen, erheblich sein.
"Class actions" nach US-amerikanischem Recht sind das bekannteste Beispiel des kollektiven Rechtsschutzes, zeigen gleichzeitig aber auch, wie anfällig dieses System für Klagemissbrauch ist. Im Rechtssystem der USA sind "class actions" zu einem besonders schlagkräftigen Instrument geworden, das von denen, gegen die sich dieses Instrument richtet, nämlich Handel und Industrie, gefürchtet wird. "Class actions" verdanken ihre Schlagkraft einer Kombination rechtlicher Besonderheiten, die Unternehmen dazu veranlassen können, in einer Streitigkeit einzulenken, auch wenn der Fall auf schwachen Füßen steht. Solche Besonderheiten sind beispielsweise erfolgsabhängige Honorare für Rechtsanwälte oder Beweisanordnungen auf Vorlage von Dokumenten, die sogenannte Beweisfischzüge ermöglichen. Ein weiteres wichtiges Merkmal des US-Rechtssystems ist die Möglichkeit, Strafschadensersatz zu erlangen, der das wirtschaftliche Interesse an einer "class action" noch erhöht. In den meisten Fällen gilt für diese Klagen das "Optout"-Prinzip: Der Vertreter der "class" kann im Namen der gesamten Gruppe aller möglicherweise Betroffenen klagen, ohne dass diese im Einzelnen zur Teilnahme aufgefordert werden. Angesichts der nachteiligen wirtschaftlichen und rechtlichen Folgen dieses Systems, das durch mutwillige Prozessiererei anfällig für Missbrauch ist, hat der US Supreme Court in den letzten Jahren begonnen, die Verwendung dieser Klageart einzuschränken.
2.3. Entschließung des Europäischen Parlaments von 2012
In seiner Entschließung "Kollektiver Rechtsschutz: Hin zu einem kohärenten europäischen Ansatz" vom 2. Februar 1227 stellt das Europäische Parlament fest, dass die Meinungen zum kollektiven Rechtsschutz stark voneinander abweichen.
Das Europäische Parlament begrüßt die Bemühungen der Kommission zur Schaffung eines kohärenten europäischen Konzepts für den kollektiven Rechtsschutz und betont, "dass die durch rechtswidrige Praktiken geschädigten Bürger und Unternehmen in der Lage sein müssen, Entschädigung für ihre individuellen Verluste oder erlittenen Schäden zu verlangen, insbesondere im Fall von Massen- und Streuschäden, bei denen das Kostenrisiko möglicherweise nicht im Verhältnis zu den erlittenen Schäden steht"28. Es unterstreicht "die möglichen Vorteile kollektiver Klagen im Hinblick auf die Verringerung der Kosten und der Erhöhung der Rechtssicherheit für Kläger, Beklagte und das Gerichtswesen gleichermaßen, indem die parallele Verhandlung ähnlicher Klagen vermieden wird"29.
Das Parlament fordert die Kommission allerdings auch dazu auf, eine eingehende Folgenabschätzung vorzunehmen, bevor sie weitere gesetzgeberische Schritte unternimmt30. Die Kommission solle, so das Europäische Parlament, in dieser Folgenabschätzung nachweisen, "dass es gemäß dem Grundsatz der Subsidiarität notwendig ist, auf Ebene der EU tätig zu werden, um den derzeit geltenden Rechtsrahmen der Europäischen Union zu verbessern, so dass die durch die Verletzung des Unionsrechts Geschädigten für erlittenen Schaden entschädigt werden können und somit zu Verbrauchervertrauen und reibungsloserem Funktionieren des Binnenmarktes beigetragen werden kann." Das Parlament weist ferner darauf hin, "dass derzeit ausschließlich die Mitgliedstaaten die Zuständigkeit haben für einzelstaatliche Regelungen, die auf die Quantifizierung der möglichen Entschädigungssumme Anwendung finden"31. Die Kommission wird aufgefordert, "die geeignete Rechtsgrundlage für Maßnahmen im Bereich des kollektiven Rechtsschutzes gründlich zu prüfen"32.
Das Parlament fordert abschließend, "dass - wenn nach eingehender Prüfung entschieden werden sollte, dass ein Mechanismus kollektiven Rechtsschutzes auf EU-Ebene notwendig und wünschenswert ist - jeder Vorschlag im Bereich kollektiven Rechtsschutzes die Form eines horizontalen Rahmens mit gemeinsamen Grundsätzen haben sollte, die in der EU einheitlichen Zugang zu den Gerichten mittels kollektiven Rechtsschutzes gewährleisten und insbesondere, aber nicht ausschließlich Verletzungen der Verbraucherrechte betreffen"33. Es betont "die Notwendigkeit, den Rechtstraditionen und den Rechtsordnungen der einzelnen Mitgliedstaaten gebührend Rechnung zu tragen und die Koordinierung bewährter Verfahren zwischen den Mitgliedstaaten zu verbessern"34.
Zum Anwendungsbereich eines möglichen horizontalen Rahmens für den kollektiven Rechtsschutz stellt das Europäische Parlament fest, dass eine EU-Regelung den größten Nutzen bei grenzübergreifenden Fällen sowie in Fällen hätte, in denen eine Verletzung von Unionsrecht vorliegt.
Nach Ansicht des Parlaments sollten die europäischen Vorschriften des Internationalen Privatrechts allgemein auf Kollektivklagen Anwendung finden, wobei allerdings im EU-Rahmen selbst Vorkehrungen zu treffen wären, um Forum Shopping zu vermeiden.
Zu überprüfen wären auch die Kollisionsnormen.
Das Europäische Parlament geht zudem auf einzelne Aspekte des kollektiven Rechtsschutzes ein. Es spricht sich für das "Optin"-Prinzip als dem einzig angemessenen europäischen Konzept für den kollektiven Rechtsschutz aus. Es muss im Voraus festgelegt werden, welche Vertreterorganisationen klageberechtigt sind. Strafschadensersatz sollte strikt verboten werden. Bestätigt das Gericht die Ansprüche der Kläger, sollten sie für den entstandenen Schaden vollständig entschädigt werden.
Eine Möglichkeit, Klagemissbrauch entgegenzuwirken, besteht nach Auffassung des Parlaments darin, bestimmte Aspekte vom Anwendungsbereich des horizontalen Rahmens auszunehmen, insbesondere den Strafschadensersatz, die Finanzierung von Kollektivklagen durch Dritte und erfolgsabhängige Honorare für Rechtsanwälte. Die zivilprozessrechtliche Grundregel, wonach die unterlegene Partei die Kosten trägt, sollte dem Parlament zufolge als zentrale Schutzvorkehrung gegen Missbrauch auch im kollektiven Rechtsschutz gelten. Für die private Finanzierung von Schadensersatzklagen durch Dritte sollten keine Bedingungen oder Leitlinien festgelegt werden.
3. Komponenten eines Allgemeinen Europäischen Rahmens für den Kollektiven Rechtsschutz
Um festzustellen, welches die zentralen Aspekte sind, die in einem allgemeinen europäischen Rahmen für den kollektiven Rechtsschutz in kohärenter Weise geregelt werden müssen, wurden die bei der öffentlichen Konsultation vorgetragenen Auffassungen und Argumente und insbesondere die Position des Europäischen Parlaments aufmerksam geprüft. Berücksichtigt wurden dabei auch die Erkenntnisse, die die Kommission im Laufe früherer Arbeiten in den Bereichen Verbraucherschutz und Wettbewerb gewonnen hat.
Eine europäische Rahmenregelung für den kollektiven Rechtsschutz sollte nach allgemeinem Dafürhalten
- - in der Lage sein, eine Vielzahl individueller Schadensersatzansprüche wirksam zu regeln, und auf diese Weise die Prozessökonomie befördern, - in der Lage sein, innerhalb eines angemessenen zeitlichen Rahmens unter Beachtung der Rechte aller Beteiligten ein gerechtes Ergebnis zu liefern, das rechtlich Bestand hat,
- - solide Schutzvorkehrungen gegen Klagemissbrauch vorsehen und - keine wirtschaftlichen Anreize für spekulative Forderungen bieten.
3.1. Verhältnis zwischen öffentlicher Rechtsdurchsetzung und privater kollektiver
Rechtsverfolgung - Schadensersatz als Gegenstand der Kollektivklage
Alle Konsultationsteilnehmer sind sich darin einig, dass private und öffentliche Rechtsverfolgung unterschiedliche Mittel sind, mit denen normalerweise unterschiedliche Ziele verfolgt werden. Hauptaufgabe der öffentlichen Rechtsverfolgung ist die Anwendung von EU-Recht im öffentlichen Interesse und die Verhängung von Sanktionen gegen Rechtsverletzer als Strafe und Abschreckung, während die private kollektive Rechtsverfolgung in erster Linie als Mittel angesehen wird, den durch eine Rechtsverletzung Geschädigten Zugang zum Recht und - soweit es um Schadensersatz geht - die Möglichkeit zu geben, einen Ausgleich für den erlittenen Schaden zu erlangen. In diesem Sinne sind öffentliche Rechtsdurchsetzung und private kollektive Rechtsverfolgung als komplementär anzusehen.
Kollektive Schadensersatzklagen sollten auf den Ersatz des Schadens gerichtet sein, der nachweislich durch einen Rechtsverstoß verursacht wurde. Strafe und Abschreckung sollten der öffentlichen Rechtsverfolgung vorbehalten bleiben. Es besteht keine Notwendigkeit für eine EU-Initiative zum kollektiven Rechtsschutz, die über einen Ersatz des entstandenen Schadens hinausgeht: Ein europäisches System des kollektiven Rechtsschutzes sollte ohne Strafschadensersatz auskommen.
3.2. Zulässigkeit des kollektiven Rechtsschutzes
Die Zulässigkeitsvoraussetzungen von Kollektivklagen sind von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich und hängen davon ab, um welche Art von Verfahren es sich konkret handelt. In der Regel gibt das Gesetz, das eine bestimmte Art der Kollektivklage regelt, die allgemeinen Zulässigkeitsvoraussetzungen vor. Es gibt aber auch Rechtssysteme, die die Beurteilung der Zulässigkeit in das Ermessen der Gerichte stellen. Der Ermessensspielraum der Gerichte ist in den Mitgliedstaaten verschieden, und zwar auch dann, wenn die Zulässigkeitsvoraussetzungen gesetzlich geregelt sind.
Manche Kollektivklagen kommen für alle Arten zivilrechtlicher Schadensersatzansprüche in Frage, andere nur für Schadensersatzansprüche aus einer Verletzung bestimmter Rechtsvorschriften: Verbraucherschutz, Umweltschutz, Anlegerschutz, Wettbewerbsrecht usw. Es gibt auch Systeme, in denen eine Behörde erst einen Verstoß gegen einschlägige Rechtsvorschriften feststellen muss, bevor bestimmte Arten von Kollektivklagen, z.B. Folgeklagen35, erhoben werden dürfen.
Es sollte gewährleistet sein, dass kollektive Schadensersatzklagen nur dann erhoben werden dürfen, wenn bestimmte Zulässigkeitsvoraussetzungen erfüllt sind. In jedem Fall sollten die Gerichte schon sehr früh im Verfahren über die Zulässigkeit einer Kollektivklage entscheiden.
3.3. Klagebefugnis
Die Befugnis zur Erhebung von Kollektivklagen in einem Mitgliedstaat hängt davon ab, um welche Art kollektiver Rechtsverfolgung es sich konkret handelt. Bei bestimmten Klagearten wie Gruppenklagen, wo die Klage gemeinsam von denjenigen erhoben wird, die behaupten, einen Schaden erlitten zu haben, ist die Feststellung der Klagebefugnis unproblematisch. Anders ist dies bei Klagen, die in Vertretung erhoben werden. Bei einer in Vertretung erhobenen Schadensersatzklage handelt es sich um eine Klage, die von einer Vertreterorganisation (in manchen Rechtssystemen kann das auch eine Behörde sein) im Namen einer bestimmten Gruppe von natürlichen oder juristischen Personen, die einen durch dieselbe mutmaßliche Rechtsverletzung verursachten Schaden geltend machen, erhoben wird. Die dieser Gruppe angehörenden Personen sind selbst nicht Partei; Klagepartei ist allein die Vertreterorganisation. Es muss daher gewährleistet sein, dass der Vertreter nicht im eigenen Interesse, sondern wirklich im Interesse der Gruppe, die er vertritt, handelt. Die Kommission hält es für wünschenswert, dass ein allgemeiner europäischer Rahmen für den kollektiven Rechtsschutz natürlichen und juristischen Personen in allen Mitgliedstaaten die Möglichkeit bietet, Kollektivklage auf Unterlassung oder Ersatz des Schadens zu erheben, der ihnen durch Verletzung von durch EU-Recht garantierten Rechten entstanden ist.
Zur Festlegung der Kriterien für die Anerkennung klagebefugter Vertreterorganisationen, die keine hoheitliche Gewalt ausüben, gibt es mehrere Möglichkeiten. Eine Möglichkeit besteht darin, dass das Gericht von Fall zu Fall prüft, ob die Vertreterorganisation als Kläger geeignet ist (Adhoc-Zulassung). Eine andere Möglichkeit wäre, die Anerkennungskriterien gesetzlich festzulegen, d.h. die Klagebefugnis abstrakt zu bestimmen. Es wäre dann Sache des Gerichts zu prüfen, ob die Anerkennungskriterien erfüllt sind, oder es könnte eine Art behördlicher Genehmigung vorgesehen werden, wenn die Kriterien von einer Behörde geprüft werden. Massenschäden können sich - vor allem im Falle eines weiter entwickelten digitalen Binnenmarkts - über mehrere Länder erstrecken. Vertreterorganisationen aus anderen Mitgliedstaaten als dem, in dem Kollektivklage erhoben wird, sollten deshalb die Möglichkeit haben, ihre Aufgabe auch in einem solchen Fall weiter wahrzunehmen.
Während vor allem Unternehmen die Klagebefugnis für Verbandsklagen nur anerkannten Einrichtungen zuerkennen wollen, die ganz bestimmte Kriterien erfüllen, sind andere Konsultationsteilnehmer gegen eine gesetzliche Regelung der Klagebefugnis, da dies ihrer Meinung nach die Möglichkeit, auf Schadensersatz zu klagen, für all jene unnötig einschränkt, die einen Schaden erlitten haben könnten. Die Kommission ist der Auffassung, dass die Voraussetzungen für die Klagebefugnis bei in Vertretung erhobenen Klagen in der Empfehlung der Kommission 36 festgelegt werden sollten.
3.4. "Optin" vs. "optout"
Die Zusammensetzung einer vertretenen Gruppe bestimmt sich nach zwei Grundprinzipien: Das "Optin"-Prinzip bedeutet, dass der Gruppe nur die natürlichen oder juristischen Personen angehören, die sich der Gruppe ausdrücklich angeschlossen haben, während der Gruppe beim "Optout"-Prinzip alle Personen angehören, die einen Schaden aufgrund desselben oder eines ähnlichen Verstoßes geltend machen und die nicht ausdrücklich aus der Gruppe ausgeschieden sind. Beim "Optin"-Prinzip ist das Urteil für alle Personen verbindlich, die sich ausdrücklich der Gruppe angeschlossen haben, während alle anderen Personen, die durch denselben oder einen ähnlichen Verstoß geschädigt wurden, ihre Schadensersatzansprüche individuell weiterverfolgen können. Beim "Optout"-Prinzip gilt das Urteil hingegen für diejenigen, die als der Gruppe zugehörig gelten, mit Ausnahme der Personen, die sich von der Gruppe ausdrücklich distanziert haben. Die meisten Mitgliedstaaten, die Verfahren des kollektiven Rechtsschutzes bieten, wenden das "Optin"-Prinzip an. Nach dem "Optout"- Prinzip verfahren Portugal, Bulgarien und die Niederlande (bei Kollektivvergleichen) sowie Dänemark bei bestimmten Verbandsklagen in Verbrauchersachen. 37
Viele Konsultationsteilnehmer, insbesondere Unternehmen, lehnen das "Optout"-Prinzip nachdrücklich ab, da es anfälliger für Missbrauch sei und in einigen Mitgliedstaaten verfassungswidrig oder zumindest mit nationalen Rechtstraditionen unvereinbar sein könnte. Einige Verbraucherorganisationen halten dagegen, dass "Optin"-Systeme nicht allen geschädigten Verbrauchern wirksamen Zugang zum Recht garantieren. 38 Ihrer Ansicht nach ist daher das "Optout"-Prinzip vorzuziehen, zumindest als Option in geeigneten Fällen und mit Zustimmung des Gerichts.
Nach Auffassung der Kommission muss gewährleistet sein, dass die vertretene Gruppe klar bestimmt ist, damit das Gericht das Verfahren in einer Weise führen kann, dass die Rechte aller Beteiligten, insbesondere die Verteidigungsrechte, gewahrt sind.
Der "Optin"-Grundsatz achtet das Recht einer Person, sich für oder gegen eine Teilnahme am Verfahren zu entscheiden, und wird daher der Parteiautonomie eher gerecht. Auch lässt sich der Streitwert in diesem Fall leichter bestimmen, da er aus der Summe aller Einzelansprüche bestünde. Dem Gericht fällt es leichter, über Zulässigkeit und Begründetheit der Kollektivklage zu befinden. Das "Optin"-System garantiert auch, dass das Urteil nicht für andere potenzielle Kläger verbindlich ist, die sich dem Verfahren nicht angeschlossen haben.
Das "Optout"-System wirft Fragen grundsätzlicher Art auf wie die Entscheidungsfreiheit potenzieller Kläger in Bezug auf die Teilnahme an einem Rechtsstreit. Das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf kann nicht in einer Weise ausgelegt werden, die Betroffene daran hindert, (in Kenntnis aller relevanten Umstände) eine Entscheidung darüber zu treffen, ob sie Schadensersatz geltend machen wollen oder nicht. Das "Optout"-System verträgt sich möglicherweise auch nicht mit dem zentralen Anliegen des kollektiven Rechtsschutzes, nämlich Ersatz des erlittenen Schadens zu erlangen, da die Geschädigten nicht bestimmt werden und ihnen somit auch kein zugesprochener Betrag ausgezahlt werden kann.
Die Kommission vertritt in ihrer Empfehlung für einen allgemeinen europäischen Rahmen des kollektiven Rechtsschutzes daher den Standpunkt, dass die Klagepartei nach dem "Optin"- Prinzip gebildet werden sollte und etwaige gesetzliche oder richterliche Ausnahmen mit Gründen der ordnungsgemäßen Rechtspflege zu rechtfertigen sind.
3.5. Effektive Information potenzieller Kläger
Eine effektive Information über kollektive Rechtsschutzverfahren ist unerlässlich, damit diejenigen, die einen Schaden aufgrund desselben oder eines ähnlichen Rechtsverstoßes geltend machen können, überhaupt von der Möglichkeit erfahren, sich einer Vertretungs- oder Gruppenklage anzuschließen, und so auf diese Weise Rechtsschutz erlangen können.
Zu bedenken ist allerdings, dass die Ankündigung einer Kollektivklage beispielsweise im Fernsehen oder über Anzeigen das Ansehen des Beklagten schädigen und sich damit negativ auf seine wirtschaftliche Situation auswirken könnte.
Alle Konsultationsteilnehmer sind sich einig, dass eine Vertreterorganisation verpflichtet sein muss, potenzielle Mitglieder der vertretenen Gruppe effektiv zu informieren. Viele schlagen vor, dass die Einhaltung dieser Informationspflicht gerichtlich überprüft werden sollte.
Bei allen Formen des kollektiven Rechtsschutzes sollte in den Vorschriften über die Unterrichtung potenzieller Kläger darauf geachtet werden, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung und das Auskunftsrecht in einem ausgewogenen Verhältnis zum Schutz des Ansehens des Beklagten stehen. Es wird auf den Zeitpunkt und die Bedingungen für die Bereitstellung der Informationen ankommen, ob diese Ausgewogenheit gewahrt ist.
3.6. Verhältnis zwischen privater kollektiver Rechtsverfolgung und öffentlicher
Rechtsdurchsetzung in bestimmten Rechtsbereichen
In Bereichen der EU-Politik wie Wettbewerb, Umwelt, Datenschutz oder Finanzdienstleistungen, in denen die öffentliche Rechtsdurchsetzung eine wichtige Rolle spielt, halten die meisten Konsultationsteilnehmer besondere Vorschriften zur Regelung des Verhältnisses zwischen privater und öffentlicher Rechtsverfolgung sowie zum Schutz der Effektivität der öffentlichen Rechtsdurchsetzung für erforderlich .39
Kollektive Schadensersatzklagen in durch EU-Recht geregelten Bereichen werden in der Regel im Anschluss an eine von einer Behörde erlassene Entscheidung erhoben und stützen sich auf die Feststellung eines Rechtsverstoßes, die für das Zivilgericht, das über die kollektive Schadensersatzklage entscheiden muss, häufig bindend ist. So bestimmt die Verordnung (EG) Nr. 1/2003, dass die Gerichte der Mitgliedstaaten, wenn sie über Fragen zu befinden haben, die das EU-Wettbewerbsrecht berühren und bereits Gegenstand einer Kommissionsentscheidung sind, keine Entscheidungen erlassen dürfen, die der Entscheidung der Kommission zuwiderlaufen.
Bei Folgeklagen geht es in diesen Fällen im Wesentlichen darum, ob durch die Zuwiderhandlung ein Schaden verursacht wurde und wenn ja, wer geschädigt wurde und in welcher Höhe.
Es muss sichergestellt sein, dass die Effektivität der öffentlichen Rechtsdurchsetzung nicht durch kollektive Schadensersatzklagen oder durch Klagen gefährdet wird, die bereits während des behördlichen Untersuchungsverfahrens erhoben werden. Hierzu müsste der Zugang der Kläger zu Dokumenten geregelt werden, die die Behörde im Laufe der Untersuchungen erlangt oder erstellt hat, oder es müssten besondere Verjährungsvorschriften eingeführt werden, die es potenziellen Klägern ermöglichen, mit ihrer Kollektivklage zu warten, bis die Behörde über die Zuwiderhandlung entschieden hat. Derartige Vorschriften würden über den Schutz der öffentlichen Rechtsverfolgung hinaus auch zu einem wirksamen, effizienten Rechtsschutz im Wege kollektiver Schadensersatzklagen beitragen, da sich die Kläger bei einer Folgeklage in erheblichem Umfang auf die Ergebnisse der öffentlichen Rechtsdurchsetzung stützen und so die (erneute) Erörterung bestimmter Fragen vermeiden könnten. Um die Effektivität der öffentlichen Rechtsdurchsetzung zu wahren und gleichzeitig die private kollektive Rechtsverfolgung - insbesondere im Wege kollektiver Folgeklagen - zu erleichtern, sollten die Besonderheiten kollektiver Schadensersatzklagen in Rechtsbereichen, in denen die öffentliche Rechtsverfolgung eine wichtige Rolle spielt, angemessen berücksichtigt werden.
3.7. Effektive Rechtsdurchsetzung im Wege grenzübergreifender Kollektivklagen mithilfe des Internationalen Privatrechts
Den allgemeinen Grundsätzen des europäischen Internationalen Privatrechts zufolge sollte ein kollektiver Rechtsstreit mit grenzüberschreitendem Bezug vor einem zuständigen Gericht auf der Grundlage europäischer Zuständigkeits- und Gerichtsstandsvorschriften verhandelt werden, um Forum Shopping zu vermeiden. Das europäische Zivilprozessrecht und die Regeln zur Bestimmung des anzuwendenden Rechts sollten in der Praxis effizient angewendet werden, um in grenzübergreifenden Fällen eine reibungslose Koordinierung nationaler Kollektivverfahren zu gewährleisten.
Im Zusammenhang mit den Zuständigkeitsvorschriften forderten zahlreiche Konsultationsteilnehmer eine besondere Regelung für Kollektivverfahren auf europäischer Ebene. Bei der Anknüpfung zwischen Gericht und Streitsache gehen die Meinungen allerdings auseinander. Eine Gruppe setzt sich für eine neue Regelung ein, wonach bei einem Massenschaden die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig sein sollen, in dem die Mehrzahl der Personen wohnhaft ist, die einen Schaden geltend machen, und/oder für eine Ausweitung der für Verbraucher geltenden Gerichtsstandsregeln auf Vertreterverbände, die Kollektivklage erheben. Eine zweite Gruppe hält als Gerichtsstand den Wohnsitz des Beklagten für am besten geeignet, da er sich leicht feststellen lässt und Rechtssicherheit garantiert. Eine dritte Gruppe schlägt vor, beim Gerichtshof der Europäischen Union eine besondere Kammer für Kollektivklagen mit grenzübergreifendem Bezug einzurichten.
Die Kommission steht in dieser Frage auf dem Standpunkt, dass die bestehenden Vorschriften der Verordnung (EG) Nr. 044/2001 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ("Verordnung Brüssel I")40 in vollem Umfang angewandt werden sollten. In dem geplanten Bericht über die Anwendung der Verordnung Brüssel I sollte auch auf die Frage der wirksamen Vollstreckung bei grenzüberschreitenden Kollektivverfahren eingegangen werden.
Einige Konsultationsteilnehmer sprachen das Problem an, dass ein Gericht, das über eine Kollektivklage mit Klägern aus mehreren Mitgliedstaaten zu befinden hat, nach den derzeitigen Kollisionsnormen der EU41 mitunter unterschiedliche Rechtsvorschriften anzuwenden hat, um in der Sache entscheiden zu können. Bei deliktischen Schuldverhältnissen gilt als Grundregel, dass das Recht des Landes maßgebend ist, in dem das schadensbegründende Ereignis eingetreten ist. Bei Ansprüchen aus Produkthaftung bestimmt sich das anzuwendende Recht nach dem gewöhnlichen Aufenthalt der Person, die den Schaden erlitten hat. Bei Ansprüchen aus unlauterem Wettbewerb gilt das Recht des Landes, in dem die Wettbewerbsbeziehungen oder die kollektiven Interessen der Verbraucher beeinträchtigt worden sind oder beeinträchtigt zu werden drohen. Es kann sicherlich Situationen geben, wo grenzübergreifende Streitsachen aufgrund der Kollisionsnormen noch komplizierter werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn das Gericht auf jede Gruppe von Geschädigten unterschiedliche Entschädigungsregelungen anwenden muss. Die Kommission ist jedoch bislang nicht davon überzeugt, dass eine besondere Regelung für kollektive Schadensersatzansprüche eingeführt werden sollte, wonach das Gericht im Einzelfall nur ein Recht anzuwenden hat, da dies zu Rechtsunsicherheit führen kann, wenn es sich bei dem anzuwendenden Recht nicht um das Recht des Landes der Person handelt, die Schadensersatz geltend macht.
3.8. Möglichkeit der außergerichtlichen kollektiven Streitbeilegung
Einvernehmliche Streitbeilegungsverfahren können den Parteien nach allgemeiner Überzeugung eine einfache, rasche und kostengünstige Konfliktlösung bieten. Damit ließe sich auch der Gang zum Gericht in vielen Fällen vermeiden. Die Parteien sollten daher die Möglichkeit haben, ihren Kollektivstreit außergerichtlich mit Hilfe Dritter (z.B. unter Rückgriff auf Schiedsverfahren oder Mediation) oder auch ohne Beteiligung Dritter (z.B. gütliche Einigung zwischen den Parteien) zu regeln.
Der Versuch einer einvernehmlichen kollektiven Streitbeilegung sollte nach Dafürhalten der großen Mehrheit der Konsultationsteilnehmer, einschließlich der kleinen und mittleren Unternehmen, keine Vorbedingung für die Klageerhebung bei Gericht sein. Eine solche Bedingung könnte unnötige Kosten und Verzögerungen verursachen und in manchen Fällen sogar das Grundrecht auf Zugang zur Justiz42 gefährden. Die Inanspruchnahme konsensualer Streitbeilegungsmechanismen sollte deshalb freigestellt bleiben, wobei das geltende EU-Recht in diesem Bereich zu beachten ist. Dies heißt aber nicht, dass Richter in einem Kollektivverfahren die Parteien nicht auffordern könnten, sich um eine einvernehmliche kollektive Streitbeilegung zu bemühen. 43
Von besonderer Bedeutung ist in Kollektivsachen die Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Ergebnisses einer einvernehmlichen kollektiven Streitbeilegung sowie dessen Vollstreckbarkeit, da es nicht immer allen Mitgliedern der Gruppe, die einen Schaden aufgrund einer mutmaßlich rechtswidrigen Verhaltensweise geltend machen, möglich ist, sich direkt an einem solchen Verfahren zu beteiligen. Das Ergebnis einer einvernehmlichen kollektiven Streitbeilegung sollte daher von einem Gericht bestätigt werden. Entsprechend lautet auch die Empfehlung an die Mitgliedstaaten. 44
Einvernehmliche Streitbeilegungsverfahren können demnach nach Dafürhalten der Kommission eine nützliche Ergänzung darstellen. Aufbauend auf dem, was bereits in dieser Richtung mit der Mediationsrichtlinie, der Richtlinie über Formen der alternativen Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten und der Verordnung über die Online-Streitbeilegung unternommen wurde, sieht es die Kommission als sinnvoll an, den Mitgliedstaaten die Bereitstellung einvernehmlicher kollektiver Streitbeilegungsmechanismen zu empfehlen. 45
3.9. Finanzierung des kollektiven Rechtsschutzes
In einem Verfahren des kollektiven Rechtsschutzes können die Kosten 46, die normalerweise von den Parteien des Zivilstreits getragen werden, recht hoch sein, insbesondere bei einer großen Zahl von Klägern. Fehlende Mittel dürfen den Zugang zum Recht zwar nicht beschränken, 47 aber ebenso wenig dürfen die für Kollektivverfahren gegebenenfalls vorgesehenen Finanzierungsmöglichkeiten Klagemissbrauch Vorschub leisten.
3.9.1. Finanzierung durch Dritte
Eine finanzielle Unterstützung durch Dritte, die nicht Verfahrenspartei sind, ist in unterschiedlicher Form denkbar. Eine direkte Finanzierung von Kollektivklagen durch Dritte könnte ohne geeignete rechtliche Absicherung nach allgemeiner Überzeugung Klagemissbrauch Vorschub leisten. Eine Rechtsschutzversicherung wird von manchen als neutraleres Instrument angesehen, und der nachträgliche Abschluss einer solchen Versicherung - sogenannte Aftertheevent-Versicherung (ATE) - könnte für Kollektivklagen von Interesse sein.
Erfolgshonorare für juristische Dienstleistungen, die nicht nur die Vertretung, sondern auch vorbereitende Arbeiten, die Sammlung von Beweisen und die allgemeine Fallverwaltung umfassen, sind de facto als Drittfinanzierung einzustufen. Die Vielfalt der Lösungen, für die sich die Mitgliedstaaten entschieden haben, reicht von Verbot bis Erlaubnis. Manche Beteiligte sehen in der Abschaffung erfolgsabhängiger Honorare einen wichtigen Schutz vor Klagemissbrauch, während andere darin eine nützliche Art der Finanzierung von Kollektivklagen sehen.
Die Drittfinanzierung muss so ausgestaltet werden, dass sie dem Ziel, den Zugang zum Recht zu sichern, in einer angemessenen Weise förderlich ist. Die Kommission tritt in ihrer Empfehlung daher dafür ein, an die Drittfinanzierung bestimmte Bedingungen zu knüpfen. Ist die Drittfinanzierung nicht adäquat geregelt oder intransparent, besteht die Gefahr, dass es zu missbräuchlichen Klagen oder zu Klagen kommt, die dem Interesse der Streitparteien wenig förderlich sind.
3.9.2. Finanzierung aus öffentlichen Mitteln
Vor allem Verbraucherverbände und Anwälte haben sich in der öffentlichen Konsultation für die Einrichtung eines öffentlichen Fonds ausgesprochen, aus dem potenzielle Kläger in Verfahren des kollektiven Rechtsschutzes finanziell unterstützt werden könnten.
Da es sich bei einem Kollektivverfahren im Grunde um einen Zivilrechtsstreit zwischen zwei Parteien handelt, auch wenn die Klagepartei aus mehreren Personen besteht, und Abschreckung eine Nebenwirkung des Verfahrens ist, hält es die Kommission nicht für notwendig, eine direkte Unterstützung aus öffentlichen Mitteln zu empfehlen, da die geschädigte Partei von der unterlegenen Partei Schadensersatz erhält, wenn das Gericht einen entsprechenden Schaden feststellt.
3.9.3. Wer verliert, zahlt
Der Grundsatz, dass die unterlegene Partei die Kosten trägt, ist in der europäischen Rechtstradition fest verankert, wenn auch nicht in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union und nicht in derselben Weise.
In der öffentlichen Konsultation haben sich alle Teilnehmer dafür ausgesprochen, dass dieser Grundsatz im kollektiven Rechtsschutz gelten sollte. Die Kommission teilt diese Auffassung und empfiehlt dementsprechend, bei Kollektivverfahren nach diesem Grundsatz zu verfahren. 48
4. Fazit
Die öffentliche Konsultation der Kommission 2011, die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 2. Februar 2012 und die eigenen Analysen der Kommission haben bestimmte Aspekte zutage gefördert, die es bei der Ausarbeitung eines allgemeinen europäischen Rahmens für den kollektiven Rechtsschutz zu berücksichtigen gilt. Die Kommission hält nach all dem einen solchen allgemeinen Rahmen im Interesse eines funktionierenden Binnenmarkts für vorteilhaft, da auf diese Weise das Risiko unkoordinierter EU-Initiativen in einzelnen Rechtsbereichen vermieden wird und gleichzeitig eine nahtlose Schnittstelle zum nationalen Prozessrecht gewährleistet ist.
Um zum einen der komplexen Problematik und zum anderen der Notwendigkeit Rechnung zu tragen, eine einheitliche Vorgehensweise beim kollektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, nimmt die Kommission parallel zu der vorliegenden Mitteilung eine Empfehlung auf der Grundlage von Artikel 292 AEUV an, in der allgemeine gemeinsame Grundsätze für den kollektiven Rechtsschutz in der Europäischen Union empfohlen werden, denen alle Mitgliedstaaten folgen sollten. Die Mitgliedstaaten sollten die in der Kommissionsempfehlung enthaltenen Grundsätze innerhalb von zwei Jahren nach Annahme und Veröffentlichung der Empfehlung in ihre innerstaatlichen Systeme des kollektiven Rechtsschutzes integrieren. Die Kommission wird vier Jahre nach Veröffentlichung der Empfehlung auf der Grundlage der mit der Empfehlung gewonnenen praktischen Erfahrungen prüfen, ob weitere Legislativmaßnahmen zur Konsolidierung und Stärkung des in der vorliegenden Mitteilung und der Empfehlung gewählten horizontalen Ansatzes vorgeschlagen werden sollten. Die Kommission wird insbesondere die Umsetzung der Empfehlung und ihre Auswirkungen auf den Zugang zur Justiz, das Recht auf Schadensersatz, die Vermeidung missbräuchlicher Rechtsverfolgung sowie auf das Funktionieren des Binnenmarkts, die Wirtschaft der Europäischen Union und das Vertrauen der Verbraucher bewerten.
- 1. Vgl. Mitteilung der Kommission "Aktionsplan zur Umsetzung des Stockholmer Programms" (KOM (2010) 171 vom 20.4.2010). Vgl. "Das Stockholmer Programm - Ein offenes und sicheres Europa im Dienste und zum Schutz der Bürger", vom Europäischen Rat auf seiner Tagung vom 9.12.2009 angenommen (ABl. C 115 vom 4.5.2010, S. 1).
- 2. Verordnung (EG) Nr. 861/2007 zur Einführung eines europäischen Verfahrens für geringfügige Forderungen (ABl. L 199 vom 31.7.2007).
- 3. Verordnung (EG) Nr. 1896/2006 zur Einführung eines Europäischen Mahnverfahrens (ABl. L 399 vom 30.12.2006).
- 4. Richtlinie 2008/52/EG über bestimmte Aspekte der Mediation in Zivil- und Handelssachen (ABl. L 136 vom 24.5.2008).
- 5. Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss "Verbraucherpolitische Strategie der EU (2007-2013) - Stärkung der Verbraucher - Verbesserung des Verbraucherwohls - wirksamer Verbraucherschutz", KOM (2007) 99, {SEC(2007) 321}, {SEC(2007) 322}, {SEC(2007) 323}, vom 30.3.2007 und Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen "Eine Europäische Verbraucheragenda für mehr Vertrauen und mehr Wachstum", COM (2012) 225 final,
{SWD(2012) 132 final}, vom 22.5.2012. - 6. P7_TA(2013)0066 Alternative Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten, Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz PE487.749: Legislative Entschließung des Europäischen Parlaments vom 12. März 2013 zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Formen der alternativen Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 und der Richtlinie 2009/22/EG (Richtlinie über alternative Streitbeilegung) (COM (2011)0793 - C7-0454/2011 - 2011/0373(COD)).
- 7. P7_TA(2013)0065 Online-Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten, Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz PE487.752: Legislative Entschließung des Europäischen Parlaments vom 12. März 2013 zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Online-Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten (Verordnung über Online-Streitbeilegung) (COM (2011)0794 - C7-0453/2011 - 2011/0374(COD)) (Ordentliches Gesetzgebungsverfahren: erste Lesung).
- 8. Entschließung des Europäischen Parlaments vom 2. Februar 2012, "Kollektiver Rechtsschutz: Hin zu einem kohärenten europäischen Ansatz".
- 9. COM (2013) XXX.
- 10. Aus Sicht der Kommission bildet die allgemeine Empfehlung zusammen mit der wettbewerbsspezifischen Richtlinie ein "Paket", das in seiner Gesamtheit Ausdruck des von der Kommission bewusst gewählten ausgewogenen Ansatzes ist. Nach dem AEUV gelten zwar für beide Maßnahmen unterschiedliche Annahmeverfahren, doch sähe sich die Kommission im Falle substantieller Änderungen an ihrem Konzept gezwungen, ihre Vorschläge zu überdenken.
- 11. Auch eine Behörde kann in einem Zivilrechtsstreit als Klägerin oder Beklagte auftreten, wenn sie nicht in Ausübung ihrer hoheitlichen Gewalt, sondern privatrechtlich handelt.
- 12. Ausgenommen sind Schadensersatzklagen, die erst erhoben werden können, nachdem eine zuständige Behörde - z.B. das Kartellamt - eine Rechtsverletzung festgestellt hat.
- 13. Solange das Gericht nicht entschieden hat, dass der Schaden durch eine bestimmte Rechtsverletzung verursacht worden ist, ist es nicht angebracht, im Rahmen eines Verfahrens des kollektiven Rechtsschutzes von "Opfern", "Geschädigten" oder "Rechtsverletzung" zu sprechen.
- 14. Forschungsarbeiten in Deutschland zufolge waren rund 60 % der von Verbraucherschutzbehörden oder -verbänden in einem bestimmten Zeitraum erhobenen (Unterlassungs-)Klagen erfolgreich. Die hohe Erfolgsquote ist darauf zurückzuführen, dass die Kläger die Fälle sorgfältig ausgewählt hatten. Immerhin hatte das Gericht in 40 % der Fälle keine Rechtsverletzung bzw. kein unrechtmäßiges Verhalten festgestellt. Vgl. Meller-Hannich, Effektivität kollektiver Rechtschutzinstrumente, 2010.
- 15. Richtlinie 2009/22/EG (ABl. L 110 vom 1.5.2009, S. 30).
- 16. Die Mitgliedstaaten sind dieser Verpflichtung nachgekommen, indem sie nichtstaatlichen Organisationen die Möglichkeit eingeräumt haben, gegen Verwaltungsentscheidungen in Umweltbelangen gerichtlich vorzugehen.
- 17. Vgl. u.a. die im Auftrag der Kommission erstellte Studie von 2008 "Evaluation of the effectiveness and efficiency of collective redress mechanisms in the European Union"; abrufbar unter: http://ec.europa.eu/consumers/redress_cons/collective_redress_en.htm#Studies .
- 18. KOM (2005) 672 vom 19.12.2005.
- 19. KOM (2008) 165 vom 2.4.2008.
- 20. KOM (2008) 794 vom 27.11.2008.
- 21. In ihrem Vorschlag für eine Verordnung zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (Datenschutz-Grundverordnung) hat die Kommission eine Form des kollektiven Rechtsschutzes durch Vertreterorganisationen vorgeschlagen. Danach sollen Einrichtungen, Organisationen oder Verbände, die sich den Schutz der Rechte und Interessen der betroffenen Personen in Bezug auf den Schutz ihrer personenbezogenen Daten zum Ziel gesetzt haben, berechtigt sein, wegen einer Verletzung des Datenschutzes Beschwerden oder gerichtliche Rechtsbehelfe im Namen einer oder mehrerer betroffenen Personen einzulegen (vgl. KOM (2012) 11 vom 25.1.2012, Artikel 73 Absatz 2 und Artikel 76). In diesen Fällen wird die Klage im Namen der betroffenen Person erhoben. Diese Klage geht nicht über die individuelle Klagebefugnis der betroffenen Person hinaus.
- 22. KOM (2010) 135 vom 31.3.2010.
- 23. In nahezu allen Fällen handelte es sich um Einheitsantworten französischer und deutscher Bürger.
- 24. An der Konsultation nahmen 15 Mitgliedstaaten teil: AT, BG, CZ, DE , DK, EL, FR, HU, IT, LV, NL, PL, PT, SE und UK.
- 25. Bei einer Eurobarometer-Umfrage von 2011 gaben 79 % der in den 27 EU-Mitgliedstaaten Befragten an, dass sie eher bereit wären, ihre Rechte zu verteidigen, wenn sie sich mit anderen Verbrauchern zusammenschließen könnten. Flash Eurobarometer "Consumer attitudes towards crossborder trade and consumer protection", März 2011.
- 26. Die Mehrzahl der Befragten, insbesondere Unternehmen, war dieser Meinung.
- 27. Entschließung des Europäischen Parlaments vom 2. Februar 2012 mit dem Titel "Kollektiver Rechtsschutz: Hin zu einem kohärenten europäischen Ansatz" (2011/2089(INI)).
- 28. Nummer 1 der Entschließung.
- 29. Nummer 5 der Entschließung.
- 30. Nummer 4 der Entschließung.
- 31. Nummer 7 der Entschließung.
- 32. Nummer 8 der Entschließung.
- 33. Nummer 15 der Entschließung.
- 34. Nummer 16 der Entschließung.
- 35. Ein Beispiel hierfür ist im Vereinigten Königreich die als Verbandsfolgeklage ausgestaltete Schadensersatzklage bei von einer zuständigen Behörde festgestellten Verstößen gegen das Wettbewerbsrecht ("followon representative action").
- 36. Vgl. Randnummern 6-9 der Kommissionsempfehlung.
- 37. Das "Optout"-Prinzip hat zwei Vorteile, die erklären, warum sich einige Mitgliedstaaten dafür entschieden haben: Es erleichtert erstens den Zugang zur Justiz in Fällen, in denen der individuelle Schaden so gering ist, dass sich manche Klageberechtigte dem Verfahren nicht anschließen würden. Zweitens gibt es den Beklagten eine größere Rechtssicherheit, da das Urteil nur für diejenigen nicht verbindlich ist, die ausdrücklich mitgeteilt haben, dass sie sich nicht an dem Verfahren beteiligen.
- 38. So verweist die britische Verbraucherorganisation Which? auf ihre Erfahrung mit dem Fall Replica-Fußballtrikots. Es handelte sich um eine kollektive Schadensersatzfolgeklage (followon damages action) im Wettbewerbsbereich, bei der der erwirkte Schadensersatz letztlich nur einem Bruchteil der im Sinne der Entscheidung der Wettbewerbsbehörde Geschädigten zugute kam.
- 39. In Bezug auf das Wettbewerbsrecht wird von vielen Konsultationsteilnehmern nachdrücklich auf die Notwendigkeit hingewiesen, die Wirksamkeit der von der Kommission und den nationalen Wettbewerbsbehörden praktizierten Kronzeugenregelungen bei der Anwendung des EU-Kartellrechts zu wahren. Häufig erwähnt werden in diesem Zusammenhang auch die Bindungswirkung von Entscheidungen der Wettbewerbsbehörden zur Feststellung eines Wettbewerbsverstoßes bei Folgeklagen auf Schadensersatz und die Festsetzung besonderer Verjährungsfristen für solche Folgeklagen.
- 40. In der Fassung der Verordnung (EG) Nr. 1215/2012, die ab dem 10. Januar 2015 gilt (ABl. L 351 vom 20.12.2012).
- 41. Verordnung (EG) Nr. 593/2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I) (ABl. L 177 vom 4.7.2008) und Verordnung (EG) Nr. 864/2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom II) (ABl. L 199 vom 31.7.2007).
- 42. Artikel 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.
- 43. Bei Mediation in grenzübergreifenden Streitsachen ist dies bereits der Fall. Nach Artikel 5 der Richtlinie 2008/52/EG über bestimmte Aspekte der Mediation in Zivil- und Handelssachen kann ein Gericht, das mit einer Klage befasst ist, die Parteien auffordern, die Mediation zur Streitbeilegung in Anspruch zu nehmen.
- 44. Vgl. Randnummer 30 der Kommissionsempfehlung. In Zivil- und Handelssachen mit grenzübergreifendem Bezug müssen die Parteien gemäß der Richtlinie 2008/52/EG veranlassen können, dass der Inhalt einer Mediationsvereinbarung von einem Gericht vollstreckbar gemacht wird, es sei denn, der Inhalt der Vereinbarung steht dem Recht des Mitgliedstaats entgegen, in dem der Antrag gestellt wurde, oder das Recht dieses Mitgliedstaats sieht die Vollstreckbarkeit des Inhalts nicht vor.
- 45. Vgl. Randnummern 27-30 der Kommissionsempfehlung. Die Richtlinie über die alternative Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten hindert die Mitgliedstaaten nicht daran, alternative Streitbeilegungsverfahren beizubehalten oder einzuführen, die identische oder ähnliche Streitigkeiten zwischen einem Unternehmer und mehreren Verbrauchern zum Gegenstand haben. Es besteht somit die Möglichkeit, kollektive Streitbeilegungsverfahren zu entwickeln.
- 46. Zu diesen Kosten zählen die Gerichtsgebühren, die Anwaltshonorare, die Kosten für die Teilnahme an der Verhandlung, die Kosten für die Fallbearbeitung allgemein und Gutachterhonorare.
- 47. Die Prozesskostenhilferegelungen der Mitgliedstaaten sollten in einer Weise genutzt werden, dass Klagemissbrauch verhindert wird.
- 48. Vgl. Randnummer 15 der Kommissionsempfehlung.