COM (2018) 218 final; Ratsdok. 8713/18
Der Bundesrat hat in seiner 969. Sitzung am 6. Juli 2018 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat würdigt den Vorschlag der Kommission, Personen, die Verstöße gegen EU-Recht melden, besonderen Schutz zukommen zu lassen. Aus Sicht des Bundesrates ist der Schutz von Hinweisgebern eine geeignete Maßnahme, um Rechtsverstöße und Missstände aufzudecken und eine ordnungsgemäße öffentliche Verwaltung zu gewährleisten. Insoweit begrüßt der Bundesrat Regelungen zum Schutz von Hinweisgebern grundsätzlich.
- 2. Er weist darauf hin, dass der Vorschlag die ihnen durch Artikel 291 Absatz 1 AEUV vorbehaltene Durchführungskompetenz der Mitgliedstaaten für das Unionsrecht verletzt und damit innerstaatlich in die Kompetenzen der Länder für die Einrichtung der Behörden und die Ausführung der Bundes- und Landesgesetze eingreift. Die Regelungen über die Begünstigung von Hinweisgebern, die Verstöße gegen Unionsrecht melden, dienen der Durchführung und Durchsetzung von Unionsrecht. Sie berühren damit die im unionalen Kompetenzgefüge innerstaatlich zu regelnden Fragen des Organisations-, Verwaltungsverfahrens-, Gesellschafts-, Arbeits-, Dienst-, Verfahrens- und Beihilferechts. Der Vorschlag zeigt auch keine Entwicklungen auf, die die beabsichtigte übergreifende und unionsweite einheitliche Regelung hinreichend zu rechtfertigen vermögen. Die Regelung der vielfältigen Konfliktlagen beim Schutz von Hinweisgebern im öffentlichen und nicht öffentlichen Bereich ist vielmehr sachgerecht und -näher der mitgliedstaatlichen Ebene vorzubehalten.
- 3. Der Bundesrat hat Bedenken hinsichtlich der Kompetenz der EU und der Wahrung des Subsidiaritätsprinzips, Artikel 5 Absatz 3 EUV. Artikel 109 AEUV berechtigt die EU zum Erlass von Durchführungsvorschriften des Rates zur Durchsetzung des Beihilfe- bzw. Durchführungsverbots. Hierunter fallen Verfahrensvorschriften, nach denen die Kommission ihre Beihilfekontrolle durchführt, oder auch Vorgaben zu Beschwerdemöglichkeiten von Wettbewerbern gegenüber der Kommission. Bestehende Vorschriften beinhalten auch Regelungen zu einer kooperativen, unverbindlichen Zusammenarbeit mitgliedstaatlicher Behörden mit der Kommission.
- 4. Er weist darauf hin, dass diese Ermächtigung in Artikel 109 AEUV es aber nicht erlaubt, dass die EU Vorgaben zu Beihilfekontroll-/-meldestrukturen innerhalb der Mitgliedstaaten macht, wie dies allerdings durch die externen Meldekanäle erfolgt. Eine Informationspflicht nationaler Behörden gegenüber der Kommission im Sinne eines grenzüberschreitenden Dienstweges stellt letztlich die Einführung "untergeordneter" (Beihilfe-)Behörden der Kommission dar. Zu solchen organisatorischen Eingriffen in die Verwaltungsstrukturen der Mitgliedstaaten hat die EU keine Kompetenz (Artikel 291 Absatz 1 AEUV).
- 5. Der Bundesrat erkennt darüber hinaus nicht, welchen Mehrwert Hinweise über rechtswidrige Beihilfen, die über nationale Behörden an die Kommission herangetragen werden, gegenüber Hinweisen haben, die unmittelbar bei der Kommission vorgetragen werden.
- 6. Dieser nicht belegte Mehrwert steht zudem in keinem Verhältnis zum Eingriff in die Organisationshoheit der Mitgliedstaaten, der durch die Weitergabepflicht nationaler Behörden an die Kommission entsteht.
- 7. Der Bundesrat zieht nicht in Zweifel, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, Beihilfevorschriften zu beachten. Welche Strukturen sie dazu schaffen, liegt allerdings einzig in ihrer Organisationshoheit. Durch den Kommissionsvorschlag wird für den Bereich der Beihilfekontrolle der Weg dazu geebnet, dass ein unter der Aufsicht der Kommission stehendes Netz aus Meldestellen in den Mitgliedstaaten entsteht, die parallel zu den mitgliedstaatlichen Verwaltungen existieren und deren Kontrolle entzogen sind.
- 8. Der Vorschlag berührt im Übrigen in besonderer Weise auch die Aufbau- und Ablauforganisation der Kommunen und tangiert damit die Pflicht zur Achtung der regionalen und lokalen Selbstverwaltung (Artikel 4 Absatz 2 Satz 1 EUV). Darüber hinaus werden durch die vorgesehenen Regelungen die Kommunen vielfältigen Belastungen unterworfen. Insbesondere die verpflichtend vorgesehene Schaffung interner Meldekanäle und Verfahren für die Berichterstattung, Weiterverfolgung und Weitergabe von Berichten sogenannte Hinweisgeber (innerhalb des insgesamt dreigliedrigen Meldesystems) erfordert einen enormen bürokratischen und personellen Aufwand in den betroffenen Kommunen. Es sollte einzelnen Kommunen unbenommen bleiben, sich dem Trend zum Hinweisgeberschutz eigenverantwortlich, freiwillig und EU-unabhängig anzuschließen und entsprechende Mechanismen zu installieren.
- 9. Der Bundesrat hat darüber hinaus erhebliche Bedenken gegen den Richtlinienvorschlag, soweit er in Artikel 4 privaten Unternehmen mit über 50 Beschäftigten bzw. mehr als 10 Millionen Euro Umsatz Pflichten zur Errichtung interner Kanäle und Verfahren für Meldungen von Rechtsverstößen und Folgemaßnahmen auferlegt. Dies führt zu einem übermäßigen Bürokratieaufbau und Kosten bei Unternehmen, die nicht im Verhältnis zum Ziel des Schutzes stehen. Auch bei der Grenze von 50 Beschäftigten oder einem Umsatz von 10 Millionen Euro werden noch viele kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) betroffen sein. Die Grenze erscheint zudem gegriffen und unterscheidet sich von anderen für Unternehmen geltenden Grenzwerten. Dies führt zu weiterer Bürokratie bei den Unternehmen. Auch die Sanktionen in Artikel 17 des Richtlinienvorschlags erscheinen unangemessen.
- 10. Der Bundesrat stellt fest, dass der Vorschlag der Kommission, zum Schutz von Whistleblowern die Einführung von gemeinsamen Mindeststandards vorzusehen, sowohl für den privaten als auch für den öffentlichen Sektor gelten soll. Es ist unklar, ob der Vorschlag mit dem weiten Begriff des öffentlichen Sektors auch die Gerichtsbarkeit umfassen soll. Eine Ausnahme für die justizielle Tätigkeit der Gerichte und Staatsanwaltschaften ist nicht ausdrücklich vorgesehen. Lediglich Artikel 4 Absatz 6 des Richtlinienvorschlags beschränkt die Pflicht zur Errichtung interner Meldesysteme bei Bund und Ländern auf "staatliche Verwaltungsstellen".
- 11. Unter dem Gesichtspunkt der Unabhängigkeit der Justiz bedarf es einer generellen Ausnahme. Auch eine Pflicht zur Errichtung eines externen Meldesystems steht mit der Unabhängigkeit der Justiz nicht in Einklang. Wenden die Gerichte und Staatsanwaltschaften im Rahmen ihrer justiziellen Tätigkeit europäisches Recht fehlerhaft an, stehen zur Korrektur Rechtsmittel zur Verfügung. Ein paralleles Melde- und Kontrollsystem der Verwaltung würde unter anderem gegen Artikel 47 der Grundrechtecharta verstoßen.
- 12. Der Bundesrat spricht sich daher für eine Klarstellung aus, dass die justizielle Tätigkeit dem Anwendungsbereich der Richtlinie nicht unterfällt.
- 13. Aus seiner Sicht trägt der Vorschlag den besonderen Geheimhaltungsverpflichtungen von Berufsgeheimnisträgern bislang keine Rechnung. Diese sollten wegen ihrer national geregelten Sonderstellung zum Schutz ihrer besonderen Datenschutzverpflichtungen a priori vom Anwendungsbereich des Vorschlags ausgenommen werden.
- 14. Der Bundesrat weist ferner darauf hin, dass im Bereich des Beamtenrechts auf nationaler Ebene dieses Ziel bereits durch ein sorgsam austariertes rechtsstaatliches System aus Vorschriften und Verfahren umgesetzt ist. Im Beamtenrecht unterliegen alle Beamtinnen und Beamte einer Beratungs- und Unterstützungspflicht, wonach sie den Dienstherrn über Missstände im dienstlichen Bereich zu unterrichten haben. Diese Pflichten gelten auch bei Verstößen im Zusammenhang mit EU-Recht. Allerdings gebietet es die beamtenrechtliche Verschwiegenheitspflicht, das Vorliegen von Missständen vertraulich anzuzeigen und den vorgeschriebenen Dienstweg einzuhalten. Beamtinnen und Beamte, die sich pflichtgemäß verhalten, sind keinen Sanktionen und Repressalien ausgesetzt. Die hohen rechtsstaatlichen Anforderungen an ein rechtsförmliches Verfahren gerade im Beamten- und Disziplinarrecht gewährleisten einen umfassenden Schutz von Hinweisgebern im öffentlichen Dienst.
- 15. Die Erstreckung des Richtlinienvorschlags auf das Beamtenrecht ist daher nicht erforderlich und vor dem Hintergrund der Bereichsausnahme des Artikels 45 Absatz 4 AEUV und des Subsidiaritätsgrundsatzes zweifelhaft. Die Umsetzung dieses Ziels wird auf nationaler Ebene auch effektiver verwirklicht als auf Unionsebene, sodass der Bundesrat die Gefahr sieht, dass der Richtlinienvorschlag über das zur Erreichung der Ziele erforderliche Maß hinausgeht. Ausnahmen von der beamtenrechtlichen Verschwiegenheitspflicht und das Disziplinarrecht fallen ausschließlich in die Gesetzgebungskompetenz der Mitgliedstaaten. Der Bundesrat weist darauf hin, dass die im Richtlinienentwurf genannten Ermächtigungsgrundlagen nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung keine Rechtsetzungsbefugnisse der EU im Beamtenrecht begründen.
- 16. Der Bundesrat bittet deshalb die Bundesregierung, sich bei der Kommission dafür einzusetzen, den öffentlichen Dienst aus dem Anwendungsbereich des Richtlinienvorschlags auszunehmen und die Rechtsetzungskompetenz der Mitgliedstaaten für das Recht des öffentlichen Dienstes uneingeschränkt und dauerhaft zu erhalten.
- 17. Er regt ferner an, in dem Vorschlag Ausnahmen bei schwerwiegenden Verletzungen von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen zu treffen oder den Mitgliedstaaten Abweichungen zu ermöglichen. Der Schutz von "Whistleblowern" steht im Spannungsverhältnis zum Schutz von dienst- oder arbeitsrechtlichen Loyalitäts- und Geheimhaltungspflichten. Den Mitgliedstaaten sollte deshalb vorbehalten bleiben, zumindest für besonders schwerwiegende Fälle einer Verletzung solcher Geheimhaltungsverpflichtungen Sonderreglungen zu treffen, um einen verhältnismäßigen Ausgleich der kollidierenden Rechtsgüter zu gewährleisten.
- 18. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.