Der Bundesrat hat in seiner 917. Sitzung am 29. November 2013 gemäß Artikel 12 Buchstabe b EUV die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat erhebt aus folgenden Gründen Subsidiaritätsrüge gemäß Artikel 12 Buchstabe b EUV und Artikel 6 des Protokolls Nummer 2 über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit:
- 2. Er ist der Auffassung, dass der Vorschlag der Kommission nicht der primärrechtlichen Kompetenzordnung entspricht. Die Kommission kann sich für diesen Richtlinienvorschlag nicht auf Artikel 113 AEUV berufen. Nach dem aus Artikel 5 Absatz 2 EUV folgenden Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung darf ein Gemeinschaftsorgan nur nach Maßgabe der ihm im Vertrag zugewiesenen Befugnisse handeln. Gemäß Artikel 113 AEUV hat der Rat aber lediglich die Befugnis, "Bestimmungen zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften über die Umsatzsteuern" zu erlassen, soweit diese Harmonisierung für die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts und die Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen notwendig ist.
Die primärrechtliche Kompetenzzuweisung erstreckt sich nur auf Regelungen zum materiellen Mehrwertsteuerrecht und soll eine harmonisierte Bestimmung der steuerlichen Bemessungsgrundlage im Binnenmarkt und damit eine steuerrechtliche Belastungsneutralität aller Unternehmer innerhalb der Union ermöglichen.
Artikel 113 AEUV erstreckt sich damit nur auf Regelungen zum materiellen Umsatzsteuerrecht, nicht aber auf Bestimmungen mit verfahrensrechtlichem Gehalt. Letztere sind Angelegenheiten der Mitgliedstaaten. Ob die Regelungen für das Funktionieren des Binnenmarkts oder die Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen erforderlich sind, ist nicht ausschlaggebend, da bereits dem Grunde nach keine Kompetenz der EU gegeben ist.
Der Hinweis der Kommission, dass der Rat in Bezug auf die Mehrwertsteuer auch schon früher Rechtsvorschriften betreffend die Erklärungspflichten erlassen habe (Folgenabschätzung Seite 20f. SWD (2013) 427 final), trägt nicht. Aus der Tatsache, dass die Kompetenz der EU für diese Regelungen bisher nicht hinterfragt wurde, ist keine Regelungskompetenz abzuleiten. Vielmehr haben die bisherigen Regelungen die Steuerverwaltung in den Mitgliedstaaten nicht in einem Maße gebunden, dass seitens der Mitgliedstaaten ein Bedürfnis für eine Problematisierung der Regelungskompetenz bestanden hätte. Die Begründung einer solchen Kompetenz für die Kommission aufgrund vorangegangenem, unbeanstandeten Richtlinien- oder Verordnungserlass ist den europäischen Verträgen fremd; sie steht zudem in Widerspruch zu Artikel 5 Absatz 2 Satz 2 EUV.
- 3. Ungeachtet der fehlenden Kompetenz ist der Bundesrat der Auffassung, dass der Vorschlag der Kommission nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip nach Artikel 5 Absatz 3 EUV in Einklang steht. Denn die angestrebten Ziele lassen sich durch das Tätigwerden der EU mit dem vorgelegten Richtlinienvorschlag nicht besser verwirklichen als durch die Mitgliedstaaten. Nach Ansicht des Bundesrates wird das Ziel, die Mehrwertsteuerlücke durch diesen Richtlinienvorschlag zu schließen, verfehlt. Vielmehr wird die Problematik durch den Richtlinienvorschlag in Deutschland sogar noch vertieft.
Zwar würde eine Standard-Mehrwertsteuererklärung ohne die von der Kommission formulierten Ziele oder isoliert betrachtet in Bezug auf die Verbesserung des Funktionierens des Binnenmarktes mit einer Änderung der Mehrwertsteuersystem-Richtlinie (MwStSystRL) durch die EU besser verwirklicht werden als in den Mitgliedstaaten. Allerdings gewährt der Richtlinienvorschlag der Kommission zu Artikel 251 MwStSystRL den Mitgliedstaaten Optionen, die die Bezeichnung "Standard-Mehrwertsteuererklärung" nicht rechtfertigen. Die Abweichungen in den Mitgliedstaaten bleiben durch die Möglichkeit zur Nutzung von insgesamt 21 optionalen Angaben weiterhin sehr groß.
Die Administration von 28 verschiedenen nationalen Mehrwertsteuergesetzen mit ihren rechtlichen Besonderheiten durch eine Standard-Mehrwertsteuererklärung ohne Optionen ist derzeit tatsächlich unmöglich. Aber auch die vorgeschlagene Standard-Mehrwertsteuererklärung bietet nicht genügend Optionen zur Administration aller Mehrwertsteuergesetze der Mitgliedstaaten, die unter Berücksichtigung der Vorgaben der MwStSystRL gelten.
- 4. Die Behauptung, die Standard-Mehrwertsteuererklärung würde Wettbewerbsverzerrungen (ausgelöst durch Umgehung und Hinterziehung der Mehrwertsteuer) vermindern, ist im Hinblick auf Deutschland wenig überzeugend. Nach Auffassung des Bundesrates sind die in Deutschland verwendeten Vordrucke und die hier angewendeten Prüfungsroutinen der vorgeschlagenen Standard-Mehrwertsteuererklärung, für die zudem entsprechende Routinen bislang nicht entwickelt sind, überlegen. Im Hinblick auf die Betrugsbekämpfung sind Mitgliedstaaten wie Deutschland daher nicht auf die Standard-Mehrwertsteuererklärung angewiesen.
Für diejenigen Mitgliedstaaten, die wie Deutschland bereits über ein funktionierendes IT-Verfahren zur elektronischen Erklärungsabgabe mit entsprechenden Prüfungsroutinen verfügen, ist die Behauptung der Kommission nicht nachvollziehbar, dass durch die Standard-Mehrwertsteuererklärung die Kontrolle der Erklärungen durch die Mitgliedstaaten verbessert würde. Dies gilt erst recht im Hinblick auf die knapp bemessene Frist zur Umsetzung der beabsichtigten Änderungen der MwStSystRL (1. Januar 2017), die eine technische Integration in die bestehenden, teilweise jahrzehntelang gewachsenen IT-Strukturen der Mitgliedstaaten und zudem die Implementierung neuer Prüfungsroutinen auf Basis des Richtlinienvorschlages unmöglich machen.
Die Erstellung und Verwendung von Steuererklärungsvordrucken sind Elemente der Durchführung der MwStSystRL, die nach Artikel 291 AEUV auf nationaler Ebene zu erfolgen hat.
Abweichend von den Einzelerläuterungen zum Richtlinienvorschlag sieht dieser in Artikel 255a (neu) MwStSystRL nicht nur die Regelung technischer Aspekte, sondern auch die Festlegung von gemeinsamen "Verfahren für die Korrektur unrichtiger Angaben in der Standard-Mehrwertsteuererklärung" durch die Kommission im Komitologieverfahren (siehe Verordnung (EU) Nr. 182/2011) vor. Bei den Regelungen zur Berichtigung von Steuererklärungen und ihren Rechtsfolgen (bis hin zu strafrechtlichen Implikationen) handelt es sich aber um verfahrensrechtliche Fragen, die nicht im Wege bloßer Durchführungsbefugnisse der Festlegung durch die Exekutive überlassen werden dürfen. Der Richtlinienvorschlag würde daher auch insoweit gegen Artikel 291 AEUV verstoßen.
- 5. Der Richtlinienvorschlag verletzt auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, indem er die Autonomie Deutschlands unverhältnismäßig beeinträchtigt.
Der Richtlinienvorschlag erscheint bereits zur Erreichung des selbstgesteckten Ziels ungeeignet. Denn der Rechtsakt würde nicht zu einer echten Standardisierung führen, da nur wenige zwingend gleiche Angaben vorgesehen sind, daneben aber weit mehr optionale Angaben möglich bleiben, so dass die Vordrucke weiterhin uneinheitlich ausfallen werden. Das Ziel einer Vereinheitlichung würde daher verfehlt, zugleich aber in die nationalen Verfahren eingegriffen und diese damit ihres bisherigen Nutzens beraubt, ohne einen Gewinn auf anderer Ebene zu erzielen.
Betroffen ist zunächst der Gesetzgeber in den einzelnen Mitgliedstaaten, der nach der Einführung der Standard-Mehrwertsteuererklärung nicht mehr frei entscheiden kann, ob und welche materiellrechtlichen Ausnahmeregelungen aus der MwStSystRL er nutzen will, sofern mit der Einführung neuer Tatbestände zur Ermittlung des Sachverhalts Fragen in das Steuererklärungsformular aufzunehmen wären, die die vorgeschlagene Standard-Mehrwertsteuererklärung nicht bietet.
Auch die Verwaltung in Deutschland wird unverhältnismäßig eingeschränkt, indem der amtliche Vordruck durch einen gesetzlich festgelegten ersetzt wird. Hier wird der Grundsatz der Gewaltenteilung berührt, der der Verwaltung im Rahmen der verfahrenslenkenden Rechtsvorschriften freie Hand bei der Gestaltung ihrer Formulare garantiert, weil dies einschließlich der Beurteilung der Zweckmäßigkeit dieser Formulare ihre Kernkompetenz ist.
Durch den Richtlinienvorschlag wird zudem das bisher gegebene Instrumentarium zur Betrugsbekämpfung unbrauchbar, ohne dass ein adäquater Ersatz bereitsteht. Vor diesem Hintergrund kann das von der Kommission genannte Ziel, Wettbewerbsverzerrungen durch Betrugsbekämpfung zu verringern, nicht erreicht werden. Dies birgt ferner die Gefahr erhöhter Steuerausfälle für die Mitgliedstaaten und damit Risiken für die nationalen Haushalte. Verstärkt wird dieser negative Effekt für die nationalen Haushalte zudem dadurch, dass
Unternehmern mit einem Jahresumsatz, der zwei Millionen Euro nicht übersteigt, die Möglichkeit zur quartalsweisen Abgabe ihrer Umsatzsteuererklärung eingeräumt werden soll.