Punkt 57 der 896. Sitzung des Bundesrates am 11. Mai 2012
Der Bundesrat möge anstelle der Empfehlung in Drucksache 219/1/12 beschließen, zu der Vorlage gemäß Artikel 12 Buchstabe b EUV wie folgt Stellung zu nehmen:
Der Bundesrat ist der Auffassung, dass der Vorschlag mit dem Subsidiaritätsprinzip und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht in Einklang steht. Denn nach Artikel 5 Absatz 3 EUV darf die EU in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig werden, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfanges oder ihrer Wirkung auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind.
- 1. Der Bundesrat begrüßt, dass die Glaubwürdigkeit der europäischen Statistiken gestärkt und gesichert werden soll. Die jüngsten wirtschaftlichen Entwicklungen haben gezeigt, wie wichtig hochwertige und zuverlässige Daten sind. Der Bundesrat stellt allerdings fest, dass die Kommission in ihrer Begründung zum Änderungsvorschlag keine Ausführungen zur Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit gemacht hat. Sie verstößt damit gegen Artikel 5 des Protokolls Nummer 2 über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit. Nach dieser Vorschrift sind die Entwürfe von Gesetzgebungsakten im Hinblick auf die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit zu begründen, wonach jeder Entwurf einen Vermerk mit detaillierten Angaben erhalten soll, die es ermöglichen zu beurteilen, ob die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit eingehalten werden. Die Feststellung, dass ein Ziel der EU besser auf Unionsebene erreicht werden kann, muss auf qualitativen und - soweit möglich - quantitativen Kriterien beruhen. Dabei soll der durch einen Gesetzgebungsakt der Union produzierte Verwaltungsaufwand so gering wie möglich gehalten und in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Ziel stehen.
- 2. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass der Verordnungsvorschlag zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 223/2009 diesen Anforderungen aus folgenden Gründen nicht standhält:
- - Der Bundesrat hat in seinen Stellungnahmen vom 16. Dezember 2011 zur Mitteilung der Kommission der Europäischen Gemeinschaften an das Europäische Parlament und den Rat über die Methode zur Erstellung von EU-Statistiken: eine Vision für das nächste Jahrzehnt (BR-Drucksache 769/11(B) ) und vom 6. November 2009 zur Mitteilung der Kommission der Europäischen Gemeinschaften an das Europäische Parlament und den Rat über die Methode zur Erstellung von EU-Statistiken (BR-Drucksache 706/09(B) ) die Wahrung der nationalen und föderalen Eigenständigkeit hinsichtlich von Organisation und Ausgestaltung der amtlichen Statistik angemahnt. Diesem Petitum widerspricht der Verordnungsvorschlag, wenn in Artikel 5 Absatz 1 Nummer 1 künftig nur eine einzige nationale statistische Stelle für jeden Mitgliedstaat als Kontaktstelle gegenüber der Kommission auftreten können soll. Dieser Kontaktstelle sollen umfassende innerstaatliche Koordinierungsbefugnisse für alle statistischen Aktivitäten übertragen werden. Dies ist mit der innerstaatlichen Kompetenzverteilung in der Bundesrepublik nicht vereinbar. Wie die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte belegen, vermag Deutschland - wie auch viele andere Mitgliedstaaten - qualitativ hochwertige und objektive Statistiken zur Verfügung zu stellen, ohne dass es einer Regelung wie in Artikel 5 des Verordnungsvorschlags bedarf. Gerade die Dezentralität, die in der deutschen amtlichen Statistik seit Jahrzehnten erfolgreich praktiziert wird, ist ein Garant für die Bereitstellung objektiver, manipulationsfreier statistischer Daten, weil eine gegenseitige Kontrolle stattfindet. Da die angestrebten Ziele auch auf nationaler Ebene erreicht werden können, verstößt die EU-Regelung über umfassende Koordinierungsbefugnisse für alle statistischen Aktivitäten gegen das Subsidiaritätsprinzip. - Artikel 5a greift tief in die Organisationsstruktur der Mitgliedstaaten ein, indem er im Detail die innerstaatlichen Befugnisse des Leiters des nationalen Statistikamtes regelt. Die Organisationsgewalt, d.h. die Errichtung und Ausstattung von Behörden, die Zuständigkeitsverteilung sowie die Ausgestaltung von Entscheidungsbefugnissen, ist Sache der Mitgliedstaaten, und zwar auch dann, wenn die EU eine Regelungskompetenz nach dem Vertrag über die Arbeitsweise für die EU (AEUV) besitzt. Artikel 338 AEUV gibt den zuständigen Organen der EU zwar eine Kompetenz für die Anordnung von Statistiken, wenn dies für die Durchführung der Tätigkeiten der Union erforderlich ist, nicht aber für Eingriffe in die Organisationshoheit der Mitgliedstaaten.
- - Die geltende Regelung in Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe a letzter Halbsatz der Verordnung (EG) Nr. 223/2009 über europäische Statistiken, dass die institutionellen oder haushaltsrechtlichen Bestimmungen der Mitgliedstaaten unberührt bleiben, darf deshalb nicht gestrichen werden.
- - Der Bundesrat ist der Auffassung, dass sich aus Artikel 338 Absatz 2 AEUV nichts anderes ergibt, wonach die Unionsstatistiken unter Wahrung der Unparteilichkeit, der Zuverlässigkeit, der Objektivität, der wissenschaftlichen Unabhängigkeit, der Kostenwirksamkeit und der statistischen Geheimhaltung erstellt werden. Artikel 5a des Verordnungsvorschlags zielt nämlich nicht auf die wissenschaftliche Unabhängigkeit aus Artikel 338 Absatz 2 AEUV, sondern auf eine institutionelle Verselbständigung, indem die Weisungsfreiheit der Amtsleiter festgeschrieben wird. Eine solche institutionelle Unabhängigkeit ist zur Erreichung der Qualitätsziele nicht erforderlich und nach deutscher Verfassungslage auch mit dem Demokratieprinzip und dem darin enthaltenen grundsätzlichen Verbot ministerialfreier Verwaltung nicht zu vereinbaren. Die Verleihung nahezu unbegrenzter Entscheidungsbefugnisse für den Leiter des nationalen Statistischen Amtes führt zusammen mit dem Weisungsverbot zu einer Aufhebung der Gesetzesbindung der Verwaltung.
Der Verordnungsvorschlag verstößt damit gegen ein Strukturprinzip, das zum Grundkonsens der demokratisch organisierten Mitgliedstaaten der EU zählt. Ein solcher Eingriff in die Verwaltungsstruktur und die verfassungsmäßige Ordnung der Mitgliedstaaten ist nicht erforderlich. Die wissenschaftliche Unabhängigkeit in statistischmethodischen Fragen ist im geltenden Primär- und Sekundärrecht der EU verankert und völlig ausreichend, um qualitativ hochwertige und glaubwürdige Statistiken zu erreichen. Der Bundesrat hebt hervor, dass mit Artikel 10a der Verordnung (EG) Nr. 1466/97 über den Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung und der Überwachung und Koordinierung der Wirtschaftspolitiken durch die Festlegung von Mindeststandards die wissenschaftliche und fachliche Unabhängigkeit der statistischen Stellen in den Mitgliedstaaten vor kurzem bestätigt und gestärkt worden ist.
- 3. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass der Verordnungsvorschlag insgesamt in der vorliegenden Form abzulehnen ist. Er meint, dass eine Gesamtkonzeption erforderlich ist, die dem Grundsatz der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit besser gerecht wird als das vorgeschlagene Regelungsmodell: Durch klar definierte Berichtspflichten - verbunden mit einem konsequenten Controlling, einer Standardisierung der Datenlieferung und geeigneten Sanktionsmechanismen - kann den mit dem Verordnungsvorschlag verfolgten Zielen besser Rechnung getragen werden als durch detaillierte Vorgaben zur institutionellen Ausgestaltung der Statistikorganisation in den Mitgliedstaaten.
Zu berücksichtigen ist, dass auch die Mitgliedstaaten weiterhin die Befugnis haben müssen, auf ihre haushalts- und wirtschaftspolitischen Daten Zugriff zu nehmen.