897. Sitzung des Bundesrates am 15. Juni 2012
Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union (EU), der Finanzausschuss (Fz), der Ausschuss für Innere Angelegenheiten (In) und der Wirtschaftsausschuss (Wi) empfehlen dem Bundesrat, zu der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass der Vorschlag mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit derzeit nicht in Einklang steht. Denn nach Artikel 5 Absatz 3 EUV darf die EU in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig werden, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfanges oder ihrer Wirkung auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind.2
- a) Der Bundesrat begrüßt, dass die Glaubwürdigkeit der europäischen Statistiken gestärkt und gesichert werden soll. Die jüngsten wirtschaftlichen Entwicklungen haben gezeigt, wie wichtig hochwertige und zuverlässige Daten sind. Der Bundesrat stellt allerdings fest, dass die Kommission in ihrer Begründung entgegen Artikel 5 des Zusatzprotokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit zur Änderungsverordnung keine Ausführungen zur Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit gemacht hat. Nach dieser Vorschrift müssen die Entwürfe von Gesetzgebungsakten folgenden Anforderungen genügen:
"Jeder Entwurf soll einen Vermerk mit detaillierten Angaben erhalten, die es ermöglichen zu beurteilen, ob die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit eingehalten werden. Die Feststellung, dass ein Ziel der Union besser auf Unionsebene erreicht werden kann, muss auf qualitativen und - soweit möglich - quantitativen Kriterien beruhen. Dabei soll der durch einen Gesetzgebungsakt der Union produzierte Verwaltungsaufwand so gering wie möglich gehalten und in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Ziel stehen."
- b) Der Bundesrat ist der Auffassung, dass der Verordnungsvorschlag zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 223/2009 den Anforderungen des Artikels 5 Absatz 4 EUV aus folgenden Gründen nicht standhält:
- - Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme vom 16. Dezember 2011 zur Mitteilung der Kommission der Europäischen Gemeinschaften an das Europäische Parlament und den Rat über die Methode zur Erstellung von EU-Statistiken: eine Vision für das nächste Jahrzehnt (BR-Drucksache 769/11(B) ) und vom 6. November 2009 zur Mitteilung der Kommission der Europäischen Gemeinschaften an das Europäische Parlament und den Rat über die Methode zur Erstellung von EU-Statistiken (BR-Drucksache 706/09(B) ) die Wahrung der nationalen und föderalen Eigenständigkeit hinsichtlich von Organisation und Ausgestaltung der amtlichen Statistik angemahnt. Diesem Petitum widerspricht der Verordnungsvorschlag, wenn in Artikel 5 Absatz 1 Nummer 1 künftig nur eine einzige nationale statistische Stelle für jeden Mitgliedstaat als Kontaktstelle gegenüber der Kommission auftreten können soll. Dieser Kontaktstelle sollen umfassende innerstaatliche Koordinierungsbefugnisse für alle statistischen Aktivitäten übertragen werden. Dies ist mit der innerstaatlichen Kompetenzverteilung in der Bundesrepublik Deutschland nicht vereinbar. Wie die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte belegen, vermag Deutschland - wie auch viele andere Mitgliedstaaten - qualitativ hochwertige und objektive Statistiken zur Verfügung zu stellen, ohne dass es einer Regelung wie in Artikel 5 des Verordnungsvorschlags bedarf. Gerade die Dezentralität, die in der deutschen amtlichen Statistik seit Jahrzehnten erfolgreich praktiziert wird, ist ein Garant für die Bereitstellung objektiver, manipulationsfreier statistischer Daten, weil eine gegenseitige Kontrolle stattfindet. Da die angestrebten Ziele auch auf nationaler Ebene erreicht werden können, verstößt die EU-Regelung über umfassende Koordinierungsbefugnisse für alle statistischen Aktivitäten gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip.
- - Artikel 5a greift tief in die Organisationsstruktur der Mitgliedstaaten ein, indem er im Detail die innerstaatlichen Befugnisse des Leiters des nationalen Statistikamtes regelt. Die Organisationsgewalt, d.h. die Errichtung und Ausstattung von Behörden, die Zuständigkeitsverteilung sowie die Ausgestaltung von Entscheidungsbefugnissen, ist Sache der Mitgliedstaaten, und zwar auch dann, wenn die EU eine Regelungskompetenz nach dem AEUV besitzt. Artikel 338 AEUV gibt den zuständigen Organen der EU zwar eine Kompetenz für die Anordnung von Statistiken, wenn dies für die Durchführung der Tätigkeiten der Union erforderlich ist, nicht aber für Eingriffe in die Organisationshoheit der Mitgliedstaaten.
- - Die geltende Regelung in Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe a letzter Halbsatz der Verordnung (EG) Nr. 223/2009 über europäische Statistiken, dass die institutionellen oder haushaltsrechtlichen Bestimmungen der Mitgliedstaaten unberührt bleiben, darf deshalb nicht gestrichen werden. - Der Bundesrat ist der Auffassung, dass sich aus Artikel 338 Absatz 2 AEUV nichts anderes ergibt, wonach die Unionsstatistiken unter Wahrung der Unparteilichkeit, der Zuverlässigkeit, der Objektivität, der wissenschaftlichen Unabhängigkeit, der Kostenwirksamkeit und der statistischen Geheimhaltung erfolgen. Artikel 5a des Verordnungsvorschlags zielt nämlich nicht auf die wissenschaftliche Unabhängigkeit aus Artikel 338 Absatz 2 AEUV, sondern auf eine institutionelle Verselbständigung, indem die Weisungsfreiheit der Amtsleiter festgeschrieben wird. Eine solche institutionelle Unabhängigkeit ist zur Erreichung der Qualitätsziele nicht erforderlich und nach deutscher Verfassungslage auch mit dem Demokratieprinzip und dem darin enthaltenen grundsätzlichen Verbot ministerialfreier Verwaltung nicht zu vereinbaren. Die Verleihung nahezu unbegrenzter Entscheidungsbefugnisse für den Leiter des Nationalen Statistischen Amtes führt zusammen mit dem Weisungsverbot zu einer Aufhebung der Gesetzesbindung der Verwaltung.
- - Der Verordnungsvorschlag verstößt damit gegen ein Strukturprinzip, das zum Grundkonsens der demokratisch organisierten Mitgliedstaaten der EU zählt. Ein solcher Eingriff in die Verwaltungsstruktur und die verfassungsmäßige Ordnung der Mitgliedstaaten ist nicht erforderlich. Die wissenschaftliche Unabhängigkeit in statistischmethodischen Fragen ist im geltenden Primär- und Sekundärrecht der EU verankert und völlig ausreichend, um qualitativ hochwertige und glaubwürdige Statistiken zu erreichen. Der Bundesrat hebt hervor, dass mit Artikel 10a der Verordnung (EG) Nr. 1466/97 über den Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung und der Überwachung und Koordinierung der Wirtschaftspolitiken durch die Festlegung von Mindeststandards die wissenschaftliche und fachliche Unabhängigkeit der statistischen Stellen in den Mitgliedstaaten vor kurzem bestätigt und gestärkt worden ist.
- c) Der Bundesrat weist ferner darauf hin, dass Artikel 11 des Verordnungsvorschlags nicht dazu führen darf, dass der von der Kommission aufgestellte Verhaltenskodex (Verpflichtung für zuverlässige Statistiken) in den Mitgliedstaaten verbindlich implementiert wird. Dieser Verhaltenskodex könnte nämlich ohne Beteiligung der Regierungen der Mitgliedstaaten einseitig geändert werden. Damit wären über die Selbstverpflichtung unmittelbare Eingriffe in die institutionellen und organisatorischen Strukturen in den Mitgliedstaaten möglich. Dies würde nicht zuletzt die Länderkompetenzen aushöhlen.
Ferner ist nicht nachvollziehbar, dass einerseits nach dem vorgeschlagenen Artikel 11 Absatz 3 die Mitgliedstaaten zwar alle notwendigen Maßnahmen zur Umsetzung des Verhaltenskodexes ergreifen und zu diesem Zweck die "Verpflichtung für zuverlässige Statistiken" unterzeichnen, mithin weiterhin die Verantwortung für zuverlässige Statistiken tragen sollen, andererseits jedoch nach Artikel 5a des Vorschlags keinerlei Weisungen an das nationale Statistische Amt weitergeben können sollen.
- d) Der generelle Zugriff auf Verwaltungsdaten - wie in Artikel 17a des Verordnungsvorschlags formuliert - ist aus datenschutzrechtlichen Gründen abzulehnen. Nicht nur das deutsche Verfassungsrecht, sondern auch die einschlägigen Rechtsetzungsakte der EU garantieren einen hohen Datenschutzstandard. Die Vorteile und Grenzen der Verwaltungsdatennutzung in der amtlichen Statistik müssen daher im Einzelfall unter Beachtung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung sorgfältig abgewogen werden. Einer unbegrenzten Datenerhebung aus Verwaltungsdaten steht nicht nur das Zweckbindungsgebot, sondern auch der Grundsatz der Normenklarheit und der Verhältnismäßigkeit entgegen. Einzuhalten sind ferner mögliche Geheimhaltungsvorschriften. In Deutschland werden bereits bei etwa der Hälfte aller Statistiken Verwaltungsdaten genutzt. Es ist nicht ersichtlich, dass in größerem Umfang Datenbestände verfügbar sind, die für EU-Statistiken nutzbar gemacht werden könnten. Insofern ist die vorgeschlagene Regelung weder erforderlich noch mit Blick auf den damit verbundenen Eingriff in die Grundrechte verhältnismäßig.
- e) Der Bundesrat ist der Auffassung, dass der Verordnungsvorschlag insgesamt in der vorliegenden Form abzulehnen ist. Er meint, dass eine Gesamtkonzeption erforderlich ist, die dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besser gerecht wird als das vorgeschlagene Regelungsmodell: Durch klar definierte Berichtspflichten - verbunden mit einem konsequenten Controlling, einer Standardisierung der Datenlieferung und geeigneten Sanktionsmechanismen - kann den mit dem Vorschlag verfolgten Zielen besser Rechnung getragen werden als durch detaillierte Vorgaben zur institutionellen Ausgestaltung der Statistikorganisation in den Mitgliedstaaten.
Zu berücksichtigen ist, dass auch die Mitgliedstaaten weiterhin die Befugnis haben müssen, auf ihre haushalts- und wirtschaftspolitischen Daten Zugriff zu nehmen.3
- a) Der Bundesrat begrüßt, dass die Glaubwürdigkeit der europäischen Statistiken gestärkt und gesichert werden soll. Die jüngsten wirtschaftlichen Entwicklungen haben gezeigt, wie wichtig hochwertige und zuverlässige Daten sind.
- b) Der Bundesrat ist der Auffassung, dass gerade die Dezentralität, die in der deutschen amtlichen Statistik seit Jahrzehnten erfolgreich praktiziert wird, kein Hindernis, sondern ein Garant für die Bereitstellung objektiver, manipulationsfreier statistischer Daten ist, weil eine gegenseitige Kontrolle stattfindet.
- c) Der Bundesrat hat in seinen beiden Stellungnahmen zur Mitteilung der Kommission der Europäischen Gemeinschaften an das Europäische Parlament und den Rat über die Methode zur Erstellung von EU-Statistiken: eine Vision für das nächste Jahrzehnt vom 6. November 2009 (BR-Drucksache 706/09(B) ) und vom 16. Dezember 2011 (BR-Drucksache 769/11(B) ) die Wahrung der nationalen und föderalen Eigenständigkeit hinsichtlich von Organisation und Ausgestaltung der amtlichen Statistik angemahnt. Diesem Petitum wird der Verordnungsvorschlag nicht in allen Punkten gerecht.
- d) Unter Verhältnismäßigkeits- und Subsidiaritätsaspekten bittet der Bundesrat, den Verordnungsvorschlag in folgenden Punkten bei den Beratungen auf EU-Ebene nachzubessern bzw. für eindeutige Klarstellungen zu sorgen:
- - Zu Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe a: Die vorgesehene Änderung ist problematisch. Die geltende Fassung sichert bereits die notwendige fachliche Unabhängigkeit. Durch die Streichung des bisher einschränkenden 2. Halbsatzes von Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe a soll eine institutionelle Unabhängigkeit der Statistik geschaffen werden, die mit der Gesamtverantwortung des Mitgliedstaates für seine Statistiken sowie mit der Kompetenzverteilung nach der deutschen Verfassungslage nicht vereinbar wäre.
- - Zu Artikel 5 Absatz 1 i.V.m. Artikel 5a: Die föderale Struktur der amtlichen Statistik in Deutschland ist einzuhalten. Dabei ist klarzustellen, dass Koordinierung der nationalen Statistikstelle in Artikel 5 Absatz 1 lediglich die nationale Koordinierungsrolle des Statistischen Bundesamtes meint, wie sie im Bundesstatistikgesetz bereits für Bundesstatistiken besteht. Klärungsbedarf besteht auch wegen der Übertragung einer Quasi-Weisungsbefugnis an den Leiter des nationalen Statistikamtes in Artikel 5a mit Alleinverantwortlichkeit für alle EU-Statistiken. Sie steht im Widerspruch zu Artikel 5, der von Koordinierung gegenüber nationalen Behörden spricht, die selbst Verantwortung für ihre EU-Statistiken tragen. Die nach dem Verordnungsvorschlag vorgesehenen umfassenden Befugnisse des Leiters des nationalen Statistikamtes verbunden mit einer völligen - auch institutionellen - Unabhängigkeit sind zur Erreichung der Qualitätsziele nicht erforderlich.
- - Zu Artikel 11 Absatz 3: Die in Artikel 11 Absatz 3 vorgesehene Verpflichtung der Mitgliedstaaten, ein "commitment of confidence" (Verpflichtung zur Umsetzung der im Verhaltenskodex formulierten Maßnahmen) zu unterzeichnen und im Rahmen eines Monitoring jährlich der Kommission zu seiner Einhaltung zu berichten, steht im Widerspruch zum vorgesehenen Artikel 5a mit der Weisungsunabhängigkeit des Leiters des nationalen Statistikamtes und der weiterhin bestehenden Gesamtverantwortung der Mitgliedstaaten für solide EU-Statistiken. [Ein solches Commitment ist für Deutschland zudem problematisch, wenn es die Budgethoheit der Länderparlamente tangiert.]
- - Zu Artikel 17a: In Artikel 17a soll künftig dem Leiter des nationalen Statistikamtes - aber auch anderen mit EU-Statistiken befassten nationalen Behörden - eine "Generalermächtigung" für den Zugriff auf sämtliche Verwaltungsdaten von Bund, Ländern und Kommunen erteilt werden. Dies greift unangemessen tief in die nationalen Verwaltungsstrukturen der Mitgliedstaaten ein und widerspricht zudem dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung im Umgang mit personenbezogenen Daten. Die Verwaltungsdatennutzung für statistische Zwecke muss in Deutschland im Einzelfall unter Beachtung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung sorgfältig abgewogen werden. Einer unbegrenzten Datenerhebung aus Verwaltungsdaten steht nicht nur das Zweckbindungsgebot, sondern auch der Grundsatz der Normenklarheit und der Verhältnismäßigkeit entgegen. Der generelle Zugriff auf Verwaltungsdaten - wie in Artikel 17a formuliert - ist daher aus verfassungsrechtlichen Gründen abzulehnen.
- a) Der Bundesrat begrüßt, dass die Glaubwürdigkeit der europäischen Statistiken gestärkt und gesichert werden soll. Die jüngsten wirtschaftlichen Entwicklungen haben gezeigt, wie wichtig hochwertige und zuverlässige Daten sind. Der Bundesrat stellt allerdings fest, dass die Kommission in ihrer Begründung entgegen Artikel 5 des Zusatzprotokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit zur Änderungsverordnung keine Ausführungen zur Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit gemacht hat. Nach dieser Vorschrift müssen die Entwürfe von Gesetzgebungsakten folgenden Anforderungen genügen:
- 5. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.
[Begründung zu Ziffern 3, 4 und 5 (nur gegenüber dem Plenum):
Der Bundesrat unterstützt das Ziel des Verordnungsvorschlags, die Glaubwürdigkeit europäischer Statistiken zu sichern. Der vorliegende Verordnungsvorschlag enthält allerdings zahlreiche Detailregelungen zur innerstaatlichen Organisation der Verwaltung, die in Konflikt mit Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten stehen oder ohne weitere Klarstellung stehen könnten. Den Mitgliedstaaten muss ein nationaler Gestaltungsspielraum bei der organisatorischen Umsetzung der Zielvorgaben der Verordnung über europäische Statistiken erhalten bleiben. Ziel der weiteren Verhandlungen auf EU-Ebene muss eine angemessene organisatorische Gestaltungsfreiheit sein, mit der die Mitgliedstaaten die anerkannten EU-Ziele umsetzen können.]