Der Bundesrat hat in seiner 903. Sitzung am 23. November 2012 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt grundsätzlich die Durchführung einer Risiko- und Sicherheitsbewertung ("Stresstest") von Kernkraftwerken in der EU.
Er nimmt den Bericht über die Stresstests von Kernkraftwerken in Europa zur Kenntnis.
- 2. Der Bundesrat verweist auf die hohe Bedeutung der Sicherheit kerntechnischer Anlagen und der Initiative der Kommission. Er begrüßt, dass nunmehr die Ergebnisse der Stresstests kerntechnischer Anlagen europaweit vorliegen.
- 3. Nach dem Willen des Europäischen Rates sollte die Sicherheit aller kerntechnischer Anlagen der EU mit einer umfassenden und transparenten Risiko- und Sicherheitsbewertung ("Stresstest") überprüft werden. Der vorliegende Bericht zum Stresstest hat sich jedoch nur mit einer kleinen Auswahl möglicher Unfallursachen und ihrer Folgen befasst.
Die sicherheitstechnische Auslegung, deren Ziel die Beherrschung von Störfällen und damit die Verhinderung von Unfällen ist, wurde von vorneherein nicht hinreichend einbezogen und damit untersucht. Der Stresstest fokussiert sich somit im Wesentlichen auf die Frage, welche abmildernden Maßnahmen bei einem schon eingetretenen nuklearen Unfall verfügbar sind, nicht jedoch, wie dieser zu verhindern ist.
- 4. Dem Bundesrat ist bewusst, dass die Stresstests aus Anlass der Katastrophe von Fukushima auf Naturkatastrophen fokussiert waren.
Eine transparente, anlagenbezogene Überprüfung der Kernkraftwerke bezüglich der Gefahren durch einen unfallmäßigen oder gezielten Flugzeugabsturz fand nicht verpflichtend europaweit für alle Kernkraftwerke statt. Terroristische Angriffe oder Cyber-Attacken blieben im Rahmen der EU-Stresstests gänzlich außen vor, obwohl diese Gefahren zu den größten Risiken für Kernkraftwerke gehören.
Der Bundesrat hält eine Erweiterung der Stresstests auf menschlich verursachte Gefahrenpotentiale wie Terrorakte und Flugzeugabstürze für dringend erforderlich.
- 5. Der Bundesrat nimmt mit Sorge zur Kenntnis, dass trotz des eingeschränkten Untersuchungsumfangs so gut wie alle untersuchten Kernkraftwerke im Hinblick auf die Sicherheit verbessert werden müssen und Hunderte von Maßnahmen zur technischen Nachrüstung ermittelt worden sind. Auch die für Deutschland im Rahmen der Stresstests festgestellten Lücken müssen geschlossen und die vorgeschlagenen Verbesserungen und Optimierungspotenziale bei den sicherheitstechnischen Merkmalen müssen ernst genommen und realisiert werden. Die Ergebnisse belegen, dass die Kernkraftwerke in Europa weit davon entfernt sind, über den bestmöglichen Schutz vor den Folgen eines nuklearen Unfalls zu verfügen.
- 6. Der Bundesrat hält wegen der grenzüberschreitenden Auswirkungen von Störfällen und Reaktorunglücken, aber auch in geringerem Maße von Störfällen bestimmter Größenordnung, höchste Sicherheitsstandards in Europa für erforderlich. Deswegen und aus Gründen der Glaubwürdigkeit müssen trotz der in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Staaten hohen Sicherheitsstandards auch in Deutschland die festgestellten Lücken geschlossen und die vorgeschlagenen weiteren Verbesserungen und Optimierungspotenziale bei den sicherheitstechnischen Merkmalen ernst genommen und realisiert werden.
- 7. Es wurden keine einheitlichen Bewertungsmaßstäbe festgelegt. Dadurch mussten die überprüften Kernkraftwerke nicht einheitlichen, hohen Sicherheitsanforderungen genügen, sondern lediglich den jeweiligen nationalen Regelwerken. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, sich in der EU für verbindliche, einheitliche Sicherheitsstandards auf höchstem Niveau einzusetzen, die eine sicherheitstechnische Gesamtbewertung jeder einzelnen Anlage ermöglichen. Der Bundesrat begrüßt in diesem Zusammenhang die Ankündigung der Überarbeitung der Richtlinie für nukleare Sicherheit und erwartet, dass diese den genannten Anforderungen genügt.
- 8. Der Bundesrat ist wie die Kommission der Ansicht, dass die nationalen Aktionspläne zur Verbesserung der kerntechnischen Sicherheit einschließlich der Zeitpläne für die Umsetzung bis zum Jahresende 2012 aufgestellt und veröffentlicht werden sollen und dass die Umsetzung ebenfalls mit der Methode der gegenseitigen Überprüfung ("Peer Review") kontrolliert werden soll. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, sich für die Umsetzung der Empfehlungen der Kommission europaweit einzusetzen.
- 9. Der Bundesrat begrüßt die Ankündigung von Vorschlägen für eine Vereinheitlichung von Versicherung und Haftung zur Verbesserung der Situation potentieller Opfer eines nuklearen Unfalles sowie für Höchstwerte an Radioaktivität in Nahrungs- und Futtermitteln durch die Kommission. Er weist darauf hin, dass entsprechende Regelungen schadensadäquat zu gestalten sind und nicht zu einer mittelbaren Subventionierung der Kernenergie führen dürfen.
- 10. Der Bundesrat ist der Ansicht, dass es in der Logik der deutschen Energiewende liegt, in Europa einen Diskurs über die zukünftige Rolle der Kernenergie zu führen.
Weiterhin sollte auch die Gefahr thematisiert werden, die von älteren Kernkraftwerken ausgeht, insbesondere wenn sie sich in Grenznähe zu anderen Staaten befinden. Der Bundesrat regt an, soweit Deutschland von solchen Kernkraftwerken betroffen ist, bilaterale Gespräche mit den jeweiligen Regierungen zu suchen, um die berechtigten Sorgen der deutschen Bevölkerung, wie auch völkerrechtlich gefordert, nachbarschaftlich geltend zu machen.
Der Diskurs muss auch mittel- und langfristig angelegt sein und mit Rücksicht darauf erfolgen, dass die Entscheidung über den Energiemix eine nationale Angelegenheit der Mitgliedstaaten ist.
- 11. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.