974. Sitzung des Bundesrates am 15. Februar 2019
Die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit - Stärkung ihrer Rolle bei der Politikgestaltung der EU
COM (2018) 703 final
Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union empfiehlt dem Bundesrat, zu der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit sind Kernelemente der europäischen Entscheidungsfindung. Als für die Subsidiaritätskontrolle mitverantwortliches Verfassungsorgan nimmt der Bundesrat daher immer wieder dazu Stellung (vergleiche zuletzt seine Stellungnahme vom 29. November 2013 in BR-Drucksache 608/13(B) ).
- 2. Der Bundesrat begrüßt, dass die Kommission unter ihrem Präsidenten Jean-Claude Juncker das Thema Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit angegangen ist und zu diesem Zweck eine "Taskforce für Subsidiarität, Verhältnismäßigkeit und "Weniger, aber effizienteres Handeln"" (nachfolgend die Taskforce) eingerichtet hat.
- 3. Die Empfehlungen der Taskforce, die die Kommission in ihrer Mitteilung teilweise aufgreift, enthalten richtige Ansatzpunkte zur Verbesserung der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips in der Rechtsetzungspraxis. Der Bundesrat begrüßt, dass die Empfehlungen der Taskforce am Anfang und nicht am Ende des Diskussionsprozesses stehen sollen.
- 4. Der Bundesrat sieht mit großem Interesse die von der Taskforce vorgeschlagene neue Arbeitsweise einer "aktiven Subsidiarität", die zu einem gemeinsamen Verständnis von Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit sowie einer stärkeren Beteiligung und mehr Mitsprache der nationalen, regionalen und lokalen Ebene bei der Politikgestaltung der EU führen soll.
- 5. Er betont jedoch, dass die neue Arbeitsweise nicht dazu führen darf, dass die grundsätzlich der Kommission obliegende Prüfung und Darlegung der Einhaltung des Subsidiaritäts- und des Verhältnismäßigkeitsprinzips auf die nationalen und regionalen Parlamente übergeht.
- 6. Der Bundesrat pflichtet der Kommission darin bei, dass ein gemeinsames Verständnis von Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit bei allen an der Politikgestaltung der EU beteiligten Akteuren notwendig ist (vergleiche dazu bereits BR-Drucksache 608/13(B) ).
- 7. Das von der Taskforce vorgeschlagene Raster für die Bewertung von Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit kann hierzu einen Beitrag leisten. Die Kommission stellt in Aussicht, es in ihre Leitlinien für bessere Rechtsetzung einzubeziehen und zur Präsentation der Ergebnisse ihrer Folgenabschätzungen, Evaluierungen und Begründungen und als Orientierungshilfe in der Kommunikation mit den nationalen Parlamenten zu nutzen. Aus Sicht des Bundesrates ginge es grundsätzlich in eine richtige Richtung, wenn vor allem die Kommission das Raster vor der Erarbeitung von Vorschlägen anwenden würde.
- 8. Insgesamt erscheint eine ausschließliche Anwendung des Rasters jedoch nicht als ausreichend, um über das Fehlen erläuternder Kriterien von Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit hinwegzuhelfen. Der Bundesrat nimmt zur Kenntnis, dass die Kommission ihre Mitteilung nicht zum Anlass genommen hat, den Begriff der Subsidiarität materiell näher auszudifferenzieren. Auch die Schlussfolgerungen der Taskforce gehen nicht vertieft auf den materiellen Gehalt der Subsidiarität ein.
- 9. Der Bundesrat erinnert daran, dass das Subsidiaritätsprinzip die Frage des "Ob" des Tätigwerdens der Union betrifft. Ein Tätigwerden ist gemäß Artikel 5 Absatz 3 EUV nur zulässig, wenn die Mitgliedstaaten die Ziele weder auf zentraler noch auf regionaler Ebene ausreichend verwirklichen können, sondern diese vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind. Es ist die Aufgabe der Kommission, in jedem Fall überprüfbar darzulegen, dass beide Voraussetzungen zweifelsfrei vorliegen.
- 10. Der Bundesrat stimmt mit der Kommission darin überein, dass die Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips eine politische Dimension hat. Gleichzeitig betont er, dass Subsidiarität ein verbindliches Rechtsprinzip des Unionsrechts ist.
- 11. Der Bundesrat unterstreicht erneut seine Auffassung, dass die Subsidiaritätsprüfung eine Prüfung der Zuständigkeit der EU mit einschließt (vergleiche BR-Drucksache 608/13(B) ).
- 12. In diesem Zusammenhang wiederholt der Bundesrat seine Forderung an die Kommission, besonders die im Wortlaut weit gefassten Kompetenzklauseln (wie die Binnenmarktkompetenz, Artikel 114 AEUV) selbstbeschränkend und behutsam zu nutzen, um dadurch Bürgernähe zu wahren und regionale Gestaltungsspielräume aufrechtzuerhalten (vergleiche die Stellungnahme des Bundesrates vom 25. September 2015 (BR-Drucksache 242/15(B) ). Dies gilt auch für die Kompetenzklausel des Artikels 352 AEUV, die die Kommission allerdings in geringerem Umfang heranzieht.
- 13. Der Bundesrat unterstützt im Hinblick auf das Ziel einer Reduzierung der Regelungsdichte die Empfehlung der Taskforce, die Arbeit innerhalb einzelner Politikbereiche effizienter und auf eine streng am Subsidiaritätsgedanken ausgerichtete Verteilung der Zuständigkeiten zwischen den verschiedenen Ebenen auszurichten. Dabei sollten die gesetzgebenden Organe auf eine zurückhaltende Verwendung von delegierten Rechtsakten achten.
- 14. Ferner fordert der Bundesrat die Kommission auf, unter sonst gleichen Gegebenheiten einer Richtlinie den Vorzug vor einer Verordnung zu geben. So können die grundsätzliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten im nicht ausschließlichen Kompetenzbereich geachtet und der den Mitgliedstaaten zustehende Gestaltungsspielraum gewahrt werden.
- 15. Der Bundesrat begrüßt, dass die Kommission den Vorschlag der Taskforce, die Weihnachts- bzw. Neujahrsferien bei der Berechnung der achtwöchigen Frist für die Einreichung begründeter Stellungnahmen durch die nationalen Parlamente unberücksichtigt zu lassen, unterstützt. Er fordert die Kommission auf, die hierzu angekündigte Konsultation der gesetzgebenden Organe zeitnah durchzuführen.
- 16. Mit Bedauern stellt der Bundesrat fest, dass die Kommission die von der Taskforce ausgesprochene Empfehlung, die Frist auf zwölf Wochen auszuweiten, ohne nähere Begründung unberücksichtigt gelassen hat. Im Bewusstsein dessen, dass es für eine solche Ausweitung einer Vertragsänderung bedürfte, bekräftigt der Bundesrat seine Position, dass eine Verlängerung und Flexibilisierung der Frist erforderlich ist, um den nationalen Parlamenten eine effizientere Kontrolle zu ermöglichen.
- 17. Der Bundesrat begrüßt die Absicht der Kommission, Standpunkte der nationalen Parlamente stärker in das Blickfeld zu rücken und auch dann eine Antwort in aggregierter Form auszuarbeiten, wenn der Schwellenwert für eine "gelbe Karte" zwar nicht erreicht wird, eine erhebliche Anzahl nationaler Parlamente jedoch ähnliche Bedenken äußert. Wichtig ist dabei eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Kritikpunkten der begründeten Stellungnahmen der Parlamente.
- 18. Der Bundesrat erneuert seine Forderung nach besseren Folgenabschätzungen. Er begrüßt grundsätzlich eine aktivere Einbindung lokaler und regionaler Behörden in frühen Phasen der politischen Entscheidungsprozesse und die beabsichtigte Änderung der Fragebögen zu öffentlichen Konsultation dahingehend, dass lokale und regionale Fragestellungen berücksichtigt werden. Er begrüßt weiter die Absicht der Kommission, ihre Leitlinien für eine bessere Rechtsetzung so zu ändern, dass relevante Auswirkungen auf lokaler und regionaler Ebene besser bewertet und dargestellt werden. Er gibt allerdings zu bedenken, dass die Verfahren nicht in bestehende Entscheidungsfindungsprozesse in den Mitgliedstaaten eingreifen sollten, damit Doppelstrukturen vermieden werden.
- 19. Der Bundesrat sieht mit Interesse, dass die Kommission bis zum Ende ihrer Amtszeit die REFIT-Plattform nutzen will, um bestehende Rechtsvorschriften unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität zu bewerten; eine nähere Untersuchung ist vor allem mit Blick auf delegierte Rechtsakte und Durchführungsrechtsakte sinnvoll. Eine aktive Subsidiaritätskontrolle im Sinne der Vorschläge der Taskforce setzt nach Ansicht des Bundesrates an dieser Stelle auch eine Prüfung voraus, ob der Erlass von delegierten Rechtsakten und Durchführungsrechtsakten in Bereichen zum Einsatz kommt, in denen die EU keine Zuständigkeit hat.
- 20. Der Bundesrat sieht mit Interesse die Initiative der Taskforce und des Ausschusses der Regionen (AdR) zur Einrichtung so genannter regionaler Stützpunkte ("regional hubs"), mit der die Erfahrungen der lokalen und regionalen Behörden wirksamer in die Politik der EU einfließen sollen. Er begrüßt, dass der AdR die Koordination der Aufgaben übernommen hat, und wird die aus der Pilotphase zu gewinnenden Erkenntnisse aufmerksam verfolgen.
- 21. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.