Europäische Kommission
Brüssel, den 20.9.2012
C(2012) 6518 final
Herrn Horst Seehofer
Präsident des Bundesrates
Leipziger Straße 3 - 4
D-10117 Berlin
Sehr geehrter Herr Präsident,
die Kommission dankt dem Bundesrat für seine Stellungnahme zu der Mitteilung "Ein Qualitätsrahmen für Dienstleistungen von allgemeinem Interesse in Europa" {KOM (2011) 900 endg.} und möchte ihr Bedauern für die späte Antwort zum Ausdruck bringen.
Die Kommission hat die Position des Bundesrates mit Interesse zur Kenntnis genommen und möchte zu den wichtigsten angesprochenen Punkten folgende Klarstellungen anbringen.
Hinsichtlich der EU-Kompetenz für Dienstleistungen von allgemeinem Interesse geht aus der Mitteilung deutlich hervor, dass dieser Begriff sowohl wirtschaftliche Tätigkeiten als auch nichtwirtschaftliche Leistungen abdeckt. In Einklang mit den von Ihnen vorgetragenen Bedenken steht für uns außer Frage, dass nichtwirtschaftliche Dienste von allgemeinem Interesse weder spezifischen EU-Vorschriften noch den Binnenmarkt-und Wettbewerbsregeln des Vertrags unterliegen. Hinsichtlich bestimmter Aspekte der Organisation dieser Dienstleistungen können andere allgemeine Vorschriften des Vertrags wie etwa das Diskriminierungsverbot jedoch durchaus greifen.
Bezüglich des Rückgriffs auf Artikel 14 AEUV, bei dem der Bundesrat ein Überschreiten der Kompetenzen der EU befürchtet, geht aus der Mitteilung eindeutig hervor, dass bei einer etwaigen Heranziehung dieses Artikels als Rechtsgrundlage die bestehende Vielfalt an Diensten und Situationen innerhalb der EU gewahrt bleibt. In Bezug auf die Qualität der Dienstleistungen von allgemeinem Interesse wird in der Mitteilung anerkannt, dass über Organisation, Bereitstellung und Finanzierung derartiger Dienste in erster Linie die nationalen, regionalen und kommunalen Behörden der Mitgliedstaaten zu entscheiden haben.
Ich darf Ihnen versichern, dass die Kommission die Ermessensbefugnis der Mitgliedstaaten bei der Definition und Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen uneingeschränkt respektiert, ihr im Vertrag aber auch die Kontrolle staatlicher Beihilfen übertragen wird. Daher muss die Kommission dafür Sorge tragen, dass sich Ausgleichszahlungen für öffentliche Dienstleistungen auf das notwendige Maß zur Sicherung dieser Dienstleistungen beschränken.
Die Kommission ist davon überzeugt, dass die jüngsten Reformen in den Bereichen staatliche Beihilfen und öffentliches Beschaffungswesen dazu beitragen werden, die entsprechenden Regelungen klarer, einfacher und wirksamer zu gestalten.
In Bezug auf staatliche Beihilfen sieht das neue Regelpaket für Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse beispielsweise Folgendes vor:
- - Klärung der grundlegenden Konzeptionen. Damit wird einer generellen Forderung der Mitgliedstaaten und anderer Beteiligter entsprochen und mehr Rechtssicherheit sowohl für Behörden als auch die Erbringer einschlägiger Dienstleistungen geschaffen. So haben wir die Begriffe des Unternehmens und der wirtschaftlichen Tätigkeit auf der Grundlage und in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung der Europäischen Gerichte präzisiert.
- - spürbare Vereinfachungen bei der Behandlung von Sozialdiensten, ungeachtet der Höhe der Ausgleichszahlung Da Sozialdiensten eine zentrale Rolle in unserer Gesellschaft zukommt, ist eine sehr strenge Prüfling nicht unbedingt erforderlich. Diese Dienste fallen unter den neuen Beschluss, die Freistellung von der Notifizierungspflicht wird ausgeweitet und es gelten weniger strikte Vereinbarkeitskriterien.
Außerdem verweise ich auf die im April 2012 erlassene De-Minimis-Verordnung für Unternehmen, die Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse erbringen'. Die Verordnung dürfte zur weiteren Vereinfachung beitragen und den Verwaltungsaufwand für kleine Unternehmen, die solche Dienstleistungen erbringen, verringern. Bei diesem stärker abgestuften Ansatz werden jedoch große kommerzielle Unternehmen, die Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse erbringen, einer strengeren Prüfung unterzogen. Der Schwellenwert für jährliche Ausgleichszahlungen wurde mit dem Beschluss von 30 Mio. EUR auf 15 Mio. EUR abgesenkt; folglich dürften der Kommission Fälle notifiziert werden, bei denen es um größere Summen geht, z.B. Ausgleichszahlungen für die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen bei der Wasserversorgung oder im Fernwärmesektor.
Auch bei der Überarbeitung der Richtlinien für das öffentliche Beschaffungswesen wurden erhebliche Anstrengungen unternommen, um die bisherigen Verfahren zu vereinfachen. Daher hat die Kommission insbesondere vorgeschlagen,
- - in verstärktem Maße auf das Verhandlungsverfahren mit vorheriger Ausschreibung zurückzugreifen; - die Verfahren für regionale und kommunale Auftraggeber zu vereinfachen, indem die Bekanntmachung einzelner Aufträge durch die Veröffentlichung einer allgemeinen Bekanntmachung der im kommenden Jahr vorgesehenen Ausschreibungen ersetzt werden kann,
- - den Umfang der beizubringenden Unterlagen zu verringern. Dies wird vor allem durch die zwingende Akzeptanz von Eigenerklärungen erreicht, mit denen der Bieter an Eides statt erklärt, dass er die für die Einreichung eines Angebots vorgegebenen Kriterien erfüllt, z.B. nicht wegen Korruption verurteilt wurde. Nur der Bieter, der den Zuschlag erhält, muss dann die nötigen Nachweise einreichen, um die in der Eigenerklärung gemachten Angaben zu belegen. Darüber hinaus sieht der Vorschlag vor, dass öffentliche Auftraggeber von Wirtschaftsbeteiligten, die in den vergangenen vier Jahren im Rahmen eines früheren Verfahrens Unterlagen eingereicht haben, die weiterhin gültig sind, nicht verlangen dürfen, diese erneut vorzulegen.
- - ehrgeizige Maßnahmen zur elektronischen Auftragsvergabe zu entwickeln, um das Beschaffungswesen innerhalb von zwei Jahren nach der Umsetzungsfrist der erlassenen Richtlinie ganz auf elektronische Kommunikation umzustellen; - die Fristen zu verkürzen,
- - Veröffentlichungspflichten einzuschränken.
Des Weiteren schlägt die Kommission eine Sonderregelung für die Auftragsvergabe in Sozial- und Gesundheitsdiensten vor. Da diese Dienste ebenso wie das Bildungswesen im Allgemeinen eine nur begrenzte grenzüberschreitende Dimension aufweisen, gelangen sie in den Genuss einer besonderen und vereinfachten Regelung. Für sie gilt ein höherer Schwellenwert (500 000 EUR); bei darüber liegenden Beträgen können die Mitgliedstaaten unter Beachtung der Grundsätze von Transparenz und Gleichbehandlung frei bestimmen, welche Verfahrensregeln zur Anwendung gelangen. Zudem sollen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass öffentliche Auftraggeber u.a. alle Qualitäts- und Kontinuitätskriterien einhalten, die für die betreffenden Dienstleistungen als erforderlich betrachtet werden. Somit scheidet der Preis als einziges Vergabekriterium aus.
Die Reform der Vorschriften für das öffentliche Beschaffungswesen trägt sowohl dem Grundsatz der kommunalen und lokalen Selbstverwaltung als auch der besonderen Bedeutung der Dienstleistungen im allgemeinen Interesse, wie in den Verträgen anerkannt, in vollem Umfang Rechnung Tatsächlich sichern die Vorschlage die vorgenannte Autonomie, indem neue, besondere Bestimmungen über die öffentlich-öffentliche Zusammenarbeit aufgenommen werden.
In Abschnitt 3 der Mitteilung über Dienstleistungen von allgemeinem Interesse stellt die Kommission fest, dass sich die Nachfrage nach solchen Dienstleistungen und die Art ihrer Bereitstellung erheblich gewandelt haben. Dies sei nicht nur auf die sich verändernden gesellschaftlichen Erfordernisse und den technologischen Fortschritt zurückzuführen, sondern werde auch durch Deregulierung und Privatisierung vorangetrieben. Was letzteren Aspekt anbelangt, verweist die Kommission den Bundesrat auf eine detaillierte Untersuchung der OECD, die regelmäßig, eine Bestandsaufnahme vornimmt und Analysen zu den Privatisierungsprozessen erstellt2.
Abschließend nimmt die Kommission die Ausführungen des Bundesrates zu einer etwaigen Überarbeitung der Verordnung über öffentliche Dienstleistungen im inländischen Verkehr und zu den Überlegungen über die generelle Vergabe von öffentlichen Dienstleistungsaufträge im Eisenbahnsektor im Wege von Wettbewerbsverfahren zur Kenntnis. Desgleichen hat die Kommission den Standpunkt des Bundesrates zu dem Vorschlag der Kommission über die Vergabe von Konzessionen zur Kenntnis genommen, der zurzeit im Europäischen Parlament und im Rat erörtert wird.
Der Fortsetzung unseres politischen Dialogs sehe ich erwartungsvoll entgegen. Mit freundlichen Grüßen
- 1. Verordnung (EU) Nr. 360/2012 der Kommission vom 25. April 2012 über die Anwendung der Artikel 107 und 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Deminimis-Beihilfen an Unternehmen, die Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse erbringen (Text von Bedeutung für den EWR), ABI. L 114 vom 26.4.2012, S. B.
- 2. Siehe "Privatisations in the 21s' century: summary of recent experiences" - OECD 2010