904. Sitzung des Bundesrates am 14. Dezember 2012
Der federführende Ausschuss für Familie und Senioren (FS), der Ausschuss für Frauen und Jugend (FJ) und der Finanzausschuss (Fz)
- 1. empfehlen dem Bundesrat, zu dem vom Deutschen Bundestag am 9. November 2012 verabschiedeten Gesetz gemäß Artikel 77 Absatz 2 des Grundgesetzes die Einberufung des Vermittlungsausschusses mit dem Ziel der Aufhebung des Gesetzesbeschlusses zu verlangen.
Begründung:
- 2. Der Bundesrat hält die Einführung eines Betreuungsgeldes für verfehlt, weil es Kinder vom Bildungsangebot der Kindertagesstätte abhält und überholte Rollenvorstellungen über die Aufteilung von Familien- und Erwerbsarbeit verfestigt.
Das Betreuungsgeld setzt bildungs- und integrationspolitisch falsche Anreize, weil es Kindern den Zugang zu frühkindlicher Bildung und gesellschaftlicher Teilhabe verschließt. Zudem werden mit dem Gesetz finanzielle Anreize geschaffen, die Bildungsbeteiligung von Kindern und die Erwerbstätigkeit von Eltern zu verringern statt zu erhöhen. Denn mit dem Betreuungsgeld wird ein finanzieller Anreiz geschaffen, dass Familien auf die Einlösung des Rechtsanspruchs auf die frühe Förderung ihrer Kinder in Kindertageseinrichtungen und in der Kindertagespflege verzichten.
- 3. Ausdrücklich wird festgestellt, dass der Bundesrat sich nicht gegen die eigenverantwortlich getroffene Entscheidung der Eltern stellt, ihr Kind ausschließlich im elterlichen Haushalt oder privat zu betreuen und diese Betreuungsformen einer Nutzung von öffentlich angebotenen Formen der Bildung, Erziehung und Betreuung für Kinder unter drei Jahren vorzuziehen. Es trifft aber nicht zu, dass das Betreuungsgeld eben dem Gebot der Wahlfreiheit folgt. Denn hierfür benötigen die Eltern ausreichende Plätze in den Einrichtungen oder in der Tagespflege. Vielmehr besteht daher eine echte Wahlfreiheit für Familien erst dann, wenn ein bedarfsdeckendes Angebot an Kindertageseinrichtungen zur Verfügung steht und sie tatsächlich auch auswählen können. Dies aber wird mit dem Gesetz nicht erreicht und auch nicht angestrebt.
Das Betreuungsgeld steht zudem im Widerspruch zu entscheidenden familienpolitischen Weichenstellungen der letzten Jahre - wie der Einführung des Elterngeldes (das einen Anreiz zum frühen Wiedereinstieg in die Erwerbstätigkeit und zur partnerschaftlichen Aufteilung der Kinderbetreuung bietet), der Reform des Unterhaltsrechts (die durch die Einschränkung des Betreuungsunterhalts einen Anreiz zum frühen Wiedereinstieg setzt) und vor allem dem Ausbau der Kinderbetreuungsinfrastruktur für Kinder unter drei Jahren. Wer arbeitet, verliert doppelt durch die Zahlung des Krippenplatzes und den Verzicht auf das Betreuungsgeld. Damit werden die falschen Anreize beim Krippenausbau gesetzt.
Die - auch aktuell von der OECD - als ineffizient kritisierte Transferlastigkeit des deutschen Systems der Familienleistungen wird weiter verstärkt.
- 4. Das Betreuungsgeld ist nicht zuletzt unter finanz- und wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten verfehlt. Internationale Erfahrungen zeigen, dass entsprechende Leistungen in der Tendenz zu einem Rückgang der Erwerbsbeteiligung von Müttern und bei der Nutzung frühkindlicher Bildungs- und Betreuungseinrichtungen führen. Eine sinkende Erwerbsbeteiligung ist vor allem bei Müttern mit geringerem Bildungsgrad zu erwarten, für die eine kontinuierliche Erwerbsbiographie im Interesse einer eigenständigen Alterssicherung besonders wichtig wäre. Zudem steht zu befürchten, dass von einer zurückgehenden Nutzung von Kindertageseinrichtungen insbesondere Kinder betroffen wären, die von einer qualitativ hochwertigen frühkindlichen Betreuung individuell besonders stark - und auch mit besonders positiven gesamtgesellschaftlichen Effekten - profitieren würden.
- 5. Vor diesem Hintergrund müssen die erheblichen Haushaltsmittel, die für das Betreuungsgeld eingesetzt werden sollen, stattdessen für den weiteren quantitativen und qualitativen Ausbau entwicklungsfördernder Bildungs- und Betreuungsangebote für unter dreijährige Kinder eingesetzt werden.
- 6. Das Betreuungsgeld ist auch gleichstellungspolitisch ein Schritt in die falsche Richtung, denn es ist ein Anreiz und trägt dazu bei, dass insbesondere Frauen die Wiederaufnahme einer existenzsichernden Erwerbstätigkeit aufschieben. Es konterkariert damit die Bemühungen von Bund und Ländern, dem zunehmenden Fachkräftebedarf unter anderem durch eine stärkere Erwerbstätigkeit von Frauen zu begegnen.
Zudem hat der Bundesrat erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken gegen das Gesetz:
- 7. Nach Artikel 3 Absatz 2 GG sind Männer und Frauen gleichberechtigt und der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin. Das Betreuungsgeld verfestigt jedoch die an traditionellen Rollenvorstellungen orientierte Aufteilung von Familienführung und Erwerbsarbeit. Auch muss nach Artikel 6 Absatz 1 GG grundsätzlich jede Familie dem Staat gleich viel wert sein und Familienförderung allen zu Gute kommen. Will der Staat Familienförderung auf bestimmte Typen von Familie beschränken, muss er dafür gute Gründe haben. Die mit dem Betreuungsgeld verfolgten Ziele sind nicht geeignet, die durch das Betreuungsgeld verursachte Ungleichbehandlung verschiedener Familienformen zu rechtfertigen. Nach Artikel 3 Absatz 1 GG sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich. Wenn der Gesetzgeber im Rahmen seiner Familienförderaufgabe eine neue Sachleistung einführt, darf er keine Gruppe unzulässig begünstigen oder benachteiligen. Die Begründung, das Betreuungsgeld sei eine Kompensation für diejenigen, die keinen öffentlichen Betreuungsplatz in Anspruch nehmen, ist nicht nachvollziehbar, da den Eltern, die ihre Kinder selbst betreuen, kein Schaden dadurch entsteht, dass andere Eltern Betreuungsplätze nutzen.
Der Bundesrat bezweifelt, dass eine Gesetzgebungskompetenz des Bundes gemäß Artikel 74 Absatz 1 Nummer 7 in Verbindung mit Artikel 72 Absatz 2 GG gegeben ist:
Der Bund hat auf dem Gebiet der öffentlichen Fürsorge, dem das Betreuungsgeld zuzuordnen ist, nur dann ein Gesetzgebungsrecht, wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht. Laut der Begründung zum Gesetzentwurf sollen die zwischen neuen und alten Ländern bestehenden erheblichen Unterschiede hinsichtlich der Verfügbarkeit der Angebote im Bereich der frühkindlichen Betreuung und die daraus resultierenden unterschiedlichen Betreuungsquoten eine bundesgesetzliche Regelung erfordern, um gleichwertige Lebensverhältnisse im Bundesgebiet herzustellen. Das Betreuungsgeld bewirkt jedoch gerade nicht, die Betreuungsquote mit dem Ziel der Vereinheitlichung zu verbessern. Vielmehr soll das behauptete Ungleichgewicht zwischen "öffentlich geförderten" Eltern mit staatlicher Kinderbetreuung und Eltern mit innerfamiliärer Kinderbetreuung ohne Inanspruchnahme staatlicher Subventionen für außerhäusliche Kinderbetreuung abgebaut werden. Damit würden aber nicht die Lebensverhältnisse in den Ländern gleichwertiger.