Der Bundesrat hat in seiner 831. Sitzung am 9. März 2007 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat teilt die Auffassung der Kommission, dass das europäische Wirtschafts- und Sozialmodell als Bestandteil der Lissabon-Strategie weiterentwickelt werden muss.
- 2. Der Bundesrat begrüßt grundsätzlich das mit dem Grünbuch Arbeitsrecht eingeleitete Vorhaben der Kommission, die auf die Gegebenheiten der Arbeitswelt einwirkenden zentralen Herausforderungen zu ermitteln und mit Hilfe einer öffentlichen Debatte Mittel und Wege zu finden, wie den gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen begegnet werden kann. Ferner begrüßt der Bundesrat die Verbindung zur Flexicurity-Debatte. Der Bundesrat hält Flexicurity für ein zentrales Thema in Europa und begrüßt, dass die Kommission und der Europäische Rat diesem Thema im Rahmen der Lissabon-Strategie einen maßgeblichen Stellenwert zuweisen. Dabei wird es für die Bürgerinnen und Bürger von entscheidender Bedeutung sein, dass es gelingt, die notwendige Flexibilität mit sozialem Schutz und sozialer Sicherheit zu verbinden.
- 3. Die Bundesregierung wird zu dem Vorhaben gegenüber der Kommission eine Stellungnahme abgeben. Dieser Stellungnahme ist besondere Bedeutung beizumessen, weil der Bundesrepublik im ersten Halbjahr 2007 die Wahrnehmung der Verantwortung der Präsidentschaft des Rats der EU obliegt. Der Bundesrat begrüßt, dass die Bundesregierung insoweit die Länder um Abgabe von Stellungnahmen gebeten hat. Eine Beteiligung der Länder dokumentiert den breiten Konsens aller staatlich Verantwortlichen in diesem Bereich und verstärkt das Gewicht der deutschen Stellungnahme.
- 4. Der Bundesrat vertritt die Auffassung, dass bei der Stellungnahme der Bundesregierung auf die Prinzipien der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit Bezug genommen werden muss. Zudem sollte darauf hingewiesen werden, dass es passgenauer Lösungen auf der Ebene der Mitgliedstaaten bedarf, da Arbeitsmärkte regional sehr verschieden sind. Nach Auffassung des Bundesrats sind die im Grünbuch angesprochenen Sachbereiche unter Berücksichtigung der vorgenannten Prinzipien unterschiedlich zu bewerten.
- 5. Die Tätigkeit der Kommission darf sich nur innerhalb der Grenzen und der ihr in den Verträgen gesetzten Ziele und zugewiesenen Befugnisse erstrecken. Artikel 127 und 137 EGV sehen im Bereich der Beschäftigungs- und Sozialpolitik eine eindeutige Aufgabenverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten dahingehend vor, dass das Betätigungsfeld der Gemeinschaft inhaltlich auf die Ergänzung und Unterstützung der mitgliedstaatlichen Politiken beschränkt ist.
- 6. Der Bundesrat kritisiert die dem Grünbuch deutlich zu entnehmende Absicht, die mitgliedstaatliche Kompetenz in den Fragen des Arbeitsrechts mittels von der Kommission formulierter Fragen in einer von der Kommission initiierten öffentlichen Debatte zu relativieren, indem die Möglichkeit einer Gemeinschaftskompetenz diskutiert wird. Der Bundesrat lehnt daher die im Grünbuch enthaltene Formulierung nach "arbeitsrechtlichen Bestimmungen der EU" ab.
- 7. Der Bundesrat betont, dass es im Arbeitsrecht nicht nur um "sehr unterschiedliche Traditionen", sondern um Grundfragen von Gesellschaft und Wirtschaft geht, die in den Mitgliedstaaten jeweils unterschiedlich gesehen, bewertet und entschieden werden. Der Bundesrat lehnt daher die im Grünbuch deutlich zu vermerkende Tendenz zu einer Harmonisierung in diesem Bereich ab.
- 8. Der Bundesrat bestätigt die im Grünbuch enthaltene Formulierung, wonach der Schutz der Arbeitsbedingungen und die Verbesserung der Arbeitsqualität vor allem von nationalen Rechtsvorschriften und nationaler Umsetzung abhängen.
Ein Tätigwerden der europäischen Ebene sollte sich auf die Unterstützung beschränken. Darüber hinausgehende Aktivitäten der EU erachtet der Bundesrat für nicht erforderlich.
- 9. Das Arbeitsvertragsrecht ist der europäischen Regelungskompetenz weitgehend entzogen. Das Gemeinschaftsrecht sollte auf eine etwaige Ergänzung der schon jetzt geltenden Grundsätze und Mindeststandards beschränkt werden. Gleichwohl sollten die mit Flexicurity europaweit gewonnenen Erfahrungen den Mitgliedstaaten gegliedert nach Rahmenbedingungen und Schlussfolgerungen für ihre eigenen Abwägungen zur Optimierung zur Verfügung gestellt werden. Im Arbeitsvertragsrecht ist deshalb - auch unter dem Gesichtspunkt des Prinzips der Vertragsfreiheit - ein umfassendes konkretes Regelungswerk abzulehnen, der Erfahrungsaustausch jedoch zu begrüßen.
- 10. Der Bundesrat betont, dass das deutsche Arbeitsrecht insbesondere geprägt ist durch die Autonomie der Sozialpartner und die Besonderheiten des Tarifvertragsrechts. Dies findet auch in den Artikeln 138 und 139 EGV Anerkennung und ist als Teil des sog. "Europäischen Sozialmodells" akzeptiert. Regelungen, die Spielräume der Sozialpartner unangemessen einschränken, steht der Bundesrat ablehnend gegenüber.
- 11. Der Bundesrat misst unter Berücksichtigung des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Flexibilität der europarechtlichen Vorgaben zur Arbeitszeit eine besondere Bedeutung bei der Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft sowie bei der Verbesserung der Beschäftigungslage in Europa bei. Die Mitgliedstaaten benötigen einen Gestaltungsspielraum für Beschäftigungszweige, deren Arbeitszeitorganisation durch Bereitschaftsdienste geprägt ist bzw. die speziellen tätigkeitsspezifischen Anforderungen an die Arbeitszeit unterliegen.
- 12. Im Arbeitsschutzrecht ist die Harmonisierung des Vorschriftenwerks bereits weit fortgeschritten. Änderungsbestrebungen unter dem Gesichtspunkt der Deregulierung und Entbürokratisierung sollten in Zusammenarbeit mit anderen Mitgliedstaaten auf der Grundlage einer systematischen Evaluation von Arbeitsschutzvorschriften erwogen werden. Die Änderungsbestrebungen sollten in diesem Bereich insbesondere die Anpassung der Richtlinien an den technischen Fortschritt berücksichtigen.
- 13. Nachdrücklich weist der Bundesrat die im Grünbuch enthaltene Annahme zurück, durch ständige Bezugnahme auf nationales Recht statt auf Gemeinschaftsrecht könne der Arbeitnehmerschutz beeinträchtigt werden. Gleichfalls weist er die Behauptung zurück, dass die Unterschiede bei den nationalen Definitionen von "Beschäftigten" nur schwer mit dem sozialpolitischen Ziel der Gemeinschaft, für die Beschäftigten ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Flexibilität und Sicherheit zu erreichen, vereinbar seien.
- 14. Im Hinblick auf die durch die Erweiterung der EU und auch als Folge der Dienstleistungsrichtlinie zu erwartende weitere Zunahme des grenzüberschreitenden Einsatzes von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie die Zunahme grenzüberschreitender Arbeitnehmerüberlassungsverhältnisse und die diesbezügliche Diskussion auf europäischer Ebene muss sichergestellt werden, dass es im nationalen Arbeitsmarkt nicht zu inakzeptablen Friktionen kommt. Dabei sollte die Kommission insbesondere aufgefordert werden, die Leitlinien für die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen zu überdenken.
- 15. Im Übrigen sieht der Bundesrat folgende Prämissen des Grünbuches kritisch:
- - Flexible Beschäftigungsformen wie Zeitarbeit und befristete Beschäftigung werden im Grünbuch in einen fast ausschließlich negativen Zusammenhang gebracht.
- - Es wird nicht darauf hingewiesen, dass diese Beschäftigungsformen Millionen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Europa entgegenkommen.
Der Bundesrat nimmt die Auffassung der Kommission zur Kenntnis, dass durch immer vielfältigere Arbeitsvertragsformen eine unterschiedliche rechtliche Absicherung entstehe und dadurch die Kluft zwischen unbefristet Vollzeitbeschäftigten und Beschäftigten in atypischen "prekären" Arbeitsverhältnissen wachse. Der Bundesrat unterstreicht, dass reguläre Arbeitsverhältnisse unverzichtbar sind, weil sie Sicherheit geben, die Grundlage der Systeme der sozialen Sicherung bilden und nachhaltig die Wettbewerbsfähigkeit stärken. Er betont jedoch, dass neue Beschäftigungsformen insbesondere den Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt und die Verbindung von Berufstätigkeit mit familiären Verpflichtungen erleichtern können
- - Weibliche Beschäftigte finden sich in den neuen Beschäftigungsformen, insbesondere in der Teilzeitarbeit überproportional häufig. In der praktischen Konsequenz daraus sind sie hinsichtlich des Zugangs zu vollen Arbeitnehmer- und Sozialschutzrechten oft benachteiligt. In der Debatte über die Herausforderungen eines neuen Arbeitsrechts ist deshalb einzubeziehen, welche Rolle Gesetze und/oder von den Sozialpartnern ausgehandelte Tarifverträge bei dem genannten Problem spielen und wie eine Weiterentwicklung des Arbeitsrechts auch zu einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie für beide Geschlechter und damit zu einer Verringerung der geschlechtsbezogenen Segmentierung des Arbeitsmarktes beitragen kann.
- - Der Bundesrat weist darauf hin, dass die im Grünbuch formulierten Fragen das Thema der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben nicht ausreichend konkretisieren.
Die Kommission fordert im Fahrplan für die Gleichstellung von Frauen und Männern (2006 bis 2010), KOM (2006) 92 endg., Ratsdok 7034/06 (vgl. BR-Drucksache 187/06 (PDF) ) zur besseren Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben flexible Arbeitsregelungen sowohl für Frauen als auch für Männer.
Der Bundesrat erachtet es als notwendig, dass ein modernes Arbeitsrecht, das größere Flexibilität mit größtmöglicher Sicherheit verbindet, Frauen wie Männern gleiche Entwicklungschancen bietet und die Vereinbarkeit von Erwerbs- und Familienleben fördert.
- - Schließlich wird der Eindruck erweckt, dass nach dem Flexicurity-Konzept Arbeitsplatzsicherheit vor allem durch zusätzliche Regulierung gewonnen werden kann. Nach Auffassung des Bundesrates sollte mehr Beschäftigungssicherheit aber wie z.B. in Dänemark durch flexible, beschäftigungsfreundliche Rahmenbedingungen im Arbeitsrecht und einen ausreichenden Schutz bei Arbeitslosigkeit sowie aktive Unterstützung bei der Reintegration in den ersten Arbeitsmarkt (u. a. durch Qualifizierung) angestrebt werden.
- 16. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, den Ländern im weiteren Verfahren Gelegenheit zur vorherigen Stellungnahme im Hinblick auf die Meinungsäußerung der Bundesregierung gegenüber der Kommission zu geben.
- 17. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme der Kommission.