892. Sitzung des Bundesrates am 10. Februar 2012
A
Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union (EU) und der Ausschuss für Innere Angelegenheiten (In) empfehlen dem Bundesrat, zu der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. Der Bundesrat anerkennt grundsätzlich die Bemühungen der Kommission, die Regelungen für die Familienzusammenführung von Drittstaatsangehörigen auf EU-Ebene wirkungsvoller zu gestalten. Er bekräftigt, dass das in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) niedergelegte Recht auf Achtung des Familienlebens wertentscheidende Grundsatznorm für die Ausgestaltung der nationalen Regelungen über die Familienzusammenführung ist. Er betont aber zugleich, dass die bundesgesetzlichen Regelungen über den Aufenthalt aus familiären Gründen mit den gemeinschaftsrechtlichen und verfassungsrechtlichen Vorgaben und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zum Recht auf Achtung des Familienlebens nach Artikel 8 EMRK im Einklang stehen. Er weist zudem darauf hin, dass die Familienzusammenführung einer der zahlenmäßig bedeutendsten Gründe für die dauerhafte Einwanderung nach Deutschland darstellt und dass ein erhebliches Interesse daran besteht, verbliebene nationale Steuerungsmöglichkeiten auch auf diesem Gebiet aufrechtzuerhalten. Die Verhandlungsposition der Bundesregierung muss sich deshalb am geltenden Aufenthaltsrecht orientieren. Dies bedeutet insbesondere, dass Zuzugsansprüche über das geltende Recht hinaus nicht begründet werden dürfen. Das Recht der Mitgliedstaaten, von drittstaatsangehörigen Familienangehörigen die Erbringung von Integrationsleistungen schon vor der Einreise zu verlangen, muss zudem beibehalten werden.
- 2. Der Bundesrat teilt zur Frage 3 des Grünbuchs die Auffassung der Kommission, dass der erfolgreichen Integration der Zusammenzuführenden in die Aufnahmegesellschaft ein wichtiger Stellenwert zukommt. Er unterstreicht dabei die Zielsetzung der Familienzusammenführungsrichtlinie, die Integration der Drittstaatsangehörigen zu erleichtern (vgl. Erwägungsgrund 4 der Richtlinie 2003/86/EG). Er lehnt daher eine Aufweichung der bisher von der Richtlinie eingeräumten Möglichkeiten der Mitgliedstaaten, Integrationskriterien vorzuschreiben, ab. Dies betrifft die vom deutschen Gesetzgeber in Anspruch genommene Möglichkeit, den getrennt von den übrigen Mitgliedern einer Familie erfolgenden Nachzug von Kindern über zwölf Jahren nach Maßgabe der in Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie vorgesehenen "Stillstandsklausel" grundsätzlich von Sprachkenntnissen abhängig zu machen, um zu gewährleisten, dass diese in einer Schule im Bundesgebiet erworben wird (vgl. Erwägungsgrund 12). Die Mitgliedstaaten müssen der Tatsache, dass einem Kind die Integration mit zunehmendem Alter erheblich schwerer fällt, bei der Gestaltung ihrer nationalen Zuwanderungsregelungen weiterhin Rechnung tragen dürfen, um Integrationshemmnisse zu vermeiden. Der Bundesrat spricht sich daher zumindest für die Beibehaltung der "Stillstandsklausel" aus. Im Interesse einzelstaatlicher Handlungsspielräume erneuert der Bundesrat seine Forderung, die "Stillstandsklausel" in eine echte Optionsregelung umzuwandeln (vgl. Ziffer 3 der BR-Drucksache 063/03(B) ).
- 3. Die Gemeinschaftsregelungen über die Familienzusammenführung müssen nach Auffassung des Bundesrates unbedingt auf die Kernfamilie, und zwar die Eltern und die minderjährigen, unverheirateten Kinder, sowie die lebenspartnerschaftlichen Gemeinschaften beschränkt bleiben (vgl. Frage 4 des Grünbuchs).
Eine Ausweitung würde zu einem erheblichen Anstieg der Zuwanderung von Familienangehörigen nach Deutschland führen, ohne aus Vorgaben höherrangigen Rechts geboten zu sein. Der Bundesrat lehnt daher eine Ausweitung der bisherigen Regeln ab.
- 4. Im Interesse einer erfolgreichen Integration hält der Bundesrat zu Frage 5 des Grünbuchs die Möglichkeit für unabdingbar, bereits vor der Einreise Maßnahmen zur Integration - wie den Nachweis über Basiskenntnisse der Sprache der Aufnahmegesellschaft (vgl. § 30 Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 AufenthG) - zu verlangen. Er ist besorgt darüber, dass ein erst nach der Einreise zu erbringender Sprachnachweis den Integrationserfolg häufig deutlich verzögert. Er ist sich bewusst, dass die Anforderungen an derartige Integrationsmaßnahmen die Familienzusammenführung nicht unangemessen erschweren dürfen, hält aber die im nationalen Recht vorgesehenen Ausnahmemöglichkeiten für Härtefälle für ausreichend, um individuelle Gegebenheiten im Einzelfall zu berücksichtigen.
- 5. Der Bundesrat ist zu Frage 8 des Grünbuchs der Auffassung, dass die Familienzusammenführung von Drittstaatsangehörigen, denen subsidiärer Schutz gewährt wurde, wegen des oftmals nur vorübergehenden Schutzbedürfnisses, nicht unter die Bestimmungen der Richtlinie über die Familienzusammenführung fallen sollte. Sofern dennoch eine Einbeziehung subsidiär Schutzberechtigter in die Richtlinie erfolgen soll, bittet der Bundesrat die Bundesregierung, sich gegen eine Angleichung der Bedingungen für einen Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten an die günstigeren Bestimmungen, die für anerkannte Flüchtlinge gelten, einzusetzen. Er hält es insbesondere für erforderlich, dass bei Ausweitung der Richtlinie über die Familienzusammenführung auf subsidiär Schutzberechtigte der Familiennachzug abhängig gemacht wird von der eigenständigen Sicherung des Lebensunterhalts der Familie einschließlich des Nachweises ausreichenden Krankenversicherungsschutzes.
- 6. Zu Frage 9 des Grünbuchs spricht sich der Bundesrat dagegen aus, die Familienzusammenführung zu anerkannten Flüchtlingen auf unterhaltsberechtigte entferntere Familienangehörige zu erstrecken. Aufgrund der sehr viel schlechteren Lebensverhältnisse in den Hauptherkunftsländern von Flüchtlingen sind die Mitgliedstaaten nach wie vor einem starken
Zuwanderungsdruck ausgesetzt, der im Zusammenhang mit einer Erweiterung des zum Familiennachzug berechtigten Personenkreises allen Bemühungen um eine Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung entgegenliefe. Die mit einer Ausweitung der Familienzusammenführung verbundenen Risiken für die sozialen Sicherungssysteme könnten auch durch die Unterhaltsberechtigung gegenüber in Deutschland anerkannten Flüchtlingen nicht aufgefangen werden, da der Lebensunterhalt bei rechtzeitiger Antragstellung nach Artikel 12 Absatz 3 der geltenden Richtlinie 2003/86/EG nicht gesichert sein muss.
Zu der zweiten Frage der Kommission hält der Bundesrat daran fest, dass anerkannte Flüchtlinge die Lebensunterhaltssicherung auch künftig nachweisen sollen, wenn der Antrag nicht innerhalb von drei Monaten nach Zuerkennung des Flüchtlingsstatus gestellt wird.
- 7. Gegen die Überlegungen der Kommission, genauere Regelungen für Befragungen und Nachforschungen der zuständigen Behörden bei Anhaltspunkten für Missbrauch oder Betrug vorzugeben (Frage 10 des Grünbuchs), erhebt der Bundesrat Bedenken. Die öffentliche Verwaltung in Deutschland hat das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und die Grundrechte zu berücksichtigen und ein rechtsstaatliches Verfahren zu gewährleisten. Behördliche Ermessenausübungen und Abwägungsprozesse können dabei nicht durch abstraktgenerelle Richtlinienbestimmungen antizipiert werden. Obwohl statistische Erhebungen zu Fällen von Missbrauch oder Betrug nicht vorliegen, dürfen die Handlungsspielräume der Behörden nicht unnötig eingeschränkt werden, um im Einzelfall praxisgerecht reagieren zu können.
- 8. Zu Frage 11 des Grünbuchs weist der Bundesrat darauf hin, dass das Missbrauchspotenzial bei Scheinehen ausweislich der polizeilichen Kriminalitätsstatistiken erheblich ist. Die entsprechende Statistik des Bundesministeriums des Innern weist für 2010 insgesamt 994 Fälle aus. Die generalpräventive Wirkung von Kontrollen, die im Einklang mit den Grundrechten der Betroffenen stehen müssen, darf keinesfalls unterschätzt werden. Einschränkende Vorgaben auf EU-Ebene, die über den Schutz der Grundrechte der Betroffenen hinausgehen, lehnt der Bundesrat deshalb ab.
- 9. Der Bundesrat lehnt Regelungen der EU zu Verfahrensgebühren ab (vgl. Frage 12 des Grünbuchs), weil Kostenregelungen, die nach dem Prinzip der Kostendeckung sowie dem Wert der Angelegenheit für die Begünstigten ausgerichtet werden, nationalen Regelungen vorbehalten bleiben sollten.
- 10. Der Bundesrat spricht sich dafür aus, die in der Richtlinie festgelegte Bearbeitungsfrist von neun Monaten beizubehalten (vgl. Frage 13 des Grünbuchs). Die durchschnittliche Bearbeitungsdauer bei den Ausländerbehörden in Deutschland ist zwar deutlich geringer, es kann aber in besonders gelagerten Einzelfällen zu einer längeren Bearbeitungszeit kommen.
- 11. Zu Frage 14 des Grünbuchs weist der Bundesrat darauf hin, dass die Anwendung der horizontalen Klauseln des Artikels 5 Absatz 5 (Kindeswohl) beziehungsweise des Artikels 17 Absatz 2 (Art und Stärke der familiären Bindungen) der Richtlinie 2003/86/EG durch legislative Maßnahmen nicht erleichtert oder sichergestellt werden kann. Die horizontalen Klauseln sind bei behördlichen Ermessensausübungen bzw. Abwägungsprozessen im Einzelfall einzustellen, deren Ergebnis nicht rechtssatzmäßig antizipiert werden kann.
- 12. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.
B
- 13. Der Ausschuss für Arbeit und Sozialpolitik, der Ausschuss für Frauen und Jugend und der Ausschuss für Familie und Senioren empfehlen dem Bundesrat, von der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG Kenntnis zu nehmen.