Der Bundesrat hat in seiner 873. Sitzung am 9. Juli 2010 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
Zur Vorlage allgemein
- 1. Der Bundesrat begrüßt den Verordnungsvorschlag sowie die Tatsache, dass sich die Bundesrepublik Deutschland an der Verstärkten Zusammenarbeit beteiligt. Es sollte angestrebt werden, dass über den Kreis der derzeit teilnehmenden Mitgliedstaaten hinaus möglichst viele weitere Mitgliedstaaten an der Verstärkten Zusammenarbeit teilnehmen.
- 2. Die vorgeschlagene Verstärkte Zusammenarbeit kann zu deutlichen Vereinfachungen und Erleichterungen bei Scheidungen mit internationalem Bezug und zu mehr Rechtssicherheit für die Parteien führen. Mehrere Anregungen und Bedenken, die der Bundesrat in seiner Stellungnahme zu dem diesem Vorschlag zu Grunde liegenden Entwurf einer Rom-III-Verordnung geäußert hatte - BR-Drucksache 531/06(B) vom 3. November 2006 -, haben zumindest dem Grunde nach Berücksichtigung gefunden.
- 3. Der Verordnungsvorschlag begegnet keinen Bedenken hinsichtlich der Einhaltung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit. Um die Rechtsanwendung zu vereinfachen und zur Vermeidung einer Rechtszersplitterung ist bei künftigen EU-Rechtsakten auf eine kohärente Ausgestaltung im Hinblick auf die hier vorgeschlagenen Kollisionsnormen zu achten. Die Kollisionsnormen insbesondere im Bereich des Unterhalts- und Güterrechts sollten den für die Scheidung geltenden Normen möglichst weitgehend entsprechen. Dies gilt insbesondere hinsichtlich des in der Mitteilung der Kommission vom 20. April 2010 (BR-Drucksache 246/10 (PDF) ) zu einem Aktionsplan zur Umsetzung des Stockholmer Programms angekündigten Vorschlags für eine Verordnung über Kollisionsnormen auf dem Gebiet des Ehegüterrechts.
- 4. Der Bundesrat hält es im Übrigen weiterhin für geboten, künftig so weit wie möglich einen "Gleichlauf" im Hinblick auf die Anknüpfungspunkte für die gerichtliche Zuständigkeit und das anwendbare Recht herzustellen. Ein derartiger "Gleichlauf" kann zu einer höheren Qualität der Rechtsprechung führen, da so gesichert würde, dass die Gerichte in der Regel zur Anwendung der "lex fori" gelangen und damit das ihnen bekannte inländische materielle Recht anwenden können.
- 5. Schließlich sollten die möglichen mittelbaren Auswirkungen des Verordnungsvorschlags zumindest im Hinblick auf das Unterhaltsrecht, gegebenenfalls auch mit Blick auf das Recht des Versorgungsausgleichs und das Güterrecht, bedacht werden und gegebenenfalls Berücksichtigung finden. Allgemein sollte eine Übervorteilung der wirtschaftlich schwächeren Partei wirksam verhindert werden.
Zu den einzelnen Vorschriften
- 6. Der in Artikel 1 Absatz 1 definierte Anwendungsbereich des Verordnungsvorschlags sollte auf die Ungültigerklärung einer Ehe ausgeweitet werden, da auch die Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. L 338 vom 23. Dezember 2003, Seite 1) Regelungen zur Zuständigkeit für diesen Bereich enthält. Zutreffend ist zwar, dass im Rahmen der Ungültigerklärung einer Ehe den Ehegatten keine Dispositionsbefugnis und damit keine Rechtswahl eingeräumt werden kann, weil insoweit zumeist auch öffentliche Belange tangiert sind. Gleichwohl sollte in Artikel 4 des Verordnungsvorschlags einheitlich geregelt werden, welches Recht zwingend für die Ungültigerklärung einer Ehe gilt.
- 7. An geeigneter Stelle sollte klargestellt werden, dass die vorgeschlagene Verordnung auch auf Angehörige von nicht teilnehmenden Mitgliedstaaten - durch die anderen Mitgliedstaaten - anwendbar ist.
- 8. Der Bundesrat weist darauf hin, dass die vorgeschlagene Verordnung nicht für "Scheidungsfolgesachen" gilt.
- 9. Der in Artikel 1 Absatz 1 geforderte Auslandsbezug sollte präzisiert werden, da hier eine Vielzahl möglicher Konstellationen in Betracht kommt. Es ist fraglich, an welche konkreten Tatbestände der erforderliche Auslandsbezug anknüpft. Jedenfalls sollte ein missbräuchlich geschaffener Auslandsbezug ausgeschlossen werden.
- 10. Bei der Regelung zur universellen Anwendung in Artikel 2 des Verordnungsvorschlags sollte deutlicher herausgestellt werden, dass auch das Recht eines Drittstaates, der nicht zur EU gehört, Anwendung finden kann. Die gewählte Formulierung lässt nämlich eine einschränkende Auslegung dahin gehend zu, dass das nach Artikel 3 oder 4 berufene Recht zumindest dasjenige eines Mitgliedstaats der EU sein muss.
- 11. Hinsichtlich der vorgeschlagenen Regelung zur Rechtswahl in Artikel 3 ist die Bedeutung der Einschränkung in Absatz 1 unklar, wonach die Rechtswahl von der Vereinbarkeit mit den in den EU-Verträgen und den in der Charta der Grundrechte der EU verankerten Grundrechten und dem Ordrepublic-Vorbehalt abhängig gemacht wird. Dies gilt insbesondere im Verhältnis zu der Regelung des Artikels 7 des Verordnungsvorschlags. Eine abstrakte Überprüfung der gewählten Rechtsordnung anhand der Grundrechte erscheint hier kaum praktikabel zumal die Rechtswahl nach Artikel 3 Absatz 3, vorbehaltlich strengerer nationaler Formvorschriften, grundsätzlich nur der Schriftform bedarf und daher nicht zwingend eine Rechtsberatung und -belehrung erfordert. Ob und inwieweit die Rechtswahl einen Verstoß gegen die dort aufgeführten Bestimmungen enthält, können die Ehegatten daher regelmäßig nicht absehen. Das konkrete Ergebnis der Rechtsanwendung würde zudem hinsichtlich des Ordre public ohnehin über Artikel 7 des Verordnungsvorschlags überprüft werden. Unklar ist zudem, welcher Ordre public in Artikel 3 gemeint ist. Es sollte jedenfalls klargestellt werden, ob etwa der Ordre public im Sinne von Artikel 7, also ein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung des Staates des angerufenen Gerichts, gemeint ist, oder ob hier gar ein europäischer Ordrepublic-Vorbehalt geschaffen werden soll.
- 12. Soweit nach Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe c eine Rechtswahl in Bezug auf das Recht des Staates zugelassen wird, dessen Staatsangehörigkeit einer der Ehegatten besitzt, sollte klargestellt werden, welche Staatsangehörigkeit bei Doppel- oder Mehrstaatlern maßgeblich sein soll. Dies gilt vor allem vor dem Hintergrund, dass die meisten EU-Mitgliedstaaten eine dem Artikel 5 Absatz 1 Satz 2 EGBGB entsprechende Regelung in ihrem Kollisionsrecht aufgenommen haben und bei Doppel- und Mehrstaatlern, bei denen eine der Staatsangehörigkeiten die eigene ist, an diese Staatsangehörigkeit anknüpfen.
- 13. Entsprechendes gilt, soweit sich das anwendbare Recht nach Artikel 4 Buchstabe c des Verordnungsvorschlags nach dem Recht des Staates bestimmen soll, dessen Staatsangehörigkeit beide Ehegatten zum Zeitpunkt der Anrufung des Gerichts besitzen. Hier sollte insbesondere klargestellt werden, ob auch an eine gemeinsame nicht effektive Staatsangehörigkeit angeknüpft werden kann.
- 14. Hinsichtlich der Festlegung des Zeitpunkts in Artikel 3 Absatz 2 des Verordnungsvorschlags, bis zu dem eine Rechtswahlvereinbarung spätestens geschlossen oder geändert werden kann, bedarf der Begriff der "Anrufung" des Gerichts einer näheren Definition. Darüber hinaus sollte auch eine spätere Rechtswahlvereinbarung ermöglicht werden. Um in Fällen, in denen sich das anwendbare Recht nicht oder nur unter erschwerten Umständen feststellen lässt, auf Grund eines vorbereitenden gerichtlichen Hinweises noch eine Rechtswahl durch die Parteien zu ermöglichen, sollte die Rechtswahl etwa noch bis zum Beginn der mündlichen Verhandlung vor dem angerufenen Gericht zugelassen werden. Artikel 3 Absatz 4 lässt zwar auch eine spätere Rechtswahl zu, aber nur unter bestimmten Voraussetzungen, die nicht immer gegeben sein werden.
- 15. Soweit hinsichtlich der Rechtswahlmöglichkeiten in Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe d und hinsichtlich des objektiv anwendbaren Rechts nach Artikel 4 Buchstabe d des Verordnungsvorschlags an das Recht des Staates des angerufenen Gerichts angeknüpft wird, dürfte das Ziel, den "Wettlauf zu den Gerichten" zu verhindern, nur eingeschränkt erreicht werden, da der Verordnungsvorschlag die zahlreichen Gerichtsstände in Artikel 3 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 unberührt lässt.
- 16. Der Bundesrat begrüßt, dass gemäß Artikel 4 für das in Ermangelung einer Rechtswahl anzuwendende Recht zunächst an den (letzten) gewöhnlichen Aufenthalt und nicht in erster Linie an die Staatsangehörigkeit angeknüpft wird. Diese Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt entspricht der internationalrechtlichen Handhabung auch auf anderen Gebieten des Familienrechts sowie der justiziellen Zusammenarbeit in Europa. Fallen im Einzelfall idealerweise das Recht des gewöhnlichen Aufenthalts sowie dasjenige der lex fori zusammen, so ist zugleich gewährleistet, dass das angerufene Gericht das ihm bekannte Recht anwendet.
- 17. Gleichwohl sollte der gewöhnliche Aufenthalt in der Verordnung konkreter definiert und präzisiert werden, um aufwändige Ermittlungen zu vermeiden und um einem Missbrauch zu begegnen. Dies entspricht auch der Stellungnahme des Bundesrates zu dem Vorschlag für eine Verordnung über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und die Vollstreckung von Entscheidungen und öffentlichen Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses - BR-Drucksache 780/09(B) , Ziffer 12.
- 18. Der Bundesrat hält es für problematisch, dass der Verordnungsvorschlag - mit Ausnahme der möglichen Rechtswahl während des Scheidungsverfahrens - keine Regelung über den möglichen Wechsel des Scheidungsstatuts während des laufenden Verfahrens oder nach einer gerichtlich ausgesprochenen Trennung ohne Lösung des Ehebandes enthält. Insofern sollte eine Bestimmung aufgenommen werden, wonach das anwendbare Recht durch Tatsachen, die nach Anhängigkeit eines auf Scheidung oder Trennung ohne Lösung des Ehebandes gerichteten Verfahrens eintreten, keine Änderung erfährt.
- 19. Der Ordrepublic-Vorbehalt in Artikel 7 dürfte im Verhältnis zu Drittstaaten angemessen sein. Es erscheint aber zweifelhaft, ob ein solcher Vorbehalt auch gegenüber anderen Mitgliedstaaten gerechtfertigt ist, die durch gemeinsame Verfassungsüberlieferungen und nunmehr durch die Charta der Grundrechte der EU dieselben Werte teilen. Es erscheint in diesem Zusammenhang erwägenswert, einen genuin europäischen Ordrepublic-Vorbehalt vorzusehen.