Verordnung der Bundesregierung
Zweite Verordnung zur Änderung der Berufskrankheiten-Verordnung

A. Problem und Ziel

B. Lösung

C. Alternativen

Keine.

D. Finanzielle Auswirkungen auf die öffentlichen Haushalte

Vollzugsaufwand

E. Sonstige Kosten

F. Bürokratiekosten

Verordnung der Bundesregierung
Zweite Verordnung zur Änderung der Berufskrankheiten-Verordnung

Bundesrepublik Deutschland Berlin, den 18. März 2009
Die Bundeskanzlerin

An den
Präsidenten des Bundesrates
Herrn Ministerpräsidenten
Peter Müller

Sehr geehrter Herr Präsident,

hiermit übersende ich die von der Bundesregierung beschlossene


mit Begründung und Vorblatt.
Ich bitte, die Zustimmung des Bundesrates aufgrund des Artikels 80 Absatz 2 des Grundgesetzes herbeizuführen.
Federführend ist das Bundesministerium für Arbeit und Soziales.
Die Stellungnahme des Nationalen Normenkontrollrates gemäß § 6 Abs. 1 NKRG ist als Anlage beigefügt.


Mit freundlichen Grüßen
Dr. Angela Merkel

Zweite Verordnung zur Änderung der Berufskrankheiten-Verordnung

Vom ...

Auf Grund des § 9 Absatz 1 Satz 1 und 2 und Absatz 6 Nummer 3 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversicherung - (Artikel 1 des Gesetzes vom 7. August 1996, BGBl. I S. 1254) verordnet die Bundesregierung:

Artikel 1
Änderung der Berufskrankheiten-Verordnung

Die Berufskrankheiten-Verordnung vom 31. Oktober 1997 (BGBl. I S. 2623), die zuletzt durch Artikel 1 der Verordnung vom 5. September 2002 (BGBl. I S. 3541) geändert worden ist, wird wie folgt geändert:

Artikel 2
Inkrafttreten

Diese Verordnung tritt am [Einsetzen: Datum des ersten Tages des auf die Verkündung folgenden Kalendermonats] in Kraft.


Der Bundesrat hat zugestimmt.
Berlin, den ... 2009

Begründung

A. Allgemeiner Teil

1. Zielsetzung und wesentlicher Inhalt der Verordnung

§ 9 Absatz 1 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) ermächtigt die Bundesregierung, durch Rechtsverordnung solche Erkrankungen als Berufskrankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind. Die Verordnung bedarf der Zustimmung des Bundesrates.

Mit der vorliegenden Verordnung werden in der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung fünf Krankheiten neu bezeichnet bzw. neu aufgenommen. Damit trägt die Bundesregierung dem wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt Rechnung. Die Änderungen beruhen auf Empfehlungen des Ärztlichen Sachverständigenbeirats "Berufskrankheiten" beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales, die einschließlich der wissenschaftlichen Begründungen jeweils veröffentlicht worden sind. Hinsichtlich der Berufskrankheit Nummer 2112 (Gonarthrose) kommt der Verordnungsgeber außerdem einem Votum des Deutschen Bundestages aufgrund eines Petitionsverfahrens nach.

Im Einzelnen handelt es sich um

Mit Aufnahme in die Anlage 1 zur Verordnung steht rechtlich fest, dass die betreffenden Einwirkungen generell geeignet sind, die bezeichneten Erkrankungen zu verursachen. Für die Anerkennung als Berufskrankheit im Einzelfall bedarf es zusätzlich der Feststellungen über die individuellen Ursachenzusammenhänge, das heißt die Erkrankung der Versicherten durch die schädigende Einwirkung muss auf ihre konkrete Tätigkeit zurückzuführen sein.

Außerdem wird für die Berufskrankheit Nummer 4111 "Bergmannsbronchitis" die rückwirkende Anerkennung zugelassen, auch wenn die Erkrankung vor dem bisher festgesetzten Stichtag 1. Januar 1993 eingetreten ist.

2. Finanzielle Auswirkungen auf die öffentlichen Haushalte, Kosten für die Wirtschaftsunternehmen und Auswirkungen auf die Preise

Die in die Anlage 1 zur Verordnung neu eingefügten Berufskrankheiten führen bei den Unfallversicherungsträgern nicht zu neuen Leistungspflichten. Denn diese Krankheiten sind aufgrund der veröffentlichten wissenschaftlichen Empfehlungen des Ärztlichen Sachverständigenbeirats bereits jetzt nach § 9 Absatz 2 SGB VII wie eine Berufskrankheit zu entschädigen. Die rechtsförmliche Aufnahme der Erkrankungen in die Verordnung schreibt die Entschädigungspflicht lediglich fest.

Durch die Änderung der Berufskrankheitenliste entstehen daher Bund, Ländern und Gemeinden keine Mehrkosten. Bei den in die Anlage 1 neu eingefügten Berufskrankheiten handelt es sich im Übrigen um Erkrankungen, die ganz überwiegend im Bereich der gewerblichen Unfallversicherung zu entschädigen sind.

Aus den genannten Gründen führt die Verordnung auch nicht zu einer nennenswerten Mehrbelastung der Unternehmen. Die zu erwartenden Fallzahlen der neuen Berufskrankheiten Nummer 1318, 4113, 4114 und 4115 sind sehr gering. Wie sich aus den statistischen Angaben der Spitzenverbände der gesetzlichen Unfallversicherung ergibt, liegt die jährliche Zahl der Anerkennungen auf Basis der wissenschaftlichen Empfehlungen des Ärztlichen Sachverständigenbeirats bisher jeweils im einstelligen Bereich. Wegen der spezifischen Voraussetzungen dieser Berufskrankheiten ist auch nicht zu erwarten, dass sich diese Zahlen künftig nennenswert erhöhen werden. Bei der Berufskrankheit Nummer 2112 (Gonarthrose) sind bisher ebenfalls nur wenige Anerkennungen durch die Unfallversicherungsträger erfolgt. Die Aufnahme der Krankheit in die Verordnung und die damit verbundene Rechtsklarheit über die Voraussetzungen wird zwar zu einer Erhöhung der Fallzahlen führen. Nach Schätzungen des hauptsächlich betroffenen Gewerbezweigs der Bauwirtschaft werden dort jährliche Mehrkosten in Höhe von rund 10 Millionen Euro entstehen. Diese Summe liegt aber unter ein Prozent der jährlichen Leistungsaufwendungen der Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft in Höhe von rund 1,4 Milliarden Euro.

Die Erweiterung der rückwirkenden Anerkennung bei der Berufskrankheit Nummer 4111 "Bergmannsbronchitis" erstreckt sich auf einen kleinen Personenkreis, der bisher aufgrund der Stichtagsregelung nicht entschädigt worden ist. Aufgrund der Fallzahlen ist mit rund 800 Leistungsfällen mit einem Gesamtleistungsvolumen von circa 30 Millionen Euro zu rechnen.

Im Hinblick auf die jährlichen Gesamtaufwendungen der gewerblichen Berufsgenossenschaften in Höhe von rund 11,5 Milliarden Euro fallen damit die zu erwartenden Mehrkosten durch die Verordnung nicht ins Gewicht.

Die Verordnung hat aus den dargestellten Gründen keine Auswirkungen auf Einzelpreise und das Preisniveau, insbesondere auf das Verbraucherpreisniveau.

3. Auswirkungen von gleichstellungspolitischer Bedeutung

Die Erweiterung der Berufskrankheitenliste schafft die Rechtsgrundlage für Leistungsansprüche gegen die gesetzliche Unfallversicherung für Frauen und Männer in gleichem Maße. Gleichstellungspolitische Aspekte sind durch die Verordnung deshalb nicht berührt.

4. Bürokratiekosten

a) Bürokratiekosten der Wirtschaft und der Verwaltung

Für Unternehmen und die Verwaltung werden keine Informationspflichten neu eingeführt, geändert oder aufgehoben. Bei den bestehenden Anzeige- und Meldepflichten erhöhen sich die Fallzahlen durch die neuen Berufskrankheiten geringfügig.

Bereits nach geltendem Recht führen die Unfallversicherungsträger gemäß § 9 Absatz 2 SGB VII Verwaltungsverfahren über die Entschädigung der fünf neu bezeichneten bzw. neu aufgenommenen Berufskrankheiten durch. Wissenschaftliche Grundlage sind die veröffentlichten Empfehlungen des Ärztlichen Sachverständigenbeirats. Nach den Statistiken der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung e.V. sind zu vier der fünf neuen Berufskrankheiten (Ausnahme Berufskrankheit Nummer 2112 - Gonarthrose) jährlich durchschnittlich Meldungen im einstelligen bis niedrigen zweistelligen Bereich eingegangen. Wegen der spezifischen Voraussetzungen dieser Berufskrankheiten ist auch nicht zu erwarten, dass sich diese Zahlen aufgrund der rechtsförmlichen Aufnahme in die Verordnung künftig nennenswert erhöhen. Bei der Gonarthrose ist eine Erhöhung der Fallzahlen zu erwarten. Bei der hiervon vor allem betroffenen Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft waren seit Veröffentlichung der wissenschaftlichen Empfehlung im Jahr 2005 jährlich 300 bis 400 Meldungen zu verzeichnen. Für Meldungen aus anderen Wirtschaftsbereichen können keine konkreten Aussagen getroffen werden.

Der überwiegende Teil der Verdachtsmeldungen auf das Vorliegen einer Berufskrankheit wird von Ärztinnen und Ärzten erstattet. Das Statistische Bundesamt hat für die einzelne Meldung Bürokratiekosten in Höhe von 21,50 Euro ermittelt. Damit steigt die Gesamtbelastung der bereits bestehenden Informationspflichten in nur geringem Umfang. Im Übrigen erhalten die Ärztinnen und Ärzte für die Verdachtsanzeige eine Vergütung, wenn sie ihrer Meldepflicht nachkommen.

Durch die Erweiterung der rückwirkenden Anerkennung bei der Berufskrankheit Nummer 4111 "Bergmannsbronchitis" werden für die Unternehmen keine Informationspflichten neu eingeführt, geändert oder aufgehoben, da die bisher abgelehnten Fälle durch den zuständigen Unfallversicherungsträger von Amts wegen wieder aufgegriffen werden.

b) Bürokratiekosten für Bürgerinnen und Bürger

Für Bürgerinnen und Bürger wird in § 6 Absatz 1 eine neue Informationspflicht eingeführt. Grundsätzlich werden die Anerkennungsverfahren über Berufskrankheiten von Amts wegen durchgeführt; es bedarf keines Antrages der Versicherten. Die neue Informationspflicht beschränkt sich auf die wenigen Einzelfälle, in denen die Anerkennung einer der neu bezeichneten bzw. neu aufgenommenen Berufskrankheiten in der Vergangenheit bestandskräftig abgelehnt worden ist. Nur in diesen Fällen ist ein Antrag der Betroffenen erforderlich. Hinsichtlich der Fallzahlen wird auf die Ausführungen zu Buchstabe a verwiesen. Darüber hinaus beschränkt sich der formlose Antrag inhaltlich auf eine bloße Wiederaufnahme des Verwaltungsverfahrens und ist damit für die Bürgerinnen und Bürger nur mit geringem Aufwand verbunden.

Durch die Erweiterung der rückwirkenden Anerkennung bei der Berufskrankheit Nummer 4111 "Bergmannsbronchitis" werden für die Bürgerinnen und Bürger keine Informationspflichten neu eingeführt, geändert oder aufgehoben, da die bisher abgelehnten Fälle durch den zuständigen Unfallversicherungsträger von Amts wegen wieder aufgegriffen werden.

B. Besonderer Teil

Zu Artikel 1 (Berufskrankheiten-Verordnung)

Zu Nummer 1 (§ 1)

Folgeänderung zur neuen Bezeichnung der bisherigen Anlage (siehe Nummer 3 Buchstabe a).

Zu Nummer 2 (§ 6)

Zu Buchstabe a

Die Vorschrift regelt die rückwirkende Anerkennung der Krankheiten, die erstmals durch diese Änderungs-Verordnung in die Anlage 1 eingefügt oder neu bezeichnet werden. Sie entspricht in ihrer Konzeption und Ausgestaltung vergleichbaren Regelungen in den früheren Änderungsverordnungen zur Einführung neuer Berufskrankheiten. Die neuen Berufskrankheiten sind auch dann anzuerkennen, wenn der Versicherungsfall in der Vergangenheit eingetreten ist. Dies gilt auch, wenn sie bereits durch bindende Bescheide oder rechtskräftige Entscheidungen der Unfallversicherungsträger oder der Sozialgerichte abgelehnt worden sind - vergleiche den bisherigen Absatz 5 der Vorschrift; um einen übermäßigen Verwaltungsaufwand in solchen Fällen zu vermeiden, sind die Anerkennungen im Einzelfall von einem Antrag abhängig.

Für die rückwirkende Anerkennung ist wie bisher grundsätzlich auf den Zeitpunkt abzustellen, an dem die letzte Änderungsverordnung erlassen worden ist, mit der neue Berufskrankheiten in die Verordnung aufgenommen worden sind. Diese Ausgestaltung ist sowohl vom Bundesverfassungsgericht (zuletzt BVerfG Beschluss vom 30.03.2007 - 1 BvR 3144/06 m. w. N.) als auch vom Bundessozialgericht (zuletzt BSG Urteil vom 27.06.2006 - B 2 U 5/05 R m. w. N.) mehrfach bestätigt worden. Zwischen den Krankheiten ist hinsichtlich der rückwirkenden Anerkennung zu differenzieren:

Zu Buchstabe b

Folgeänderung zu Buchstabe a.

Zu Buchstabe c

Folgeänderung zur neuen Bezeichnung der bisherigen Anlage (siehe Nummer 3 Buchstabe a).

Zu Buchstabe d

Die Berufskrankheit Nummer 4111 "Chronische obstruktive Bronchitis oder Emphysem von Bergleuten unter Tage im Steinkohlebergbau bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Feinstaubdosis von in der Regel 100 Feinstaubjahren [(mg/m3) x Jahre]" ist im Rahmen der Neukodifikation der Berufskrankheiten-Verordnung im Jahr 1997 in die Berufskrankheitenliste aufgenommen worden. Entsprechend der Konzeption und Ausgestaltung in den früheren Verordnungen zur Einführung neuer Berufskrankheiten wurde die rückwirkende Anerkennung bereits eingetretener Erkrankungsfälle auf den Zeitraum bis zum Inkrafttreten der letzten vorhergehenden Änderungsverordnung am 1. Januar 1993 beschränkt. Durch die Anfügung des neuen Satzes 2 sind auch davor liegende Erkrankungsfälle als Berufskrankheit anzuerkennen, wenn sie einem Unfallversicherungsträger bis zum 31. Dezember 2009 bekannt geworden sind.

Die zeitliche Begrenzung der rückwirkenden Anerkennung bereits bestehender Erkrankungsfälle ist bei dieser Berufskrankheit nicht sachgerecht. Die arbeitstechnischen Voraussetzungen in Gestalt der kumulativen Feinstaubdosis können nur von Versicherten erfüllt werden, bei denen die hauptsächliche bergmännische Tätigkeit und damit die schädigende Einwirkung bereits Jahrzehnte vor der Aufnahme der Erkrankung in die Berufskrankheitenliste lag. Im Gegensatz zu anderen Berufskrankheiten setzte sich die potentielle Gefährdung der Versicherten danach nicht mehr fort. Aufgrund der sich ständig verbessernden Belüftungsverhältnisse im Steinkohlenbergbau konnte die Feinstaubkonzentration so weit abgesenkt werden, dass die für eine Anerkennung als Berufskrankheit erforderliche Staubdosis nicht mehr erreicht werden konnte. Die Berufskrankheit Nummer 4111 wirkte daher bereits bei ihrem Inkrafttreten faktisch ausschließlich in die Vergangenheit und hat deshalb Ausnahmecharakter.

Dies haben auch die seit Veröffentlichung der wissenschaftlichen Empfehlung des Ärztlichen Sachverständigenbeirats im Jahr 1995 und dem Inkrafttreten der Verordnung 1997 durchgeführten Feststellungsverfahren der zuständigen Bergbau-Berufsgenossenschaft gezeigt. In mehreren tausend Fällen, in denen die materiellrechtlichen Voraussetzungen vorlagen, konnte eine Anerkennung als Berufskrankheit aufgrund der eingeschränkten Rückwirkungsregelung nicht erfolgen. Demgegenüber geht die Zahl der anerkannten neuen Erkrankungsfälle seit Jahren stetig zurück, da die erforderliche Staubdosis in der Regel nicht mehr erreicht wird.

Zu Buchstabe e

Folgeänderung zu Buchstabe a.

Zu Nummer 3 (Anlage 1)

Zu Buchstabe a

Die Änderung der Überschrift der Anlage wird durch die Anfügung der weiteren Anlage erforderlich.

Zu Buchstabe b

Unter der Nummer 1318 wird in der Anlage 1 zur Verordnung die Berufskrankheit "Erkrankungen des Blutes, des blutbildenden und des lymphatischen Systems durch Benzol" definiert. Es handelt sich hierbei nicht um eine neue Berufskrankheit, sondern es werden die Erkrankungen des hämolymphatischen Systems aus der bisherigen Berufskrankheit Nummer 1303 herausgenommen und als "lex specialis" in einer eigenständigen Berufskrankheiten-Nummer bezeichnet.

Hierdurch werden drei Ziele erreicht:

Benzol ist generell geeignet, alle malignen hämolymphatischen Systemerkrankungen, deren Zellreihen sich von der omnipotenten Stammzelle im Knochenmark ableiten, einschließlich der NHL zu verursachen. Dies basiert auf toxikologischen, tierexperimentellen und epidemiologischen Erkenntnissen.

Benzol hat eine toxische Wirkung auf die Bildung aller Blutzellen, also der roten Blutkörperchen (Erythrozyten), weißen Blutkörperchen (Leukozyten) und Blutplättchen (Thrombozyten), so dass daraus verminderte Zellzahlen im Blut resultieren (u. a. Anämie, Leukopenie). Diese toxische Wirkung ist im Knochenmark lokalisiert, wo die verschiedenen Zellreihen aus gemeinsamen Stammzellen gebildet werden; daher wird die Wirkung von Benzol als Knochenmarksdepression bezeichnet. Die Knochenmarksdepression durch Benzol ist seit dem späten 19. Jahrhundert bekannt und war Grundlage der bereits in der ersten Berufskrankheiten-Verordnung aus dem Jahr 1925 als Berufskrankheit definierten "Erkrankungen durch Benzol oder seine Homologe". Sie ist seitdem unumstritten.

Seit den frühen 1970er Jahren ist die krebserzeugende Wirkung von Benzol beim Menschen gesichert. Dementsprechend ist Benzol von der Internationalen Agentur für Krebsforschung der Weltgesundheitsorganisation (WHO), der Deutschen Forschungsgemeinschaft und allen maßgeblichen nationalen und internationalen Regulationsbehörden als humankanzerogen eingestuft. Diese Einstufung beruht in erster Linie auf dem epidemiologischen Nachweis der Verursachung von Leukämien, insbesondere der akuten myeloischen Leukämie. Diese Erkenntnis gilt nach allgemeinem Konsens auch für deren Frühstadien aplastische Anämie und myelodysplastische Syndrome, die in vielen epidemiologischen Studien mit der akuten myeloischen Leukämie zu einer Entität zusammengefasst wurden.

Die Verursachung der toxischen Knochenmarksdepression, der aplastischen Anämie, der myelodysplastischen Syndrome und der akuten Leukämie durch Benzol ist seit Jahrzehnten wissenschaftlich unumstritten. Bis vor einigen Jahren herrschte auch darüber Konsens, dass Benzol infolge seines Schädigungsmusters allgemein alle malignen hämolymphatischen Systemerkrankungen, deren Zellreihen sich von der omnipotenten Stammzelle im Knochenmark ableiten, verursachen kann. Im Jahr 2001 wurden an dieser Auffassung im Hinblick auf periphere NHL in der deutschsprachigen arbeitsmedizinischen Literatur Zweifel geäußert. Mit der neu bezeichneten Berufskrankheit Nummer 1318 werden diese Zweifel ausgeräumt.

In einer Reihe epidemiologischer Studien, die eine Risikoverdoppelung für akute myeloische Leukämien oder akute nichtlymphatische Leukämien zeichneten, wurde ein deutlicher Zusammenhang mit einem mindestens doppelt erhöhten Erkrankungsrisiko auch für NHL festgestellt. Kohortenstudien, in denen eine solche Risikoerhöhung nicht festgestellt wurde, sind zur Beurteilung der NHL ungeeignet, da eine unzureichende Benzolexposition der untersuchten Personengruppe wahrscheinlich war. Dies beruht auf folgenden Erkenntnissen:

Die Auswertung epidemiologischer Studien über die Verursachung von Leukämien und NHL unterliegt besonderen Schwierigkeiten, die die Aussagekraft der Studien limitieren. Es handelt sich um (im Vergleich etwa zum Lungenkrebs) sehr seltene Erkrankungen, so dass die Studienkollektive eine große Personenzahl umfassen müssen. Dabei besteht die Gefahr, dass zur Erreichung der erforderlichen Studiengröße Personen einbezogen werden, die nur geringen Benzolkonzentrationen ausgesetzt waren. Hinzu kommt eine unzureichende Expositionsermittlung, zumal Benzol meist nicht als Reinsubstanz, sondern in Gemischen oder als Verunreinigung (z.B. im Benzin) vorliegt. Die Vergleichbarkeit epidemiologischer Studien aus verschiedenen Ländern und Jahrzehnten wird durch die Uneinheitlichkeit der Klassifikation bzw. Nomenklatur der einzelnen hämolymphatischen Erkrankungen erschwert, die zudem in den letzten Jahrzehnten mehrfach geändert wurde. Zum Beispiel zählt die chronische lymphatische Leukämie nach der in der Epidemiologie präferierten ICD-Nomenklatur zu den Leukämien, während sie nach der in der klinischen Wissenschaft (Hämatologie und Onkologie) in den letzten Jahren favorisierten WHO-Nomenklatur zu den NHL gerechnet wird. Schließlich muss auch berücksichtigt werden, dass es sich bei den meisten Kohortenstudien über Benzol um Mortalitätsstudien handelt, in denen NHL mit jahre- oder jahrzehntelangen Überlebenszeiten im Vergleich zu den fast immer rasch zum Tode führenden akuten Leukämien untererfasst werden.

Die toxikologischen und epidemiologischen Erkenntnisse werden weiter dadurch untermauert, dass Benzol in tierexperimentellen Untersuchungen vorwiegend lymphatische Tumoren verursacht hat und dass in einigen Studien in den Lymphozyten benzolexponierter Arbeiter cytogenetische Veränderungen (Chromosomenanomalien usw.) registriert wurden.

Hinsichtlich der "bestimmten Personengruppe", die durch ihre Arbeit in erheblich höherem Maße als die übrige Bevölkerung einer gefährdenden Benzoleinwirkung im Sinn dieser Berufskrankheit ausgesetzt ist, ist zu differenzieren. Abschneidekriterien in Form einer festen Dosis-Wirkungs-Beziehung können für die verschiedenen Formen maligner Erkrankungen des hämolymphatischen Systems aus den epidemiologischen Studien nicht abgeleitet werden. Für die Begutachtung und Anerkennung im Einzelfall kann aufgrund der epidemiologischen Erkenntnisse aber auf Orientierungswerte abgestellt werden, bei deren Erreichen eine Verursachungswahrscheinlichkeit von über 50 Prozent für den Kausalzusammenhang mit der beruflichen Exposition hinreichend wahrscheinlich ist:

Die wissenschaftliche Empfehlung des Ärztlichen Sachverständigenbeirats "Berufskrankheiten" beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales, veröffentlicht im Gemeinsamen Ministerialblatt vom 12.11.2007 S. 974 ff., enthält einen Katalog typischer Tätigkeiten, bei denen nach Intensität und Dauer der Benzolbelastung die erforderliche Verursachungswahrscheinlichkeit vorliegt. Der Katalog ist nicht abschließend.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten und der zugrunde gelegten Literatur wird auf die oben bezeichnete wissenschaftliche Empfehlung des Ärztlichen Sachverständigenbeirats "Berufskrankheiten" verwiesen.

Zu Buchstabe c

Unter der Nummer 2112 wird als neue Berufskrankheit in die Anlage 1 zur Verordnung die Erkrankung "Gonarthrose durch eine Tätigkeit im Knien oder vergleichbare Kniebelastung mit einer kumulativen Einwirkungsdauer während des Arbeitslebens von mindestens 13 000 Stunden und einer Mindesteinwirkungsdauer von insgesamt einer Stunde pro Schicht" aufgenommen.

Die erforderliche kausale Beziehung zwischen einer langjährigen und intensiven beruflichen Kniegelenksbelastung durch Arbeiten im Knien oder vergleichbare Kniebelastung sowie einem deutlich erhöhten Risiko, an einer Gonarthrose zu erkranken, ist wissenschaftlich gesichert. Dies basiert auf biomechanischen sowie epidemiologischen Erkenntnissen.

Mechanische Faktoren wie Kongruenzstörungen oder Dysfunktionen der Gelenke, die zu einer erhöhten Druckkraft auf den Gelenkknorpel führen, sind in der medizinischen Wissenschaft als Ursache für die Entwicklung einer Arthrose allgemein anerkannt. Auch Arbeiten im Knien oder vergleichbare Kniegelenksbelastung führen zu einer erhöhten Druckkraft auf den Gelenkknorpel im Retropatellar- und Tibiofemoralgelenk. So sprechen biomechanische Studien für eine starke Druckerhöhung auf den Gelenkknorpel im Retropatellar- und Tibiofemoralgelenk bei der Kniegelenksbeugung im Stehen. Die pathophysiologische Vorstellung, dass eine langjährige und häufig wiederkehrende Druckerhöhung auf den Gelenkknorpel des Kniegelenkes zu einer Degeneration des Gelenksknorpels und Ausbildung einer Gonarthrose führt, ist biologisch plausibel.

In einer Reihe von Querschnitts- sowie von Fall-Kontroll- und Kohortenstudien bei Berufsgruppen, die einer Kniegelenksbelastung durch Arbeiten im Knien oder Hocken ausgesetzt waren, wurde ein signifikant erhöhtes Gonarthroserisiko festgestellt. Der Ursachenzusammenhang fand sich in mehreren Querschnittsstudien zum Beispiel bei untertägigen Steinkohlebergleuten, Bodenlegern und Malern sowie Werftschweißern und Schiffsbauern. Diese Ergebnisse wurden auch in Fall-Kontroll-Studien bestätigt. Aus den durchgeführten Fall-Kontroll- und Kohortenstudien lässt sich darüber hinaus ableiten, dass die berufliche Kniegelenksbelastung der Gonarthrose jeweils zeitlich vorausging.

Als kumulative Einwirkungsdauer während des Arbeitslebens werden mindestens 13 000 Stunden und eine Mindesteinwirkungsdauer von insgesamt einer Stunde pro Schicht festgesetzt. Diese Kriterien beruhen auf Erkenntnissen aus epidemiologischen Studien. In der bisher größten zu dieser Thematik durchgeführten Fall-Kontroll-Studie zeigte sich bei einer Belastungsdauer von insgesamt rund 13 000 Stunden ein mehr als verdoppeltes, signifikant erhöhtes Gonarthroserisiko für Personen mit hoher beruflicher Exposition durch kniende oder hockende Tätigkeit. Auch für die Voraussetzung der mindestens einstündigen Kniegelenksbelastung pro Schicht wurde die Verdoppelungsdosis in epidemiologischen Studien festgestellt. Dabei ist zu beachten, dass die beiden Grenzwerte voneinander unabhängig sind. Die Mindestdauer pro Arbeitsschicht stellt den unteren Grenzwert dar, bei dem die einzelne tägliche Belastung überhaupt geeignet ist, Kniegelenksschädigungen zu verursachen. Dauerhafte Arbeitsschichten mit der Mindestbelastungszeit allein reichen aber regelmäßig nicht aus, um die erforderliche kumulative Gesamtbelastung von 13 000 Stunden zu erreichen. So wäre bei einer durchschnittlich nur einstündigen Belastung bei 200 Arbeitstagen jährlich erst nach mehr als 60 Jahren ununterbrochener Tätigkeit die Gesamtbelastung erreicht.

Eine Gonarthrose im Sinne dieser Berufskrankheit liegt vor bei

Bei beidseitigem Knien und vergleichbarer Kniebelastung tritt die Gonarthrose in der Regel beidseitig auf, bei überwiegend einseitiger Belastung kommt auch eine einseitige Gonarthrose in dem belasteten Kniegelenk in Betracht.

Als "bestimmte Personengruppe", die durch ihre Arbeit in erheblich höherem Maße als die übrige Bevölkerung kniebelastenden Tätigkeiten ausgesetzt sind, gelten Versicherte mit einer Tätigkeit im Knien oder vergleichbarer Kniebelastung mit einer kumulativen Einwirkungsdauer während des Arbeitslebens von mindestens 13 000 Stunden und einer Mindesteinwirkungsdauer von insgesamt einer Stunde pro Schicht. Berufsgruppen, in denen solche Arbeitsbedingungen typischerweise vorkommen, sind insbesondere:

Diese Aufzählung ist nicht abschließend.

Das Zusammenwirken zwischen beruflichen Einwirkungen im Sinn dieser Berufskrankheit und außerberuflichen konkurrierenden Faktoren ist differenziert zu betrachten:

Adipositas ist als konkurrierende Einwirkung bei der Ursachenfeststellung nicht zu berücksichtigen. Übergewicht stellt zwar einen Risikofaktor für die Entwicklung einer Gonarthrose dar. Nach epidemiologischen Erkenntnissen besteht aber zwischen beruflicher Einwirkung im Sinne dieser Berufskrankheit und Adipositas ein nahezu multiplikatives, das heißt voneinander unabhängiges Zusammenwirken hinsichtlich des Gonarthroserisikos. Auch bei adipösen Personen ist das berufliche Gonarthroserisiko daher in etwa verdoppelt.

Bei Beschäftigten mit Meniskopathie, Zustand nach Meniskektomie und anerkannter Berufskrankheit Nummer 2102 (Meniskusschaden) ist zu prüfen, ob eine später aufgetretene Gonarthrose im Sinne der Verschlimmerung der Berufskrankheit Nummer 2102 anerkannt werden kann.

Über das Zusammenwirken mit anderen konkurrierenden Faktoren wie z.B. dem Zustand nach einem außerberuflichen Kniegelenkstrauma liegen aus epidemiologischen Studien keine Erkenntnisse vor. Hier ist im Rahmen der Einzelfallprüfung unter Berücksichtigung des Ausmaßes des konkurrierenden Faktors und der Höhe der beruflichen Einwirkungen gutachterlich zu prüfen, ob der notwendige Ursachenzusammenhang mit hinreichender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden kann.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten und der zugrunde gelegten wissenschaftlichen Literatur wird auf die wissenschaftliche Empfehlung des Ärztlichen Sachverständigenbeirats "Berufskrankheiten" beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales verwiesen, veröffentlicht im Bundesarbeitsblatt Ausgabe 010/2005 S. 46 ff.

Zu Buchstabe d
Zu Berufskrankheit Nummer 4113

Unter der Nummer 4113 wird als neue Berufskrankheit in die Anlage 1 zur Verordnung die Erkrankung "Lungenkrebs durch polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Dosis von mindestens 100 Benzo[a]pyren-Jahren [(µg/m3) x Jahre]" aufgenommen.

Polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK) entstehen vor allem in Kokereien und Teerraffinerien, in der Elektrographitindustrie, im Straßenbau sowie bei der Schornsteinreinigung. Darüber hinaus kann es auch in anderen Produktionsprozessen, wie z.B. bei der Aluminiumherstellung oder in Eisengießereien, zu einer hohen Emission von PAK kommen.

Die Verursachung von Lungenkrebs durch PAK wird durch toxikologische, tierexperimentelle sowie epidemiologische Erkenntnisse bestätigt.

Benzo[a]pyren und andere PAK können nach metabolischer Aktivierung eine kovalente Bindung mit der DNA eingehen und wirken mutagen im Ames-Test. In Zellkulturen wurden nach Applikation von Benzo[a]pyren und anderen PAK Schwesterchromatidaustausch, Chromosomenaberrationen und Punktmutationen nachgewiesen.

In Tierexperimenten wirkten PAK eindeutig krebserzeugend. In verschiedenen Untersuchungen zeigte sich nach inhalativer oder implantativer Gabe von PAK eine deutlich erhöhte dosisabhängige Inzidenz von Lungentumoren.

In einer Reihe epidemiologischer Studien wurde für Beschäftigte an hoch belasteten Arbeitsplätzen ein signifikant erhöhtes Krebsrisiko festgestellt. Insbesondere über die Entwicklung von Atemwegserkrankungen wurden verschiedene Studien durchgeführt, die einen deutlichen Verursachungszusammenhang zwischen PAK und der Entstehung von Lungentumoren zeigten.

Aus mehreren der epidemiologischen Studien lässt sich eine Dosis-Wirkungs-Beziehung zwischen der Dauer der PAK-Exposition und der Höhe des Lungenkrebsrisikos ableiten. Bei einer kumulativen Dosis von mindestens 100 Benzol[a]pyren-Jahren [(µg/m³) x Jahre] zeigte sich ein im Vergleich zur nicht exponierten Bevölkerung um das Doppelte erhöhtes Lungenkrebsrisiko. Dabei wurde Tabakkonsum als die stärkste außerberufliche Konkurrenzursache berücksichtigt; die arbeitsbedingte Einwirkung ist aufgrund der Studienergebnisse als eigenständiger Effekt qualifiziert.

In Bezug auf die Verursachung anderer Tumorarten durch PAK ist auf Folgendes hinzuweisen:

Die Aufnahme der neuen Berufskrankheit stützt sich im Wesentlichen auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die der Ärztliche Sachverständigenbeirat seiner Empfehlung im Jahr 1997 zugrunde gelegt hat. In diesem Rahmen ist auch die Frage anderer Tumorlokalisationen eingehend geprüft worden. Im Ergebnis war festzustellen, dass es außer Lungenkrebs zu diesem Zeitpunkt keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse für ein erhöhtes Tumorrisiko PAK-exponierter Beschäftigter gibt. Ob und inwieweit durch neuere wissenschaftliche Erkenntnisse zu anderen Tumorarten die nach § 9 Absatz 1 SGB VII erforderlichen Nachweise geführt werden können, hat der Verordnungsgeber bislang nicht erneut geprüft. Die Entschädigung solcher Erkrankungen richtet sich deshalb nach § 9 Absatz 2 SGB VII; das Vorliegen neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse ist im Rahmen des Einzelfalls gutachterlich festzustellen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten, insbesondere über die gefährdenden Produktionsverfahren sowie die tierexperimentellen und epidemiologischen Studien, und der zugrunde gelegten wissenschaftlichen Literatur wird auf die wissenschaftliche Empfehlung des Ärztlichen Sachverständigenbeirats "Berufskrankheiten" beim damaligen Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung verwiesen, veröffentlicht im Bundesarbeitsblatt Ausgabe 4/1998 S. 54 ff.

Zu Berufskrankheit Nummer 4114

Unter der Nummer 4114 wird als neue Berufskrankheit in die Anlage 1 zur Verordnung die Erkrankung "Lungenkrebs durch das Zusammenwirken von Asbestfaserstaub und polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Dosis, die einer Verursachungswahrscheinlichkeit von mindestens 50 Prozent nach der Anlage 2 entspricht" aufgenommen.

Das Zusammenwirken arbeitsbedingter Noxen spielt bei der Krebsverursachung eine wichtige Rolle. Die krebserzeugende Wirkung von Arbeitsstoffen oder ionisierender Strahlung kann sich sowohl in der Erhöhung des Tumorrisikos als auch in einer Vorverlegung des Erkrankungs- bzw. Todeszeitpunktes (sog. Linksverschiebung) äußern. Im Rahmen dieser Berufskrankheit wird nur das krebserzeugende Zusammenwirken bei gleichzeitiger oder aufeinanderfolgender Inkorporation von Stoffen berücksichtigt. Es ist allgemein anerkannt, dass eine derartige Synkanzerogenese im gleichen Zielorgan in der Regel zu einer Summation (Addition) der gentoxischen Effekte führt. Darüber hinaus ist das Zusammenwirken verschiedener gentoxischer Arbeitsstoffe in Bezug auf die Entwicklung von Lungenkrebs tierexperimentell und teilweise auch epidemiologisch belegt.

Die neue Berufskrankheit Nummer 4114 bezieht sich auf das Zusammenwirken der Arbeitsstoffgruppen Asbestfaserstaub und polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK) mit deren Leitsubstanz Benzo[a]pyren. Diese beiden Stoffe sind nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft für den Menschen gesichert gentoxisch krebserzeugend. Hinsichtlich der Grundprinzipien der Kanzerogenese und der Synkanzerogenese allgemein wird auf die wissenschaftliche Empfehlung des Ärztlichen Sachverständigenbeirats "Berufskrankheiten" beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales verwiesen, veröffentlicht im Gemeinsamen Ministerialblatt vom 13.04.2007 S. 473 ff.

Bei der Koexposition von Asbest und PAK ist ein mindestens additives Zusammenwirken hinsichtlich der Tumorverursachung im Bereich der Atemwege aus mehreren Gründen wissenschaftlich gesichert. Sowohl für Asbest als auch für PAK sind vor allem die Bronchialepithelzellen die Zielzellen der jeweiligen klastogenen, transformierenden gentoxischen Wirkung. Sowohl Asbest als auch PAK bilden in Epithelzellen der mittleren und tiefen Atemwege reaktive Sauerstoffspezies und generieren daraus resultierende oxidative DNA-Schäden. In einer Reihe von Tierexperimenten zeigte sich eine Evidenz der synergistischen Synkanzerogenese von Asbestfasern und PAK. PAK und Asbest zeigen Mutagenität, sie wirken synergistisch sowohl im Transformationstest an Säugetierzellen in vitro als auch in der Lunge von Hamster und Ratte. Die Kombination der beiden Stoffe führte im Vergleich zu den Einzeleffekten zu einem überadditiven Anstieg der Mutationsrate in der Lunge und zu einer überadditiven Zunahme der Tumorinzidenzen.

Diese Ergebnisse werden durch Erkenntnisse aus epidemiologischen Untersuchungen gestützt. Das von der kumulativen Asbestfaser- bzw. PAK-Dosis abhängige erhöhte Einzelrisiko, an Lungenkrebs zu erkranken, ist allgemein anerkannt. Hierzu wird auf die Berufskrankheiten Nummer 4104 und Nummer 4113 und die zugrundeliegenden wissenschaftlichen Empfehlungen verwiesen. Neben der arbeitsmedizinischen Evidenz belegen auch eine Reihe von epidemiologischen Studien über die Koexposition gegen Asbestfaserstaub am Arbeitsplatz und PAK-haltigem Zigarettenrauch-Kondensat die synkanzerogene Wirkung. PAK mit deren Leitsubstanz Benzo[a]pyren sind die wichtigsten kanzerogenen Inhaltsstoffe des Tabakrauches neben tabakspezifischen Nitrosaminen und heterozyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen. Deren Wirkung wird durch die begleitende Asbestinduzierte Entzündungsreaktion verstärkt. Nach verschiedenen Studien entspricht die aus der kombinatorischen Einwirkung von Asbestfasern und PAK folgende Risikoerhöhung einer Lungenkrebserkrankung annähernd dem multiplikativen Ergebnis der Einzelrisiken.

Für Asbestfaserstaub und PAK besteht damit in der Regel eine mindestens additive Erhöhung des Lungenkrebsrisikos. Wie die Ergebnisse der epidemiologischen Studien zeigten, kann hierbei der außerberufliche Risikofaktor Aktivrauchen hinweg gedacht werden.

Als "bestimmte Personengruppe", die durch ihre Arbeit der besonderen Krebseinwirkung von Asbestfaserstaub und gleichzeitig oder nacheinander PAK in erheblich höherem Maße als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind, gelten Versicherte, deren Lungenkrebsrisiko in Folge dieser beiden gentoxischen Kanzerogene mindestens verdoppelt ist. Berufe/Betriebe mit typischen Arbeitsbedingungen, in denen beide Expositionen zusammentreffen können, sind zum Beispiel:

Der positive Wahrscheinlichkeitsbeweis der arbeitsbedingten synkanzerogenen Verursachung liegt vor, wenn die Berechnung der Verursachungswahrscheinlichkeit (VW) nach der Formel VW = (RR-1)/RR ergibt, dass der Lungenkrebs mit gleicher oder überwiegender Verursachungswahrscheinlichkeit (VW = 50 Prozent) auf die Einwirkung von Asbest und PAK zurückzuführen ist. Diese Konstellation setzt nicht das Erreichen der für die Einzelstoffeinwirkung geforderten Dosisgrenzwerte von 25 Faserjahren (Berufskrankheit Nummer 4104) bzw. 100 BaP-Jahren (Berufskrankheit Nummer 4113) voraus. Bei der Annahme einer linearen Dosis-Wirkungs-Beziehung sind die arbeitsmedizinischtoxikologischen Voraussetzungen für das Verdoppelungsrisiko eines Lungenkrebses auch dann erfüllt, wenn die Summe der vorliegenden Bruchteile von 25 Asbestfaserjahren und 100 BaP-Jahren mindestens den Wert 1 ergibt.

Der statistische Ansatz, der zur Bestimmung der relativen Risiken hier verwendet wird, basiert auf einem additiven Risikomodell. Die in der Anlage 2 berechneten Verursachungswahrscheinlichkeiten basieren auf der Formel:

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten und der zugrunde gelegten wissenschaftlichen Literatur wird auf die oben bezeichnete wissenschaftliche Empfehlung des Ärztlichen Sachverständigenbeirats verwiesen.

Zu Berufskrankheit Nummer 4115

Unter der Nummer 4115 wird als neue Berufskrankheit in die Anlage 1 zur Verordnung die Erkrankung "Lungenfibrose durch extreme und langjährige Einwirkung von Schweißrauchen und Schweißgasen - (Siderofibrose)" aufgenommen.

Kennzeichen aller Schweißverfahren ist die aufgrund der erforderlichen hohen Temperaturen erfolgende Freisetzung sogenannter Schweißrauche und Schweißgase. Gleichartige Rauche und Gase werden auch beim thermischen Schneiden, Trennen und verwandten Verfahren freigesetzt. Die Höhe sowohl der Schweißrauch- als auch der Schweißgas-Konzentrationen in der Luft am Arbeitsplatz hängt maßgeblich ab von der Expositionsrate, den Lüftungsverhältnissen am Arbeitsplatz, den räumlichen Arbeitsplatzverhältnissen, der Arbeitsposition der Schweißer und der Schweißdauer. Bei Schweißvorgängen unter beengten Verhältnissen kommt es zu einer besonderen Anreicherung. Derartige extreme Schweißbedingungen treten insbesondere bei mehrstündigen Schweißarbeiten in Kellern, Tunneln, Behältern, Tanks, Waggons, Containern, in Schiffsräumen oder unter vergleichbar räumlich beengten Verhältnissen bei arbeitshygienisch unzureichenden sicherheitstechnischen Vorkehrungen auf. Das MAG-Schweißen mit Fülldraht-Elektroden ist mit sehr hohen Emissionsraten verbunden, welche in der Regel zu sehr hohen Schweißrauch-Konzentrationen in der Luft am Arbeitsplatz führen. Vergleichbare Expositionen können ebenfalls beim Schneiden, Trennen und verwandten Verfahren unter extrem ungünstigen Lüftungsbedingungen vorkommen.

Das Krankheitsbild der interstitiellen Siderofibrose der Lungen ist anamnestisch durch eine progrediente Belastungs- und später Ruheluftnot gekennzeichnet. Lungenfunktionsanalytisch zeigen sich eine restriktive Ventilationsstörung, eine reduzierte Diffusionskapazität für Kohlenmonoxid, eine herabgesetzte Lungendehnbarkeit und eine Gasaustauschstörung unter Belastung, später auch in Ruhe. In der Belastungsuntersuchung werden pulmonale Ausbelastungskriterien vorzeitig erreicht. In der hochauflösenden Computertomographie der Lungen zeigen sich unspezifisch fibrotische Veränderungen, teilweise mit milchglasartigen Bildern. In fortgeschrittenen Fällen sind zum Teil auch Traktionsbronchiektasen erkennbar. Das Krankheitsbild ist einerseits von der klassischen Siderose der Lungen bei Schweißern und andererseits vom Formenkreis nicht arbeitsbedingter interstitieller Lungengerüsterkrankungen abzugrenzen, die nicht Gegenstand dieser Berufskrankheit sind.

Der wesentliche Pathomechanismus der Wirkung von Schweißrauchen im Alveolarbereich der menschlichen Lunge beruht auf der Bildung reaktiver Sauerstoffspezies (oxidativer Stress) mit der Folge einer Freisetzung u. a. die Bindegewebsbildung durch Fibroblasten stimulierender Mediatoren speziell aus Alveolarmakrophagen.

Die Verursachung der Siderofibrose durch die extreme und langjährige Einwirkung von Schweißrauchen/Schweißgasen wird durch tierexperimentelle, kasuistischempirische sowie epidemiologische Erkenntnisse bestätigt. Tierexperimente zeigen modellhaft, dass es sowohl durch alveolär retinierte ultrafeine schwerlösliche Staubteilchen als auch durch Ozon infolge der Mediatorfreisetzung speziell aus Alveolarmakrophagen zu einer die Lungenfibrose charakterisierenden Bindegewebsneubildung kommt. In einer Anzahl von Kasuistiken wird über Siderofibrosen der Lungen nach in der Regel jahrzehntelanger Einwirkung von Schweißrauchen berichtet, bei denen zumeist ungünstige arbeitshygienische Bedingungen bei den Schweißarbeiten in engen und/oder unzureichend zwangsbelüfteten Räumen bestanden. In mehreren Querschnitts- und Fall-Kontrollstudien wurden insbesondere nach langjähriger und hochgradiger Einwirkung von Schweißrauchen Röntgenbefunde und Lungenfunktionsstörungen, wie sie für eine Siderofibrose der Lungen charakteristisch sind, bei Schweißern im Vergleich zu nicht exponierten Kontrollgruppen häufiger nachgewiesen. Die Studien weisen übereinstimmend ein erhöhtes Risiko für restriktive Ventilationsstörungen bzw. solche röntgenologische Veränderungen auf, die mit einer beginnenden Lungenfibrose vereinbar sind.

Insgesamt bedarf es in der Regel einer langjährigen und täglich vielstündigen Einwirkung von Schweißrauchen und Schweißgasen unter extremen, arbeitshygienisch unzureichenden Bedingungen, ehe mit dem Auftreten einer interstitiellen Siderofibrose der Lungen zu rechnen ist. Als "bestimmte Personengruppe", die durch ihre Schweißarbeiten der besonderen Einwirkung von Schweißrauchen und Schweißgasen in extrem höherem Maße als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind, können Versicherte nach einer mindestens etwa zehnjährigen bzw. circa 15 000-stündigen Schweißertätigkeit unter extremen Bedingungen, das heißt bei eingeschränkten Belüftungsverhältnissen, z.B. in Kellern, Tunneln, Behältern, Tanks, Containern, engen Schiffsräumen etc. betrachtet werden. Diese Werte sind als Anhaltspunkte und nicht als Abschneidekriterien im Sinne einer festen Dosis-Wirkungs-Beziehung zu verstehen. Unter extrem ungünstigen Arbeitsbedingungen kann das Krankheitsbild der Siderofibrose auch nach einem kürzeren Expositionszeitraum auftreten.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten und der zugrunde gelegten wissenschaftlichen Literatur wird auf die wissenschaftliche Empfehlung des Ärztlichen Sachverständigenbeirats "Berufskrankheiten" beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales verwiesen, veröffentlicht im Bundesarbeitsblatt Ausgabe 010/2006 S. 35 ff.

Zu Nummer 4

Die Tabelle der Anlage 2 enthält die in Prozent ausgedrückten Verursachungswahrscheinlichkeiten für die verschiedenen kombinatorischen Einwirkungen von Asbestfaserstaub und polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen. Der für eine Anerkennung als Berufskrankheit Nummer 4114 im Einzelfall notwendige Verursachungszusammenhang liegt mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vor, wenn die Verursachungswahrscheinlichkeit mindestens 50 Prozent beträgt.

Zu Artikel 2 (Inkrafttreten)

Die Vorschrift regelt das Inkrafttreten der Verordnung.

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Anlage
Stellungnahme des Nationalen Normenkontrollrates gem. § 6 Abs. 1 NKR-Gesetz:
NKR-Nr. 812:
Entwurf einer Zweiten Verordnung zur Änderung der Berufskrankheiten-Verordnung

Der Nationale Normenkontrollrat hat den Entwurf der o. a. Verordnung auf Bürokratiekosten, die durch Informationspflichten begründet werden, geprüft.

Mit dem vorliegenden Entwurf wird eine Informationspflicht für Bürgerinnen und Bürger eingeführt. Für Wirtschaft und Verwaltung werden keine Informationspflichten eingeführt, geändert oder aufgehoben.

Durch die Aufnahme von fünf Krankheiten in die Berufskrankheitenliste erhöhen sich die Fallzahlen zu verschiedenen Informationspflichten für die Wirtschaft in Rechtsvorschriften außerhalb der vorliegenden Verordnung. Schwerpunkt ist hierbei die Anzeige- und Meldepflicht der Ärzte gemäß § 202 SGB VII. Insbesondere bzgl. der Krankheit "Gonarthrose" ist mit einem relevanten Anstieg der Fallzahlen zu rechnen. Das Ressort geht hierbei von 400 Meldungen pro Jahr aus. Das Statistische Bundesamt hat für die einzelne Meldung des Arztes Bürokratiekosten in Höhe von 21,50 Euro ermittelt. Die Fallzahlerhöhung führt somit voraussichtlich zu zusätzlichen Bürokratiekosten in Höhe von 8.600 Euro pro Jahr.

Der Nationale Normenkontrollrat hat im Rahmen seines gesetzlichen Prüfauftrags keine Bedenken gegen das Regelungsvorhaben.

Dr. Ludewig Kreibohm
Vorsitzender Berichterstatter