889. Sitzung des Bundesrates am 4. November 2011
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Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union (EU), der Ausschuss für Agrarpolitik und Verbraucherschutz (AV) und der Rechtsausschuss (R) empfehlen dem Bundesrat, zu der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. Der Bundesrat unterstützt das Anliegen der Kommission, eine kohärente, einheitliche Strafrechtspolitik der EU einzuführen und dabei die Bedürfnisse der EU-Bürgerinnen und -Bürger sowie die Erfordernisse des EU-Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in den Mittelpunkt zu stellen. Er stimmt mit der Kommission in der Auffassung überein, dass die Einführung neuer strafrechtlicher Maßnahmen der EU von der Feststellung eines entsprechenden Bedarfs abhängt, und er bekräftigt die Kommission in der Ansicht, dass die hierzu jeweils erforderliche Prüfung unter vollständiger Achtung wesentlicher Vertragsgrundsätze wie den Prinzipien der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen ist.
- 2. Soweit die Kommission in ihrer Mitteilung von einem "EU-Strafrecht" spricht, ist dies aus Sicht des Bundesrates als Sammelbezeichnung für die Wahrnehmung der einzelnen strafrechtlichen Handlungsoptionen zu verstehen, die der EU durch verschiedene Bestimmungen des AEUV eingeräumt sind. Er weist mit Blick auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon (BVerfG, Urteil vom 30. Juni 2009 - 2 BvE 2/08 u.a. -, BGBl. I, S. 2127) darauf hin, dass ein auf die Schaffung einer vollständigen europäischen Strafrechtsordnung abzielendes Verständnis dieses Terminus mit dem im AEUV verwirklichten System einer auf einzelne, fest umrissene Kompetenztitel beschränkten Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU unvereinbar wäre.
- 3. Der Bundesrat nimmt zur Kenntnis, dass die Kommission mit ihrer Mitteilung insbesondere spezifische Leitlinien für diejenigen strafrechtspolitischen Entscheidungen der EU aufstellen will, die sich auf Artikel 83 Absatz 2 AEUV stützen. Er teilt die Ansicht der Kommission, dass strafrechtliche Maßnahmen mit Blick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besonders strengen Anforderungen unterliegen und nur als ultima ratio staatlichen Handelns einsetzbar sind. Er begrüßt, dass die Kommission die Entscheidung über strafrechtliche Maßnahmen der EU daher stets auf Basis umfassender Bewertung der Sanktionsregelungen der Mitgliedstaaten und unter Abschätzung der mit einer Regelung durch die EU verbundenen Folgen vornehmen wird. Der Bundesrat weist zudem auf folgende weitere Gesichtspunkte hin:
- Das in der Mitteilung enthaltene Stufenkonzept für Rechtsvorschriften im Bereich des Strafrechts bedarf der Ergänzung, soweit es die Bedingungen eines auf Artikel 83 Absatz 2 AEUV gestützten Vorgehens der EU zum Gegenstand hat. Als Ausnahmetatbestand ist die Norm bewusst sehr eng gefasst. Im Vertrag von Lissabon wurde damit dem Umstand Rechnung getragen, dass der Erlass von Strafnormen die demokratische Selbstbestimmung der Mitgliedstaaten besonders empfindlich berührt. Artikel 83 Absatz 2 AEUV setzt daher für Maßnahmen der EU voraus, dass eine Angleichung der strafrechtlichen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten "unerlässlich" ist. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juni 2009 zum Vertrag von Lissabon muss hierzu nachweisbar feststehen, dass "ein gravierendes Vollzugsdefizit tatsächlich besteht und nur durch Strafandrohung beseitigt werden kann". Es muss nachgewiesen werden, dass die Wirksamkeit des EU-Rechts nur dadurch erreicht werden kann, dass die strafrechtlichen Regelungen der Mitgliedstaaten insgesamt in einem Mindestmaß angeglichen und hierzu die konkret vorgeschlagenen Strafvorschriften in allen Mitgliedstaaten umgesetzt werden. Vollzugsdefizite müssen folglich gerade in den Mitgliedstaaten feststellbar sein, die insoweit über keine bzw. keine hinreichenden strafrechtlichen Schutzvorschriften verfügen.
Für ein Vorgehen nach Artikel 83 Absatz 2 AEUV genügt also nicht bereits die Feststellung, dass verwaltungs- oder zivilrechtliche Sanktionsregelungen zur wirksamen Durchführung der Politik der Union nicht ausreichen und keine alternativen Sanktionsmittel der EU zur Verfügung stehen. Vielmehr muss zusätzlich feststehen, dass die vorhandenen strafrechtlichen Regelungen der Mitgliedstaaten hierzu aufgrund ihrer Diversität ebenfalls nicht genügen, solange sie nicht in einem Mindestmaß angeglichen werden. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 30. Juni 2009 die Zustimmung der Bundesrepublik Deutschland zum Vertrag von Lissabon mit Blick auf Artikel 83 Absatz 2 AEUV nur deshalb als mit dem Grundgesetz vereinbar angesehen, weil diese Norm bereits vom Wortlaut eng gefasst ist, und weil die vertraglichen Kompetenzgrundlagen der EU für strafrechtliche Maßnahmen strikt - keinesfalls extensiv - auszulegen sind. Allein der Umstand, dass ein strafrechtliches Vorgehen der EU in einem Bereich einen positiven Beitrag leisten, sich als nützlich erweisen oder mit einem Mehrwert verbunden sein könnte, ermächtigt die EU nicht zu Maßnahmen nach Artikel 83 Absatz 2 AEUV.
Soweit die Kommission in der Mitteilung die Auffassung vertritt, dass die EU im Rahmen einer Maßnahme nach Artikel 83 Absatz 2 AEUV als Teil der Definition einer Straftat auch Regeln zur gerichtlichen Zuständigkeit treffen kann, vermag der Bundesrat ihr hierin nicht zu folgen: Diese Norm ermöglicht Mindestvorschriften für die Festlegung von Straftaten und Strafen, also für Tatbestandsvoraussetzungen eines Delikts und für die gegen den Täter zu verhängende Sanktion. Demgegenüber gehört die Regelung gerichtlicher Zuständigkeiten zu den Gegenständen des Strafverfahrens- bzw. Gerichtsverfassungsrechts, auf welche sich Artikel 83 Absatz 2 AEUV nicht bezieht.
- Der Bundesrat begrüßt, dass die Kommission eine einvernehmliche Klärung der Leitlinien anstrebt, an denen sich die künftige strafgesetzgeberische Tätigkeit der EU orientieren soll. Er nimmt zur Kenntnis, dass die Kommission in diesem Zusammenhang auch eine Diskussion um die Auslegung grundlegender Rechtsbegriffe anstrebt, und dass die Kommission in diese Diskussion u.a. die Begriffe der "Anstiftung" und der "Beihilfe" einbeziehen will. Für diesen Prozess der begrifflichen Klärung weist der Bundesrat darauf hin, dass allgemeine strafrechtliche Rechtsinstitute einer auf Artikel 83 AEUV gestützten Gesetzgebung durch die EU nur insoweit zugänglich sind, als dies mit der Schaffung von Mindestvorschriften für die Festlegung von Straftaten und Strafen verbunden ist.
- 4. - Der Bundesrat nimmt zur Kenntnis, dass die Kommission bei zukünftigen strafrechtlichen Maßnahmen auch prüfen will, ob eine strafrechtliche Haftung juristischer Personen vorzusehen ist. Er weist darauf hin, dass das Schuldprinzip in Deutschland einer solchen Haftung Grenzen setzt, und dass Unternehmen in Deutschland nach den praktischen Erfahrungen auch ohne strafrechtliche Haftung im engen Sinn effektiv und angemessen sanktioniert werden können. Der Bundesrat bittet die Kommission, bei ihren Vorschlägen in gleicher Weise wie bisher den innerhalb der nationalen Rechtsordnungen bestehenden Schranken einer strafrechtlichen Haftung juristischer Personen Rechnung zu tragen.
- 5. Der Bundesrat begrüßt den in der Mitteilung der Kommission geäußerten Prüfansatz, ob Mindestvorschriften für die Festlegung von Straftatbeständen und Strafen im Bereich der Fischereipolitik eine wirksame grenzübergreifende Umsetzung der EU-Rechtsvorschriften unterstützen würden. Die Kommission führt in ihrer Analyse zur Gemeinsamen Fischereipolitik (GFP) aus, dass derzeitig trotz des umfänglichen Quotensystems u.a. Probleme im Hinblick auf Überfischung und Flottenüberkapazität bestehen; hierzu verweist der Bundesrat auf seine Stellungnahmen zur Reform der Gemeinsamen Fischereipolitik (BR-Drucksachen 410/11(B) vom 23. September 2011 und 386/09(B) vom 27. November 2009). Er sieht in der Erarbeitung von fachspezifischen strafrechtlichen Mindestvorschriften, die bestehende Lücken und Mängel in der Verfolgung von Rechtsverstößen beseitigen und dadurch eine wirksame Durchsetzung des EU-Rechts herbeiführen können, eine Unterstützung der konsequenten Umsetzung der GFP-Maßnahmen im EU-Binnenmeer.
Der Bundesrat bittet, die Ergebnisse der umfassenden Bewertung der bestehenden strafrechtlichen Maßnahmen in der EU und die Schlussfolgerungen seitens der Kommission mitzuteilen.
- 6. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission. B
- 7. Der Ausschuss für Frauen und Jugend, der Ausschuss für Innere Angelegenheiten, der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und der Wirtschaftsausschuss empfehlen dem Bundesrat, von der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG Kenntnis zu nehmen.