948. Sitzung des Bundesrates am 23. September 2016
A
- 1. Der federführende Rechtsausschuss empfiehlt dem Bundesrat, die Entschließung in nachfolgender Fassung anzunehmen:
'Entschließung des Bundesrates "Freies Gesicht im rechtsstaatlichen Gerichtsverfahren"
Die Bundesregierung wird aufgefordert, zur Gewährleistung der Identitätsfeststellung und der Wahrheitserforschung unter angemessener Berücksichtigung der Grundrechte gesetzlich zu regeln, dass Verfahrensbeteiligte in Gerichtsverhandlungen ihr Gesicht weder ganz noch teilweise verdecken dürfen.
Begründung:
Weder das Gerichtsverfassungsgesetz noch die einzelnen Verfahrensordnungen sehen bislang spezifische Regelungen vor, ob Verfahrensbeteiligte ihr Gesicht in Gerichtsverhandlungen verdecken dürfen und wie in entsprechenden Fällen zu verfahren ist. Das geltende Recht ermöglicht den Gerichten zwar, die Abnahme verdeckender Elemente im Einzelfall nach pflichtgemäßem Ermessen anzuordnen oder aber davon Abstand zu nehmen. Im Interesse der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit sollte bei Betroffenen wie Gerichten hierüber jedoch schon aufgrund des Gesetzeswortlautes Gewissheit herrschen - nicht zuletzt, um zeitraubende Auseinandersetzungen zu vermeiden und eine effiziente Verfahrensführung zu ermöglichen.
Das in Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes verankerte Rechtsstaatsprinzip gebietet den Gerichten, den wahren Sachverhalt bestmöglich aufzuklären. Das Gericht muss sich grundsätzlich über die Identität von Verfahrensbeteiligten Gewissheit verschaffen und alle - auch aussagepsychologischen - Erkenntnisquellen einschließlich Mimik ausschöpfen, um materielle Gerechtigkeit zu schaffen und Fehlentscheidungen zu vermeiden. Eine offene, auch nonverbale Kommunikation zählt darüber hinaus zu den tragenden Elementen einer effektiven Verhandlungsführung. Ein ganz oder teilweise verdecktes Gesicht steht einer solchen entgegen und darf daher in aller Regel vor Gericht nicht hingenommen werden.
Für den Rechtsstaat ist die Wahrheitserforschung vor Gericht gleichermaßen zentrale Aufgabe wie Verpflichtung. Der demokratisch legitimierte Gesetzgeber sollte der gerichtlichen Praxis im Interesse der Rechtssicherheit eine klarstellende Regelung an die Hand geben, wie das normative Spannungsverhältnis zwischen der aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden zentralen Aufgabe und Verpflichtung der Gerichte zur Wahrheitserforschung und den grundrechtlich geschützten Positionen der Verfahrensbeteiligten im Einzelfall zu lösen ist.'
Begründung (nur gegenüber dem Plenum):
Der Entschließungsantrag (BR-Drucksache 341/16 (PDF) ) zielt darauf ab, ein Verbot der vollständigen oder teilweisen Verdeckung des Gesichts im Gerichtssaal gesetzlich zu verankern und rechtfertigt in seiner Begründung damit verbundene Eingriffe in die Religionsfreiheit mit der verfassungsimmanenten Schranke des Rechtsstaatsprinzips.
Der Änderungsvorschlag verfolgt bei Beibehaltung des Grundanliegens die Klarstellung, dass die geforderte gesetzliche Regelung eine Abwägung etwaig kollidierender Grundrechte der Verfahrensbeteiligten (wie zum Beispiel die Religionsfreiheit oder das Recht auf körperliche Unversehrtheit bei verdeckten Ermittlern oder anderen schutzwürdigen Personen) im Einzelfall ermöglichen muss, aber die dabei grundsätzlich zu berücksichtigenden Kriterien der gerichtlichen Praxis an die Hand geben soll.
B
- 2. Der Ausschuss für Frauen und Jugend empfiehlt dem Bundesrat, die Entschließung nicht zu fassen.