Der Bundesrat hat in seiner 861. Sitzung am 18. September 2009 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt das mit dem Rahmenbeschlussvorschlag verfolgte Anliegen, durch die Festlegung gemeinsamer Mindeststandards für Verdolmetschung und Übersetzung im Strafverfahren innerhalb der EU das Vertrauen in die Rechtssysteme der anderen Mitgliedstaaten zu stärken und die gegenseitige Anerkennung von gerichtlichen Entscheidungen zu fördern. Die Ausführungen in der Begründung und in den Erwägungen des Rahmenbeschlussvorschlags sind im Hinblick auf die Rechtsgrundlage des Artikels 31 Absatz 1 Buchstabe c EUV auch grundsätzlich geeignet, die Kompetenz für eine entsprechende Regelung zu begründen.
- 2. Der Bundesrat hält den Rahmenbeschluss jedoch in fachlicher Hinsicht nicht in dem von der Kommission vorgeschlagenen Umfang für erforderlich - vgl. auch die Stellungnahmen des Bundesrates vom 24. September 2004, BR-Drucksache 409/04(Beschluss) , und vom 23. Mai 2003, BR-Drucksache 155/03(B) -. Das gilt jedenfalls für den Teil des Beschlussvorschlags, der über die Verpflichtungen hinausgeht, die sich aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ergeben. Insoweit nimmt der Bundesrat wie folgt Stellung:
- 3. Das Recht auf Verdolmetschung ausdrücklich auch auf Personen auszudehnen, die hör- oder sprachgeschädigt sind, ist zu begrüßen. Der Bundesrat weist darauf hin, dass dieses Recht und die Rechte der Beschuldigten, die die Verfahrenssprache nicht verstehen, im deutschen Strafprozess hinreichend gewährleistet sind.
- 4. Der Bundesrat sieht keinen Bedarf für ein förmliches Verfahren zur Feststellung der sprachlichen Kompetenz eines Beschuldigten. Maßgeblich dürfte allein sein, ob der Betroffene sich darauf beruft, einen Dolmetscher/Übersetzer zu benötigen. Im Übrigen hat das Gericht von Amts wegen aufzuklären, ob alle Verfahrensbeteiligten der Verhandlungssprache genügend mächtig sind. Das Gericht hat diese Entscheidung im Rahmen des tatrichterlichen Beurteilungsspielraums zu treffen. Unterbleibt die notwendige Hinzuziehung eines Dolmetschers, so führt dies auf ein zulässiges Rechtsmittel hin zur Aufhebung des Urteils. Ein gesondertes Rechtsmittel gegen einen die Hinzuziehung eines Dolmetschers ablehnenden Beschluss lehnt der Bundesrat schon wegen der damit einhergehenden Verfahrensverzögerung und als systemfremd ab. Die isolierte Anfechtung der Entscheidung des Gerichts, mit der eine Verdolmetschung oder eine Übersetzung von Unterlagen abgelehnt wird, widerspricht dem im Strafprozess geltenden Grundsatz einer konzentrierten und beschleunigten Durchführung des Verfahrens. Dieser Gedanke liegt der Regelung des § 305 Satz 1 StPO zugrunde, wonach Entscheidungen der erkennenden Gerichte, die der Urteilsfällung vorausgehen, nicht der Beschwerde unterliegen.
- 5. Der Bundesrat sieht keine Notwendigkeit, über die von dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) aufgestellten Grundsätze hinaus Regelungen zur Übersetzung von Unterlagen zu treffen. Insbesondere wird nicht für geboten erachtet, zwingend eine Übersetzung wichtigen Beweismaterials sowie des Urteils vorzusehen. Der EGMR hat festgestellt, dass nicht jedes Schriftstück übersetzt werden muss, solange ein faires Verfahren sichergestellt ist. Eine Übersetzung von Beweismaterial ist schon deshalb nicht notwendig, weil alle Beweise mündlich in der Hauptverhandlung erhoben werden und ein Urteil nur auf dieser Hauptverhandlung - und nicht auf dem Akteninhalt - beruhen kann. Der schriftlichen Übersetzung bedürfen auch nicht Urteile, die in Anwesenheit des Angeklagten unter Mitwirkung eines Dolmetschers verkündet und begründet worden sind. Zudem ist zu bedenken, dass umfangreiche Übersetzungen zu Verfahrensverzögerungen führen können, die nach Artikel 5 Absatz 3 Satz 1, Artikel 6 Absatz 1 Satz 1 EMRK zu vermeiden sind. Soweit sprachunkundige Angeklagte durch fehlende Übersetzungen benachteiligt werden könnten, kann dies sachgerecht dadurch ausgeglichen werden, dass für sie ein Verteidiger bestellt wird. In diesem Fall entfällt das Bedürfnis für die Übersetzung weiterer Aktenbestandteile und das Verfahren kann - auch im Interesse des Angeklagten - beschleunigt werden. Unabhängig von diesen grundsätzlichen Bedenken hält der Bundesrat es jedenfalls für erforderlich, dass die Strafverfolgungsbehörden und die Gerichte bestimmen, welche Dokumente "wichtiges Beweismaterial" sind. Der Rahmenbeschluss lässt im Übrigen ungeklärt, wie sich das Recht auf schriftliche Übersetzung von Unterlagen - insbesondere Beweismittel - zum Akteneinsichtsrecht des Beschuldigten verhält. Der Bundesrat hält es an dieser Stelle jedenfalls für erforderlich klarzustellen, dass das Recht auf Übersetzung unter dem Vorbehalt steht, dass bezüglich der zu übersetzenden Aktenteile auch ein Akteneinsichtsrecht des Beschuldigten bzw. des Verteidigers besteht. Es kann nicht Ziel des Rahmenbeschlusses sein, nicht sprachkundige Beschuldigte besser zu stellen als Beschuldigte, die der Verfahrenssprache mächtig sind.
- 6. Das im Rahmenbeschluss vorgesehene Recht des Verteidigers, die Übersetzung weiterer Dokumente zu verlangen (Artikel 3 Absatz 3), lehnt der Bundesrat entschieden ab. Die Regelung lässt offen, ob und unter welchen Voraussetzungen das Gericht dem Antrag nachkommen muss. Verfahrensverzögerungen wären in jedem Fall die Folge.
- 7. Soweit der Rahmenbeschlussvorschlag die Einführung eines Rechtsmittels gegen die kostenfreie Übersetzung von Unterlagen verweigernde Entscheidungen vorsieht, lehnt der Bundesrat dies ab. Einem solchen Rechtsmittel käme weitere Verfahrens verzögernde Wirkung zu. Beruht das Urteil im Einzelfall auf einer die Grundsätze des fairen Verfahrens verletzenden Ablehnung von Übersetzungen, so kann es als deshalb rechtsfehlerhaft aufgehoben werden.
- 8. Ein Bedürfnis für eine besondere Schulung von Richtern, Rechtsanwälten und sonstigen am Verfahren beteiligten Gerichtsbediensteten zur Gewährleistung, dass die verdächtige Person dem Verfahren folgen kann, sieht der Bundesrat nicht, da sie aufgrund ihrer Ausbildung und beruflichen Stellung dazu in der Lage sind.
- 9. Der Bundesrat vermisst eine hinreichende finanzielle Folgenabschätzung. Da die Umsetzung der Maßnahmen in erster Linie Aufgabe der Ermittlungsbehörden, der Gerichte, des Justizvollzugs und weiterer Einrichtungen der Länder sein wird, ist zu erwarten, dass finanzielle Mehrbelastungen zunächst die Länder treffen werden. Eine spürbare Mehrbelastung der Länderhaushalte kann angesichts der äußerst angespannten Haushaltslage und angesichts der knappen personellen und sachlichen Ressourcen bei Polizei und Justiz nicht hingenommen werden. Die Rahmenvorgaben sollten so ausgestaltet sein, dass zusätzliche Belastungen für die Strafverfolgungsbehörden und die Gerichte vermieden werden.