925. Sitzung des Bundesrates am 19. September 2014
A
Der Ausschuss für Innere Angelegenheiten empfiehlt dem Bundesrat, zu der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. Der Bundesrat erkennt an, dass nach Vorliegen des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 6. Juni 2013 (Rechtssache C-648/11, MA und andere gegen Secretary of State for the Home Department) Änderungsbedarf zu prüfen ist hinsichtlich Artikel 8 Absatz 4 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist ("Dublin-III-Verordnung"). Hierauf hatten sich Rat, Europäisches Parlament und Kommission in einer gemeinsamen Erklärung zur Dublin-III-Verordnung auch verständigt.
- 2. Der Bundesrat unterstützt es ausdrücklich, dass die Berücksichtigung des Kindeswohls eine vorrangige Erwägung bei der Änderung des Artikels 8 Absatz 4 der Dublin-III-Verordnung sein muss. Dies hat auch der EuGH in seiner Entscheidung herausgestellt.
- 3. Die Kommission folgert aus dem Urteil des EuGH, dass aus Gründen des Kindeswohls Überstellungen von unbegleiteten Minderjährigen im Dublin-Verfahren grundsätzlich nicht mehr möglich sein sollen und der Anknüpfungspunkt für die Zuständigkeitsbestimmung im Asylverfahren regelmäßig der tatsächliche Aufenthaltsort sein müsse.
Der Bundesrat hält diese Begründung für nicht zwingend.
- 4. Zum einen merkt der Bundesrat an, dass der EuGH zu einer Regelung der Vorgängerverordnung zur Dublin-III-Verordnung entschieden hat, der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist. Der EU-Gesetzgeber wird dadurch nicht gehindert, in der Dublin-III-Verordnung eine abweichende Regelung zu treffen, soweit primärrechtliche Bestimmungen nicht entgegenstehen.
- 5. Zum anderen und vor allem sieht der Bundesrat die Gefahr, dass der Anreiz geschaffen wird, von einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat zur weiteren und nochmaligen Asylantragstellung weiterzureisen. Wird bei unbegleiteten Minderjährigen für die Zuständigkeit im Regelfall nur noch an den tatsächlichen Aufenthalt angeknüpft, ist zu befürchten, dass vor allem mit Hilfe von Schleppern in noch größerem Umfang als bisher versucht wird, diejenigen Mitgliedstaaten zu erreichen, die sich am Ende der Reisewege vieler Asylsuchender befinden, wozu insbesondere auch die Bundesrepublik Deutschland zählt. Mit dem Kindeswohl ist dies nicht zu vereinbaren.
- 6. Mit der vorgeschlagenen Neuregelung dürfte eine Veränderung der Verteilungsquote zu Lasten der Mitgliedstaaten einhergehen, die sich am Ende der Reisewege der Asylsuchenden befinden; eine stärkere Belastung der Bundesrepublik Deutschland ist zu erwarten. Bereits jetzt sind die Träger der öffentlichen Jugendhilfe sowie die freien Träger bei der Betreuung der unbegleiteten Minderjährigen erheblichen Belastungen organisatorischer und finanzieller Art ausgesetzt. Durch die vorgeschlagene Neuregelung werden diese aufgrund des zu erwartenden Anstiegs an unbegleiteten Minderjährigen noch zunehmen. Es besteht zudem die Gefahr, dass bei hohen Konzentrationen von unbegleiteten Minderjährigen in den favorisierten Zielstaaten die Sicherung des Kindeswohls im Sinne der Jugendhilfe durch eine Überlastung der Jugendhilfeeinrichtungen nicht mehr in ausreichendem Maße gewährleistet werden kann.
- 7. Der Bundesrat weist auch darauf hin, dass durch die vorgeschlagene Neuregelung zu erwarten ist, dass Kinder unbegleitet vorgeschickt werden, um eine spätere Familienzusammenführung in der Bundesrepublik Deutschland zu erreichen. Dies widerspricht den Verteilungsgrundsätzen der Dublin-III-Verordnung und es ist auch nicht im Sinne des Kindeswohls, wenn Kinder von ihren Familien zu diesem Zweck getrennt werden.
- 8. Auch ist damit zu rechnen, dass die vorgeschlagene Neuregelung den Anreiz erhöht, sich zu Unrecht als minderjährig auszugeben. Die Feststellung des Alters dieser Personen, die auch im Interesse der tatsächlich Minderjährigen geboten ist, ist nur mit großem Verwaltungsaufwand und oft auch gar nicht möglich. Der Bundesrat regt deshalb an, die vorgesehene Neuregelung zumindest auf diejenigen Personen zu beschränken, deren Minderjährigkeit offensichtlich oder nachgewiesen ist.
- 9. Der Bundesrat gibt zu bedenken, dass durch die Möglichkeit, von einem Mitgliedstaat zum nächsten zur weiteren und nochmaligen Asylantragstellung weiterzureisen, die Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (Neufassung), konterkariert wird. Diese Richtlinie verfolgt als wichtiger Teil des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) das Ziel, in allen Mitgliedstaaten vergleichbare Lebensbedingungen herzustellen.
- 10. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung daher, sich auf europäischer Ebene bei den Beratungen des Verordnungsvorschlags dafür einzusetzen, dass unter Zugrundelegung der in den vorhergehenden Ziffern genannten Erwägungen zum einen die für die Bundesrepublik Deutschland zu befürchtenden Auswirkungen angemessen berücksichtigt werden und zum anderen die vorgeschlagene Neuregelung unter Kindeswohlgesichtspunkten kritisch bewertet und hinterfragt wird. Unter letztgenannten Gesichtspunkten sollten von der Kommission Alternativen geprüft werden.
B
- 11. Der Ausschuss für Frauen und Jugend empfiehlt dem Bundesrat, von der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG Kenntnis zu nehmen.
C
Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union hat von einer Empfehlung zu der Vorlage an den Bundesrat abgesehen.