853. Sitzung des Bundesrates am 19. Dezember 2008
Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union empfiehlt dem Bundesrat, zu der Vorlage wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. Der Bundesrat nimmt den Bericht der Bundesregierung zur Tätigkeit des Europarates im Jahr 2007 zur Kenntnis. Der Bundesrat würdigt den Einsatz des Europarates während seines fast 60-jährigen Bestehens für die Förderung der Menschenrechte, der pluralistischen Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit. Er begrüßt, dass der Europarat einen Schwerpunkt seiner Arbeit auf die Heranführung der neuen Mitgliedstaaten aus Mittel- und Osteuropa an die bestehenden Institutionen und Strukturen gesetzt hat. Durch umfangreiche Beratungs- und Unterstützungsprogramme, die teilweise gemeinsam mit der EU und der OSZE durchgeführt werden, fördert der Europarat den demokratischen Reformprozess und die Angleichung der rechtlichen Standards auch in denjenigen Ländern, die langfristig nicht Mitglied der EU werden können.
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
- 2. Der Bundesrat sieht in der Gewährleistung effizienter Mechanismen zum Schutz der Menschenrechte die vorrangige Aufgabe des Europarates. Von besonderer Bedeutung ist hier die Arbeit des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). Er nimmt zur Kenntnis, dass auch im Berichtszeitraum 2007 ein neuerliches Anwachsen des Rückstandes an unerledigten Beschwerden vor dem EGMR zu verzeichnen ist. Er sieht darin eine ernsthafte Gefahr für die Glaubwürdigkeit des EGMR. Er bedauert, dass es im Berichtszeitraum nicht zum Inkrafttreten des Reformpakets des 14. Zusatzprotokolls zur Entlastung des EGMR gekommen ist, da Russland sich als einziger Europaratsmitgliedstaat wiederholt gegen die Ratifizierung des Protokolls ausgesprochen hat.
- 3. Vor dem Hintergrund, dass mit einem Inkrafttreten des 14. Zusatzprotokolls auch in Zukunft nicht zu rechnen ist, fordert der Bundesrat die Bundesregierung auf, sich für eine Beschleunigung der Beratungen über konkrete kurz- und langfristige Reformen in Struktur, Verfahren und Organisation des EGMR jenseits einer Modifizierung der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) einzusetzen.
- 4. Neben der Steigerung der Effizienz des EGMR sieht der Bundesrat die Verbesserung der europaweiten Umsetzung von Urteilen des EGMR als einen weiteren wichtigen Beitrag zur Entlastung des Gerichtshofs an. Er bedauert, dass in einigen Mitgliedstaaten die Befolgung von Urteilen des EGMR entweder verzögert oder gar nicht erfolgt. Er bittet daher die Bundesregierung, sich im Rahmen des Ministerkomitees, welches für die Überwachung der Umsetzung von EGMR-Urteilen zuständig ist, aktiv für eine zügige Befolgung der Urteile des EGMR in allen Mitgliedstaaten einzusetzen.
- 5. Darüber hinaus kommt nach Auffassung des Bundesrates der Verbesserung des nationalen Menschenrechtsschutzes und der Stärkung des Subsidiaritätsprinzips gerade vor dem Hintergrund des Reformstaus beim EGMR besondere Bedeutung zu. Die vorrangige Verantwortung zum Schutz und zur Durchsetzung der Rechte der EMRK liegt bei den nationalen Rechtsordnungen. Erst nach Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs ist eine Beschwerde beim EGMR zulässig. Der Bundesrat kritisiert in diesem Zusammenhang die derzeitige Praxis in einigen Mitgliedstaaten des Europarates, den EGMR als Ersatz für effektive nationale Rechtsschutzmöglichkeiten zu nutzen. Er bittet die Bundesregierung daher, sich für einen Auf- und Ausbau der nationalen Rechtsschutzsysteme in den besonders betroffenen Mitgliedstaaten einzusetzen. Ziel dieser Bemühungen sollte es sein, die Durchsetzung der Konventionsrechte bereits auf nationaler Ebene sicherzustellen.
- 6. Der Bundesrat sieht im vereinfachten Zugang zu Urteilen des EGMR eine wichtige Voraussetzung für eine verbesserte Rezeption der EGMR-Rechtsprechung in die innerstaatliche Spruchpraxis. Die seit 2004 jährlich vom Bundesjustizministerium erstellten Rechtsprechungsberichte werden vom Bundesrat als einen wichtigen Beitrag ausdrücklich begrüßt, der Rechtsprechung des EGMR zu mehr Aufmerksamkeit zu verhelfen und um einen Rechtsprechungsüberblick über Verfahren vor dem EGMR mit deutschem Bezug zu ermöglichen. Er bittet die Bundesregierung, diesen Bericht in Zukunft um die Darstellung von wichtigen Urteilen und Verfahren vor dem EGMR ohne deutsche Beteiligung zu ergänzen.
Charta der regionalen Demokratie
- 7. Der Bundesrat sieht im föderalen Staatsaufbau ein Modell der Zukunft, das Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und Bürgernähe sichern hilft. Dabei ist es nach seiner Auffassung im Zeitalter der zunehmenden Globalisierung wichtig, die Prozesse zu Regionalisierung und Dezentralisierung zu stärken. Erst eine Institutionalisierung der regionalen Ebene vermag den Erfahrungs- und Wissensschatz ihrer Gesetzgebungs- und Vollzugsorgane voll nutzbar zu machen. Angesichts der unterschiedlichen Ausprägungen der von den Mitgliedstaaten des Europarates ihren Regionen gewährten Eigenständigkeit kann es nach Auffassung des Bundesrates hier keinesfalls um eine Kategorisierung und Klassifizierung von Regionen gehen. Dies würde der Vielfalt und dem Pluralismus, der Europa auszeichnet, nicht gerecht werden. Vielmehr müssen die historisch gewachsenen und in den Verfassungen der Mitgliedstaaten verankerten Strukturen sowie die jeweilige politische Kultur der Staaten insgesamt angemessen berücksichtigt werden.
- 8. Der Bundesrat hebt in diesem Zusammenhang den Beitrag der aktuellen Arbeiten des Kongresses der Gemeinden und Regionen des Europarates (KGRE) zur Identifizierung grundlegender Themen hervor, die regionalisierungswilligen Staaten als Referenzpunkte dienen können. Der vom KGRE auf seiner 15. Plenartagung am 28. Mai 2008 beschlossene Entwurf für eine Europäische Charta der regionalen Demokratie wird vom Bundesrat als wichtiger Impuls angesehen, den seit mehreren Jahren andauernden Beratungen über Form und Inhalt einer Positionierung des Europarates zu Fragen des Regionalismus neuen Schwung zu verleihen.
- 9. Der Bundesrat begrüßt, dass der Chartaentwurf im Wesentlichen die relevanten Themenfelder für regionalisierungswillige Staaten, wie sie bereits vom Bundesrat mit Beschluss vom 12. Oktober 2007 (BR-Drucksache 426/07 (PDF) ) identifiziert wurden, aufgreift. Er bedauert allerdings, dass der Fragenkomplex über eine effektive Zuordnung und Wahrnehmung von Verantwortung bei der Entscheidungsfindung auf regionaler Ebene nicht Eingang in das Abschlussdokument gefunden hat. Darüber hinaus sind die getroffenen Festlegungen, wie beispielsweise in Bezug auf die Finanzausstattung der Regionen einschließlich der Frage nach eigenen Einnahmen der regionalen Gebietskörperschaften, hinsichtlich ihrer konkreten Ausgestaltung noch zu erörtern.
- 10. Der Bundesrat nimmt zur Kenntnis, dass weiterhin eine große Anzahl von Mitgliedstaaten des Europarates eine völkerrechtlich verbindliche Charta zu Fragen des Regionalismus nicht unterstützt. Er ist daher der Auffassung, dass nach mehr als zehn Jahren der inhaltlichen Diskussion eine pragmatische und zeitnahe Antwort auf die Initiative zur Stärkung des Regionalismus gefunden werden sollte. Diese sollte sowohl die bisherigen Arbeitsergebnisse des Kongresses angemessen würdigen als auch den politischen Realitäten Rechnung tragen. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung daher auf, - zunächst jenseits der Frage der Rechtsverbindlichkeit - sich für einen positiven förmlichen Beschluss des Ministerkomitees zur Frage der Stärkung der regionalen Demokratie im Rahmen des Europarates einzusetzen, und dabei ausdrücklich die inhaltliche Arbeit des KGRE als Orientierungshilfe für regionalisierungswillige Mitgliedstaaten anzuerkennen.
- 11. Der Bundesrat misst in diesem Zusammenhang dem von den europäischen Ministern für kommunale und regionale Verwaltung auf ihrer Tagung in Valencia vom 15./16. Oktober 2007 in Auftrag gegebenen Bericht über Möglichkeiten und Wege, die Arbeit des Europarates zu Fragen der regionalen und lokalen Demokratie zu verbessern, große Bedeutung bei. Er begrüßt dabei die Bestrebungen auf nationaler und zwischenstaatlicher Ebene, die Zusammenarbeit zwischen dem KGRE und dem zuständigen Lenkungssausschuss für lokale und regionale Demokratie (CDLR) zu vertiefen. Er sieht in der verbesserten Abstimmung der jeweiligen Aktivitäten beider Organe unter Wahrung ihrer formalen Selbständigkeit einen wichtigen Beitrag, administrative und bürokratische Kosten zu reduzieren und die Effizienz der Europaratsarbeit insgesamt zu erhöhen. Im nationalen Kontext kommt nach Auffassung des Bundesrates dem Vertreter der Länder in der deutschen Delegation im CDLR eine Brückenfunktion für einen verbesserten Austausch zwischen Bundesregierung und Ländern zu.
- 12. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung rechtzeitig vor der kommenden Konferenz der Kommunal- und Regionalminister der Mitgliedstaaten des Europarates 2009 in den Niederlanden um Information und Bewertung der Maßnahmen zur Stärkung der lokalen und regionalen Demokratie im Rahmen des Europarates.