Punkt 41 der 881. Sitzung des Bundesrates am 18. März 2011
Der Bundesrat möge zu der Vorlage wie folgt Stellung nehmen:
I. Der Bundesrat stellt fest:
Die Menschen in Japan sind Opfer einer bislang nicht dagewesenen Naturkatastrophe geworden. Bis zur Stunde sind die Folgen des Erdbebens und des Tsunamis für Leib und Leben der japanischen Bevölkerung und die Schäden an Gebäuden und Infrastruktur kaum zu ermessen. Der Bundesrat trauert um die Opfer, und sein Mitgefühl gilt den Hinterbliebenen, die jetzt nicht nur den Verlust ihrer Angehörigen beklagen, sondern zugleich mit der gewaltigen Herausforderung konfrontiert sind, die notwendigen Aufräumungs- und Wiederaufbauarbeiten vornehmen zu müssen. Als Partner und Freund Japans ist nun Deutschland in der solidarischen Pflicht, umfassende Unterstützung bei der Bewältigung der akuten Krisenfolgen und beim längerfristigen Wiederaufbau zu leisten.
Der Bundesrat begrüßt, dass die Bundesregierung unmittelbar Soforthilfe bereitgestellt und weitere Maßnahmen in Aussicht gestellt hat. Viele zivile Kräfte aus Deutschland sind bereits im oder auf dem Weg zum Katastrophengebiet. Auch Ihnen gebührt die Anerkennung und der Dank des Bundesrates.
Aufgrund der Erdbeben und des Tsunamis sind die Kernkraftwerke der betroffenen Region in Japan in eine katastrophale Lage geraten. Noch sind Ausmaß und Konsequenzen nicht vollständig abzusehen; auch sind die Vorgänge im Einzelnen noch nicht hinreichend geklärt.
Der nukleare Notstand in den japanischen Kernkraftwerken in der Folge der Naturkatastrophen erfordert ein Innehalten und Nachdenken über das Geschehene. Beantwortet werden muss nun auch die Frage, welche sicherheitsbezogenen Konsequenzen aus den Ereignissen in Japan für die Anlagen in Deutschland zu ziehen sind.
Die Bundesregierung hat im vergangenen Herbst ein umfassendes Energiekonzept für eine sichere, zuverlässige, bezahlbare und umweltverträgliche Energieversorgung beschlossen. Damit liegt zum ersten Mal seit langem wieder ein langfristig angelegtes energiepolitisches Programm vor. Mit diesem Programm tritt Deutschland an, das Energiesystem der Zukunft so zu gestalten, dass Deutschland eine der energieeffizientesten und umweltschonendsten Volkswirtschaften der Welt wird.
Das Energiekonzept beschreibt dabei erstmalig konkret den Weg in das Zeitalter der Erneuerbaren Energien. Die für den Ausbau der Erneuerbaren Energien und die Reduzierung von CO₂ formulierten Ziele nehmen im weltweiten Vergleich eine Spitzenposition ein. Die Kernkraft war und ist im Energiekonzept nur eine zeitlich befristete Brückentechnologie bis zu ihrem endgültigen Auslaufen. Darin unterscheidet sich Deutschland bereits heute diametral von der überwiegenden Zahl der Industrienationen weltweit. Das Energiekonzept sieht nur eine zeitweise Allianz von Kernenergie und Erneuerbaren Energien vor, um im Übergang Klimaschutzziele schneller zu erreichen und Versorgungssicherheit zu gewährleisten.
In einem Zuge mit der Verlängerung der Laufzeiten der Kernkraftwerke hat der Deutsche Bundestag Gesetzesänderungen beschlossen, die die Sicherheit der Kernkraftwerke in Deutschland weiter erhöhen sollen. Die Ereignisse in Japan sind vor diesem Hintergrund Anlass, die dem deutschen Sicherheitskonzept zugrundeliegenden Annahmen sowie die vorhandenen Einrichtungen und die geplanten Maßnahmen im Einzelnen zu überprüfen, zu verbessern und weiterzuentwickeln. Dazu bedarf es auch einer genauen Analyse der Geschehnisse in den japanischen Kernkraftwerken, einer Bewertung, inwieweit hieraus Konsequenzen für die Situation in Deutschland abzuleiten sind, sowie einer Einbeziehung anderer außergewöhnlicher Schadensszenarien.
Der Bundesrat begrüßt den Beschluss der Bundesregierung, die Verlängerung der Laufzeiten der Kernkraftwerke für drei Monate auszusetzen. Zudem nimmt der Bundesrat zustimmend zur Kenntnis, dass die sieben deutschen Kernkraftwerke, die vor 1980 in Betrieb gegangen sind (Biblis A und B, Neckarwestheim I, Brunsbüttel, Isar I, Unterweser, Philippsburg 1), sowie das KKW Krümmel für die Zeit des Moratoriums im Stillstand überprüft werden. Die so gewonnene Zeit wird genutzt, um die Sicherheit der deutschen Kernkraftwerke nochmals eingehend und umfassend zu prüfen.
Die Sicherheit hat weiter höchste Priorität. Der Bundestag hat eine Option zur befristeten Weiternutzung der Kernkraft geschaffen - aber keine Garantie zum Weiterbetrieb jedes einzelnen Kraftwerks.
II. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf,
- 1. den Menschen in Japan weiterhin jede erdenkliche Hilfe, insbesondere auch bei den Aufräumungs- und Wiederaufbauarbeiten zukommen zu lassen;
- 2. zusammen mit den zuständigen internationalen Stellen zügig eine detaillierte Analyse der Vorgänge in den japanischen Kernkraftwerken vorzunehmen;
- 3. zusammen mit den Ländern entsprechend der Aufgabenverteilung im Grundgesetz eine umfassende Überprüfung der Sicherheitsbestimmungen für die deutschen Kernkraftwerke durchzuführen. Dazu soll eine unabhängige Expertenkommission beauftragt werden, eine neue Risikoanalyse aller deutschen Kernkraftwerke und kerntechnischen Anlagen unter Einbeziehung der vorliegenden Erkenntnisse über die Ereignisse in Japan - insbesondere auch mit Blick auf die Sicherheit der Kühlsysteme und der externen Infrastruktur - sowie anderer außergewöhnlicher Schadensszenarien vorzunehmen;
- 4. zusammen mit den Ländern entsprechend der Aufgabenverteilung im Grundgesetz auf der Grundlage der Ergebnisse der Arbeit dieser Expertenkommission gegebenenfalls zügig notwendige Änderungen der Sicherheitsbestimmungen vorzunehmen und von den Betreibern eine rasche Umsetzung dieser Sicherheitsbestimmungen einzufordern und wirksam durchzusetzen;
- 5. eine Arbeitsgruppe einzusetzen für die Beschleunigung der Steigerung der Energieeffizienz, der Nutzung Erneuerbarer Energien, besonders auch mit Blick auf den notwendigen Netzausbau sowie der Entwicklung und des Ausbaus von Speicherkapazitäten;
- 6. unverzüglich internationale Gespräche zur Sicherheit der Kernkraftwerke auf hochrangiger Ebene bei der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) und auf der Ebene der EU aufzunehmen. Die Europäische Kommission ist gefordert, eine Überprüfung und entsprechende Konsequenzen für alle kerntechnischen Anlagen, insbesondere in erdbebengefährdeten Gebieten Europas zu forcieren; geplante neue Kraftwerksprojekte in Regionen mit der Möglichkeit schwerer Erdbeben sind kritisch zu überprüfen. Die IAEO soll aufgefordert werden, vergleichbare Initiativen im internationalen Rahmen zu ergreifen.