Die Ministerpräsidentin des Landes Nordrhein-Westfalen Düsseldorf, den 22. Februar 2012
An den Präsidenten des Bundesrates Herrn Ministerpräsidenten Horst Seehofer
Sehr geehrter Herr Präsident,
die Landesregierungen von Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz haben beschlossen, dem Bundesrat den als Anlage beigefügten Antrag für eine Entschließung des Bundesrates "Umgehung von Arbeitnehmerschutzrechten durch Werkverträge verhindern - jetzt" zuzuleiten.
Ich bitte, den Entschließungsantrag gemäß § 36 Absatz 2 der Geschäftsordnung auf die Tagesordnung der Bundesratssitzung am 2. März 2012 zu setzen und anschließend den zuständigen Ausschüssen zur Beratung zuzuweisen.
Mit freundlichen Grüßen
Hannelore Kraft
Entschließung des Bundesrates "Umgehung von Arbeitnehmerschutzrechten durch Werkverträge verhindern - jetzt"
Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, unverzüglich gegen die Umgehung von Arbeitnehmerschutzrechten durch Werkvertragskonstruktionen vorzugehen und Maßnahmen mit folgenden Zielrichtungen zu ergreifen:
- 1. Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns, um weiteres Lohndumping mittels "outsourcing" von Aufgaben durch Werkverträge und durch Schein-Werkverträge zu verhindern.
- 2. Stärkung der Rechte der Betriebsräte in Bezug auf Werkverträge (Auftragsvergabe und Einsatz der Werkvertragsarbeitnehmer beim Auftraggeber).
- 3. Einführung von neuen Regeln bzw. Kontrollmöglichkeiten zur Bekämpfung von Scheinselbstständigkeit, Scheinwerkverträgen und unerlaubter Arbeitnehmerüberlassung.
- 4. Verhinderung der Umgehung von Arbeitnehmerschutzvorschriften insbesondere bei Leiharbeitsverhältnissen durch Schein-Werkverträge.
- 5. Erhebung statistischer Daten bzw. Beauftragung einer wissenschaftlichen Untersuchung zur offenbar zunehmenden Auslagerung von Tätigkeiten an "Werkvertragsunternehmen".
Begründung:
Immer mehr Unternehmen lagern zentrale Aufgaben aus.
Zur rechtlichen Gestaltung dieses Vorgangs stehen mehrere Möglichkeiten offen: In letzter Zeit sind Fallkonstellationen mit Werkverträgen in den Fokus der Aufmerksamkeit geraten.
Hierbei ist zu unterscheiden zwischen (echten) Werkverträgen mit Unternehmen, Werkverträgen mit Einzelpersonen (Problem der Scheinselbstständigkeit) und den hier als Schein-Werkverträgen mit Unternehmen bezeichneten, die eigentlich als Überlassung von Arbeitnehmern bewertet werden müssen.
Alle diese Formen der Verlagerung bedürfen einer kritischen Hinterfragung im Hinblick auf die Arbeitsbedingungen der die Tätigkeit durchführenden Personen.
Das Problem der Schein-Werkverträge stellt sich wie folgt dar:
Gemeint sind Verträge mit anderen Unternehmen (= Werkvertragsunternehmen) zur Ausführung wesentlicher Tätigkeiten, wie z.B. des "Regaleinräumens in Supermärkten". Diese gehen jedenfalls über die Charakteristik des Werkvertrages hinaus, wenn die Durchführung der Aufgaben situationsbedingt immer wieder neue Anleitungen durch das Personal des Unternehmens verlangt, bei dem die Tätigkeit erbracht wird. In Wahrheit erhält der Arbeitnehmer hier genauso Weisungen für die von ihm vorzunehmende Tätigkeit, wie das dort angestellte Personal. Er ist somit in die Struktur des Unternehmens auch vergleichbar eingebunden. Tatsächlich handelt es sich deshalb um eine verdeckte Arbeitnehmerüberlassung, die - wegen des Fehlens einer Genehmigung für die Arbeitnehmerüberlassung - unzulässig ist.
Diese Gestaltung ist vordergründig nicht sofort als unzulässig zu erkennen und ermöglicht die Umgehung der in der Richtlinie zur Arbeitnehmerüberlassung und im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz zum Schutz der Arbeitnehmer normierten Schutzrechte.
Durch den verstärkten Einsatz von Werkverträgen wird die gerade erst im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) implementierte Lohnuntergrenze unterlaufen. Bereits jetzt haben vierzehn große "Werkvertrags-Unternehmen" mit insgesamt 50.000 Beschäftigten über einen eigenen Arbeitgeberverband, den Verband "Instore und Logistik Services" (ILS), einen Tarifvertrag geschlossen, der für Regaleinräumer Niedriglöhne von 6 Euro die Stunde im Osten und 6,50 Euro im Westen vorsieht. Demgegenüber liegt die Lohnuntergrenze in der Leiharbeit immerhin bei 7,01 Euro im Osten bzw. 7,89 Euro im Westen pro Stunde.
Die Problematik zeigt sich aktuell auch an der von der Zollfandung durchgeführten Durchsuchung bei den Unternehmen Netto und Kaufland. Die Zollfahndung geht damit Hinweisen nach, dass die beiden Unternehmen gemeinsam mit Subunternehmen und Geschäftspartnern rechtswidrige Werkverträge statt Arbeitnehmerüberlassungsvereinbarungen für den Einsatz von Lagerarbeitern und Staplerfahrern abgeschlossen haben. Würde sich dies bestätigen, so wären Leiharbeiter erheblich unter Tarif bezahlt und Sozialversicherungsbeiträge hinterzogen worden. Nach Angaben aus Ermittlerkreisen erhielten die Arbeiter rund 30 Prozent weniger Lohn als bei Anwendung des Leiharbeits-Tarifvertrages.
Die Problematik der Scheinselbstständigen beschäftigt immer wieder die Gerichte - auch hier ist zu fragen, ob diese Form der nachträglichen Einzelfallkontrolle die richtige und angemessene Reaktion ist. Oder ob nicht im Interesse der Betroffenen Kontrollmöglichkeiten erweitert oder Mitbestimmungsmaßnahmen eingeführt werden müssen.
Die Auslagerung von Aufgaben durch Werkverträge hat unter anderem auch das Ziel der Kostenersparnis. Wenn diese aber allein durch die Zahlung niedriger Löhne erzielt wird, die eine Aufstockerleistung nach dem SGB II zur Folge hat, ist diese Praxis kritisch zu hinterfragen.
Rund anderthalb Jahre nachdem durch den Schlecker-Skandal Lohndumping-Methoden durch Leiharbeit einer breiten Öffentlichkeit bekannt geworden waren, geht die Lohndrückerei im Einzelhandel also weiter - nur mit einem neuen Etikett. Wie viele Beschäftigte bundesweit von derartigen Dumpingmethoden betroffen sind, lässt sich nicht genau sagen, denn diese Werkverträge bzw. Schein-Werkverträge gelten nicht als meldepflichtig. Allein im Handel geht die Zahl in die Hunderttausende, schätzen Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter übereinstimmend.
Ein Ansatzpunkt für die Verhinderung solcher unlauterer Praxis ist ein gesetzlicher Mindestlohn, wie er in den meisten anderen europäischen Ländern vorhanden ist. Damit wird die Flucht aus der Leiharbeit in noch schlechtere Arbeitsbedingungen verhindert.
Daher ist der Gesetzgeber aufgefordert, den gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, auch um die von den Arbeitgebern ansonsten genutzte Lücke zur Umgehung der Leiharbeit zu schließen.
Im Übrigen sollte die Bundesregierung alle möglichen rechtlichen Ansatzpunkte überprüfen, um derartige Umgehungen des Arbeitnehmerschutzes zu unterbinden. Die niedrigen Löhne führen zu Wettbewerbsvorteilen der Unternehmen, werden aber durch die Allgemeinheit mit Sozialleistungen an die Arbeitnehmer subventioniert.
Da die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage "Werkverträge als Instrument zum Lohndumping" (BT-Drs. 17/6714) ausführt, dass bisher weder Daten über die vermehrte Auslagerung von Tätigkeiten auf Werkvertragsunternehmen und der möglicherweise missbräuchlichen Nutzung von Werkverträgen zur Umgehung tariflicher oder arbeitsrechtlicher Standards erhoben wurden, noch sonst hinreichende Hinweise oder Informationen hierfür vorlägen, sollte diesem Defizit abgeholfen werden. Dies ist dringend erforderlich, um eine belastbare Bewertungsgrundlage zu erhalten.