Der Bundesrat hat in seiner 917. Sitzung am 29. November 2013 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat nimmt den Bericht der Kommission "Jahresbericht 2012 über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit" zur Kenntnis.
- 2. Er begrüßt ausdrücklich die gesteigerte Qualität des Berichts, der konkreter und inhaltsreicher als die Vorgängerberichte ist, weil er neben dem kommissionsinternen Verfahren zur Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips im Rahmen der Folgenabschätzungen auf die Bemühungen des Europäischen Parlaments und des Ausschusses der Regionen um eine Verbesserung der Subsidiaritätsprüfung eingeht. Zudem wird der Umgang der nationalen Parlamente mit dem Subsidiaritätsfrühwarnmechanismus wie schon im Vorjahr vergleichend dargestellt.
- 3. Der Bundesrat verfolgt diese Entwicklungen in den Institutionen aufmerksam. Er wird sich aktiv an der interinstitutionellen Debatte beteiligen.
- 4. Der Bundesrat begrüßt, dass das Europäische Parlament wie vom Bundesrat zuletzt im Zusammenhang mit der Verbesserung der Folgenabschätzung angeregt (BR-Drucksache 631/10(B) , Ziffer 17) inzwischen die verfahrensmäßigen und personellen Voraussetzungen für eigene Folgenabschätzungen geschaffen hat, und befürwortet die Entwicklungen im Europäischen Parlament und im Ausschuss der Regionen, die der Verbesserung der Verfahren zur Handhabung der Subsidiaritätsprüfung eine besondere Priorität eingeräumt haben.
- 5. Er weist auf die unterschiedlichen Auffassungen über die Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit auf mitgliedstaatlicher und europäischer Ebene hin. Er betont, dass dies Konsequenzen für die Durchsetzung des Prinzips in der Praxis hat.
- 6. Der Bundesrat unterstützt die Diskussion zur Handhabbarmachung dieser Grundsätze. Sie trägt zur Herausbildung eines gemeinsamen Verständnisses von Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit bei. Der Bundesrat begrüßt wie schon in seiner Stellungnahme vom 26. März 2010 (vgl. BR-Drucksache 745/09(B) , Ziffer 5) die von der Kommission vorgenommenen Konkretisierungen im Rahmen ihrer 2009 überarbeiteten Leitlinien für die Durchführung von Folgenabschätzungen als wichtigen Fortschritt für eine kommissionsinterne Subsidiaritätsprüfung. Die neuen Verfahren haben zu mehr Transparenz und zu einer stärkeren Beachtung des Subsidiaritätsprinzips beigetragen. Die in den Leitlinien angelegte zweistufige Prüfung des Subsidiaritätsgrundsatzes ist jedoch aus Sicht des Bundesrates nicht ausreichend.
- 7. Der Bundesrat unterstreicht in diesem Zusammenhang seine Auffassung, wonach die Subsidiaritätsprüfung auch eine Prüfung der Zuständigkeit der EU zwingend mit einschließt. Der Grundsatz der Subsidiarität ist aus Sicht des Bundesrates ein Kompetenzausübungsprinzip. Aus Sicht des Bundesrates kann daher auch ein Verstoß gegen die Kompetenzordnung eine Subsidiaritätsrüge begründen. Es wäre widersprüchlich, wenn die nationalen Parlamente zwar Verstöße gegen das Subsidiaritätsprinzip, nicht aber den noch schwerer wiegenden Eingriff, den ein Handeln der EU ohne Zuständigkeit darstellt, rügen könnten.
- 8. Vor diesem Hintergrund stellt der Bundesrat erneut klar, dass in Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit bei jedem Rechtsakt im Einzelnen begründet und nachgewiesen werden muss, warum die Ziele einer Maßnahme der EU nicht ausreichend auf zentraler, regionaler oder lokaler Ebene erreicht werden können. Als zweite Bedingung muss hinzutreten, dass die Maßnahme wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen ist. Der europäische Mehrwert einer Maßnahme muss deutliche Vorteile mit sich bringen - sowohl in qualitativer wie in quantitativer Hinsicht (vgl. BR-Drucksache 745/09(B) , Ziffer 6).
- 9. Der Bundesrat spricht sich nachdrücklich dafür aus, dass der Grundsatz der Subsidiarität bei Erlass von Gesetzesvorhaben in den Folgenabschätzungen zukünftig stärkere Berücksichtigung findet und sich in den Berichten der Kommission konkretere Hinweise hierzu abbilden.
- 10. Er erachtet es als sinnvoll, dass der Darstellung der Einzelfälle von begründeten Stellungnahmen der nationalen Parlamente im Berichtsjahr eine besondere Bedeutung beigemessen wird. Dadurch können die Mitgliedstaaten bewerten, inwiefern diese Prinzipien in der Praxis beachtet werden, und ob die Stellungnahmen der nationalen Parlamente tatsächlich Auswirkungen auf die Rechtsetzungstätigkeit haben. Zudem erhalten sie einen Überblick, welche anderen nationalen Parlamente ebenfalls die Verletzung der Grundsätze rügen. Der Bundesrat erkennt an, dass die Kommission sich in ihrem Bericht ausführlich mit drei wichtigen Fällen auseinandersetzt, in denen ihr eine erhebliche Anzahl von begründeten Stellungnahmen von den nationalen Parlamenten zugegangen ist.
- 11. Der Bundesrat begrüßt es ausdrücklich, dass die Kommission im ersten Fall seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, in dem das erforderliche Quorum für das "Gelbe-Karte-Verfahren" erreicht wurde (sogenannter "Monti II"-Vorschlag; BR-Drucksache 158/12 (PDF) , COM (2012) 130 final), ihren Vorschlag im Ergebnis zurückgezogen hat, auch wenn sie selbst im Rahmen ihrer Überprüfung (nach Artikel 7 Absatz 2 des Protokolls (Nr. 2) zum Vertrag von Lissabon) keine Verletzung des Subsidiaritätsprinzips erkannt hat. Er fordert die Kommission jedoch auf, sich zukünftig jeweils in engem zeitlichen Zusammenhang mit ihrer Entscheidung mit den Kritikpunkten der begründeten Stellungnahmen der Parlamente auseinanderzusetzen.
- 12. Der Bundesrat fordert angesichts des Erreichens des Quorums bei dem Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft (BR-Drucksache 631/13 (PDF) , COM (2013) 534 final) eine solche inhaltliche Auseinandersetzung der Kommission.
- 13. Er begrüßt es außerdem, dass die Kommission in ihrem Bericht die im Jahr 2012 beschlossene Strategie des Ausschusses der Regionen (AdR) zur Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips würdigt. Dies gilt insbesondere für den Ansatz, die Subsidiaritätsprüfung bereits im Vorfeld des Gesetzgebungsvorschlags anzusetzen und in seinen Stellungnahmen verstärkt zu berücksichtigen. Der AdR kann mit seinen Aktivitäten und Strukturen die europäische Ebene für Subsidiaritätsfragen sensibilisieren und im Zusammenhang mit der Subsidiaritätskontrolle zur Netzwerkbildung in Europa beitragen.
- 14. Der Bundesrat sieht in den regelmäßigen Treffen der Vertreterinnen und Vertreter der nationalen Parlamente in Brüssel (sogenannte "Monday Morning Meetings") einen ersten geeigneten Schritt für eine bessere Vernetzung und Abstimmung der nationalen Parlamente auch in Subsidiaritätsfragen.
- 15. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.