Punkt 63 der 891. Sitzung des Bundesrats am 16. Dezember 2011
Der Bundesrat möge zu der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG ergänzend wie folgt Stellung nehmen:
- 1. Die EU erlebt derzeit die schwerste Krise seit ihrer Gründung. Das unzureichende europäische Krisenmanagement und das Gebahren der Finanzmärkte haben zu einer Vertrauenskrise geführt, die nun alle Mitgliedstaaten und die EU als Ganzes betrifft. Die bislang ergriffenen Maßnahmen haben die Märkte jeweils nur zeitweise beruhigen können. Die Bürgerinnen und Bürger sind stark verunsichert, nicht zuletzt, weil die politischen Maßnahmen aufgrund ihrer Komplexität kaum nachvollziehbar sind und nicht ausreichend in den parlamentarischen Gremien behandelt werden konnten. Um diese Vertrauenskrise zu überwinden und die EU zu einer Vertrauensunion zu entwickeln, sind Maßnahmen erforderlich, die über kurzfristige Reaktionen hinausgehen und nachhaltige Lösungen bieten.
- 2. Der Bundesrat begrüßt, dass die Bundesregierung vor dem Europäischen Rat Konstruktionsdefizite der Wirtschafts- und Währungsunion benannt und zur Behebung von Mängeln eine Vertragsänderung vorgeschlagen hat. Er bedauert, dass es vor allem aufgrund der Haltung Großbritanniens nicht gelungen ist, alle Mitgliedstaaten für die notwendigen Maßnahmen zu gewinnen und es nun außerhalb der europäischen Verträge lediglich zu einem zwischenstaatlichen Vertrag kommt. Der Bundesrat hält es gleichwohl für richtig, dass nun ein Großteil der Mitgliedstaaten in dieser Situation vorausgeht. Er fordert jedoch die Bundesregierung auf, gemeinsam mit den anderen Staats- und Regierungschefs alles Erforderliche dafür zu tun, auch die bislang nicht teilnehmenden Staaten zu gewinnen und zu einer Änderung der EU-Verträge zu kommen.
- 3. Der Bundesrat begrüßt, dass der Europäische Rat am 8. und 9. Dezember 2011 einen neuen "fiskalpolitischen Pakt" beschlossen hat. Er unterstreicht jedoch, dass die gegenwärtige Krise der EU nicht lediglich durch eine Verschärfung der bestehenden Stabilitätskriterien und ihrer Sanktionsmechanismen bewältigt werden kann. Eine Vertiefung der fiskalpolitischen Integration muss auch zu konkreten Verbesserungen bei der Koordinierung der Steuerpolitiken und zur Sicherung von Steuererträgen führen. Der Bundesrat spricht sich für die Schaffung einer einheitlichen Steuerbemessungsgrundlage und Mindestbesteuerungssätze für Unternehmen in Europa aus.
- 4. Neben einer gemeinsamen Haushalts- und Fiskalpolitik braucht die EU zudem eine gemeinsame Wirtschaftspolitik.
- 5. Der Bundesrat unterstützt im Übrigen grundsätzlich die Festlegung des Europäischen Rats zur Stabilisierung der Eurozone. Hierzu gehört etwa, dass sich die an der Einigung beteiligten Mitgliedstaaten dazu verpflichten, auf Verfassungs- oder vergleichbarer Ebene eine nationale Schuldenbremse einzuführen. Diese muss allerdings so ausgestaltet sein, dass die Mitgliedstaaten die erforderlichen Wachstumsimpulse setzen können. Ebenso bewertet es der Bundesrat positiv, dass sich die Staats- und Regierungschefs auf quasiautomatische Konsequenzen geeinigt haben.
- 6. Der Bundesrat hält es für sachgerecht, dass der dauerhafte im EU-Vertrag verankerte Euro-Rettungsschirm (ESM) bereits im Juli 2012 in Kraft treten soll und nach einer Übergangszeit den befristeten Rettungsschirm (EFSF) ablöst. Der Bundesrat fordert, dass die Bundesregierung den Bundesrat nun sehr zügig entsprechend den in Artikel 23 GG geregelten Mitwirkungsrechten im weiteren Verfahren beteiligt.
- 7. Der Bundesrat bedauert, dass die Beschlüsse des Europäischen Rates nunmehr dazu führen, dass in der EU künftig noch mehr Instrumente, Verträge und Vereinbarungen nebeneinander bestehen, die zur Stabilisierung des Euro und zur stärkeren Koordinierung der Finanz- und Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten beitragen sollen. Hierzu gehören insbesondere die EFSF, der ESM, die EU-Verträge, der reformierte Stabilitäts- und Wachstumspakt, der neu zu schließende zwischenstaatliche Vertrag, der Euro-Plus-Pakt und das Europäische Semester. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass diese Vielzahl von Maßnahmen die Transparenz und Nachvollziehbarkeit schwächt und dieses Nebeneinander von unterschiedlichen Regelungen keine dauerhafte Lösung sein kann.
- 8. Der Bundesrat betont, dass die auf dem Europäischen Rat beschlossenen zwischenstaatlichen Maßnahmen mit voraussichtlich 26 Mitgliedstaaten den gleichen Mechanismen unterliegen müssen, wie Maßnahmen, die im Rahmen der Änderung der EU-Verträge erfolgen. Insbesondere halten die Länder eine Beteiligung an den Verhandlungen gemäß den Vorschriften über die Regierungskonferenzen genauso für erforderlich wie die Mitwirkung an den einzelnen Maßnahmen aus diesem Vertrag gemäß Artikel 23 GG.
Der Bundesrat ist der Auffassung, dass es für die Beteiligung und Mitgestaltungsrechte des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente keinen Unterschied machen kann, ob Maßnahmen im Rahmen des EUV mit 27 Mitgliedstaaten erfolgen oder auf intergouvernementalem Weg mit voraussichtlich 26 Mitgliedstaaten. Für Deutschland sind die Auswirkungen identisch.
- 9. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass kurzfristige Hilfsangebote wie die der EFSF zwar aufgrund der Krisensituation erforderlich waren, aber nicht ausreichend zu einer dauerhaften Lösung der Schuldenprobleme beigetragen haben. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass ergänzend ein umfassenderer Ansatz erforderlich ist, der nicht nur die Refinanzierung und den aktuellen Schuldenstand der Mitgliedstaaten im Fokus hat, sondern auch gewährleistet, dass Altschulden dauerhaft abgetragen werden. Er ist der Ansicht, dass der Vorschlag des Sachverständigenrats, einen Schuldentilgungspakt für die Eurozone einzuführen, hierfür gute Ansätze liefert und vertieft geprüft werden sollte.
- 10. Die EU verbindet wirtschaftlichen Erfolg mit Nachhaltigkeit und sozialer Verantwortung. Damit dieses einzigartige Modell weiter erfolgreich bestehen kann, müssen Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und Investitionen in Europa gefördert werden. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass für die Steigerung von qualitativem Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit in den überschuldeten Mitgliedstaaten der Eurozone nicht nur Sparprogramme und Schuldenbremsen, sondern auch kluge Wachstumsimpulse erforderlich sind, die dazu beitragen, dass diese Mitgliedstaaten die Reformprogramme überhaupt erfolgreich durchhalten und durchführen können. Erforderlich ist ein nachhaltig wirksames Wachstums- und Investitionsprogramm, das sich an den zentralen Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte orientiert. Sinnvolle Reformmaßnahmen lassen sich nur durchsetzen, wenn Lasten fair verteilt werden und die Reformpolitik auch sozialen Zusammenhalt fördert. Die Proteste in den Programmstaaten sowie Italien und Spanien sind ein deutliches Warnsignal.
- 11. Angesichts der Schlüsselrolle der Finanzmärkte für die Verschärfung der Krise fordert der Bundesrat die Bundesregierung auf, sich weiterhin für eine effektive Finanzmarktregulierung auf europäischer Ebene einzusetzen. Insbesondere muss die Einführung einer Finanztransaktionsteuer mit Nachdruck verfolgt werden. Wenn dies nicht mit allen Mitgliedstaaten gelingt, muss eine Mehrheit vorausgehen. Auch die Regulierung der einzelnen Finanzprodukte, insbesondere hochspekulativer Produkte, wie Derivate, muss zügig abgeschlossen werden. Der Bundesrat ist weiter der Ansicht, dass eine effektivere staatliche Aufsicht über die privatwirtschaftlich organisierten Ratingagenturen erfolgen muss. Der Bundesrat kritisiert insbesondere die institutionelle Implementierung von Ratings in gesetzliche Rahmenwerke, die zu quasiautomatischen Folgen der Bewertungen durch Ratingagenturen für Investitionsentscheidungen führt. Langfristig ist auch die Einrichtung unabhängiger europäischer Ratingagenturen in Betracht zu ziehen.