Der Bundesrat hat in seiner 8 8 1. Sitzung am 18. März 2011 gemäß § § 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt das Ziel der Kommission, mit der Europäischen Plattform gegen Armut und soziale Ausgrenzung einen Beitrag zur Umsetzung der Europa-2020-Strategie zu leisten. Er verweist auf seine Stellungnahmen vom 4. Juni 2010 (BR-Drucksache 113/10(B) (3) und BR-Drucksache 267/10(B) ) und erkennt an, dass die Initiativen zur Armutsbekämpfung auf EU-Ebene die soziale Dimension Europas verdeutlichen. Der Bundesrat unterstützt das Bestreben der Kommission, allen Einwohnern der EU lebenslang Zugangsmöglichkeiten zum gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben zu bieten.
- 2. Der Bundesrat begrüßt grundsätzlich die Verzahnung von Sozialpolitik mit anderen Politikbereichen. Allerdings sieht er das Vorgehen, weite Teile der Sozialpolitik als Maßnahmen der Armutsbekämpfung zu definieren und in der Armutsplattform zusammenzufassen, als problematisch an. Er gibt zu bedenken, dass Kohärenz umso schwerer zu wahren ist, je breiter der Ansatz ist. Nach Ansicht des Bundesrates ist zudem ein Mehrwert der Plattform gegenüber den bisherigen (Einzel-)Initiativen zumindest momentan nicht erkennbar.
- 3. Der Bundesrat weist nachdrücklich darauf hin, dass bei der Arbeit der Plattform die Zuständigkeitsverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten sowie innerhalb der Mitgliedstaaten zwingend zu beachten und den Grundsätzen der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit Rechnung zu tragen ist. Diesbezüglich muss insbesondere die von der Kommission als starkes Lenkungsinstrument für Strukturreformen angestrebte evidenzbasierte soziale Innovation, vor allem durch "soziale Erprobung", sorgfältig geprüft werden. Die hierbei angekündigte anfängliche Konzentration auf den Sozialhilfebereich (social assistance schemes) ist aufgrund der alleinigen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für diesen Bereich äußerst problematisch.
- 4. Der Bundesrat betont, dass die Schaffung von Arbeitsplätzen der beste Weg zur Armutsbekämpfung ist. Allerdings führt ein Arbeitsplatz allein nicht in jedem Fall zu sozialer Eingliederung, entscheidend sind vielmehr auch Vergütung und Qualität. Der Bundesrat unterstreicht, dass insbesondere auch für die Erhöhung und bessere Nutzung des Arbeitskräftepotentials von älteren Menschen, Frauen, Alleinerziehenden, Personen mit Migrationshintergrund und Menschen mit Behinderung Sorge getragen werden muss, auch um den Betroffenen berufliche Perspektiven zu gewährleisten.
- 5. Der Bundesrat stellt nachdrücklich klar, dass die Offene Methode der Koordinierung durch die Arbeit im Rahmen der Plattform nicht ausgehöhlt werden darf und dass die Plattform nicht dazu genutzt werden darf, ein weiteres Koordinierungsinstrument der EU und der Mitgliedstaaten neben der Offenen Methode der Koordinierung zu schaffen. Insbesondere sind neue doppelte und bürokratielastige Strukturen durch die vorgeschlagene "Soziale Erprobung" zu vermeiden. Der Bundesrat sieht in diesem Zusammenhang auch die Schaffung eines jährlichen Konvents kritisch. Sollte dessen Rolle über eine reine feststellende Tätigkeit und das Vorlegen unverbindlicher Vorschläge hinausgehen, entsteht eine Konkurrenz zu bereits bestehenden Strukturen.
- 6. Der Bundesrat weist darauf hin, dass sich in der Mitteilung der Kommission keine Aussage dazu findet, wie die Offene Methode der Koordinierung erhalten werden soll. Er ist der Auffassung, dass die Offene Methode der Koordinierung mit ihren drei Strängen als bewährtes Instrument des Voneinander-Lernens fortbestehen muss. Andererseits darf die Einordnung weiter Teile der Sozialpolitik als Maßnahmen der Armutsbekämpfung nicht dazu führen, dass die Koordinierungsdichte im Bereich der Armutsbekämpfung auf die beiden anderen Säulen der Offenen Methode der Koordinierung und sonstige Politikbereiche übertragen wird.
- 7. Der Bundesrat stellt fest, dass die Mitteilung kaum Aussagen zur vorgesehenen Arbeitsweise der Plattform enthält. Er fordert die Kommission deshalb auf, die diesbezüglichen Pläne näher zu erläutern. Der Bundesrat erachtet es als zwingend, dass die Regionen und die örtliche Ebene in einem ausreichenden Umfang in die Armutsplattform einbezogen werden. Bisher ist eine Einbindung der Regionen nur im Rahmen des Ausschusses der Regionen, über europäische Netzwerke oder im Rahmen von Projekten des PROGRESS-Programms vorgesehen.
- 8. Der Bundesrat fordert, dass der Vorrang einer integrierten Beschäftigungspolitik als Kernelement einer erfolgreichen Armutsbekämpfung im Rahmen des ESF unbedingt erhalten bleiben muss. Er weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass bereits in der laufenden ESF-Förderperiode ein Großteil der Mittel der Verbesserung des Zugangs zu Beschäftigung bzw. der Verbesserung der sozialen Eingliederung dient und damit letztlich die Armutsbekämpfung unterstützt. Ein umfangreiches so genanntes Earmarking von Mitteln des ESF für Maßnahmen der sozialen Eingliederung und Armutsbekämpfung lehnt der Bundesrat ab. Die bewährte und erfolgreiche Ausrichtung des ESF sollte auch in der neuen Förderperiode weitgehend beibehalten werden. Es gilt, den ESF als Instrument der Beschäftigungspolitik zu bewahren, das durch seine Ausrichtung gleichzeitig auch einen wesentlichen Beitrag zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung leistet.
- 9. Der Bundesrat weist darauf hin, dass soziale Tätigkeiten zur Armutsbekämpfung und sozialen Eingliederung in vielen Fällen auch durch familiäres und ehrenamtliches Engagement erfolgen. Er erachtet es als wichtig, dass die diesbezüglich bestehenden Strukturen bewahrt und unterstützt werden und der Wert der Freiwilligentätigkeit gewürdigt wird.
- 10. Der Bundesrat erwartet, dass die Plattform die während ihrer Arbeit gewonnenen Erkenntnisse veröffentlicht und so in den Amtssprachen aufbereitet, dass sie von politischen Entscheidungsträgern auf allen Ebenen und Leistungserbringern nutzbringend angepasst und umgesetzt werden können. Ergebnisse aus Projekten sollten über das Internet zugänglich gemacht werden. Das gilt insbesondere für die Entwicklung eines evidenzbasierten Ansatzes für soziale Innovationen und Reformen.
- 11. Der Bundesrat ist der Ansicht, dass Rechtsfolgenabschätzungen und Sozialverträglichkeitsprüfungen auch darauf erstreckt werden sollten, dass die in den Bereichen der Armutsbekämpfung und sozialen Eingliederung Tätigen nicht mit zusätzlichem Verwaltungsaufwand durch auf europäischer Ebene veranlasste Initiativen und Maßnahmen belastet werden.
- 12. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.