899. Sitzung des Bundesrates am 6. Juli 2012
A
Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union (EU), der Ausschuss für Arbeit und Sozialpolitik (AS) und der Gesundheitsausschuss (G) empfehlen dem Bundesrat, zu der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt, dass die Mitteilung der Kommission "Einen arbeitsplatzintensiven Aufschwung gestalten" der sozialen Dimension der Krise in der EU Rechnung trägt, und unterstützt das Ziel der Kommission, die Beschäftigungssituation in der EU vor dem Hintergrund der hohen Arbeitslosenzahlen zu verbessern.
- 2. Der Bundesrat teilt die Auffassung der Kommission, dass eine Stärkung der Koordinierung der Beschäftigungspolitik auf europäischer Ebene bei der Verfolgung dieses Ziels hilfreich sein kann.
- 3. Der Bundesrat betont in diesem Zusammenhang, dass bei einer erfolgreichen Umsetzung der Grundsätze für Flexibilität und Arbeitsplatzsicherheit ("Flexicurity") ein ausgewogenes Verhältnis der Ansätze notwendig ist und Reformen sich an dieser Ausgewogenheit orientieren müssen.
- 4. Der Bundesrat begrüßt das Bestreben einer engeren Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten, um die Auswirkungen von illegaler Beschäftigung und Schwarzarbeit weiter einzudämmen. Die geplante Festlegung gemeinsamer Grundsätze für Inspektionen darf jedoch nicht dazu führen, dass Mitgliedstaaten strengere Regelungen nicht mehr möglich sind.
- 5. Der Bundesrat lehnt die Einrichtung eines dreigliedrigen Modells für das Monitoring und den Austausch über Lohn- und Gehaltsentwicklungen im Verhältnis zu Produktivität, Inflation und Binnennachfrage, Arbeitslosigkeit und Einkommensungleichgewichten ab, auch wenn dies unter Achtung der Autonomie der Sozialpartner gemäß Artikel 152 AEUV erfolgen soll.
- 6. Für die Gestaltung der Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung liegt die Verantwortung allein bei den Mitgliedstaaten, der EU stehen in diesem Bereich keine Legislativbefugnisse zu. Dahingehende Forderungen lehnt der Bundesrat ab.
- 7. Der Bundesrat weist darauf hin, dass die künftige Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt auch eine entscheidende Bedeutung für die Alterssicherungspolitik hat. Denn das Erwerben von Ansprüchen in der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung und deren Finanzierung knüpft vor allem an Erwerbstätigkeit an. Allerdings wird neben der gesetzlichen Rentenversicherung künftig ebenfalls der zusätzlichen Altersvorsorge eine stärkere Rolle zukommen. Dieser Rolle wird sie aber nur gerecht werden können, wenn auch die Rahmenbedingungen dafür stimmen. Vor diesem Hintergrund bekräftigt der Bundesrat insbesondere seine ablehnende Haltung gegenüber einer Richtlinie zur Übertragbarkeit von betrieblichen Renten und Pensionen. Aus seiner Sicht birgt jeder Harmonisierungsversuch die Gefahr, dass sich dadurch die Kosten erhöhen können, mit entsprechend negativen Folgen für den Auf- und Ausbau der freiwilligen betrieblichen Altersversorgung in Deutschland. Zudem würde bei einer sehr geringen Unverfallbarkeitsfrist die betriebliche Altersversorgung ihre wichtige Bedeutung als personalpolitisches Instrument zur Mitarbeiterbindung verlieren (vgl. BR-Drucksache 094/12(B) ).
- 8. Der Bundesrat begrüßt, dass in der Mitteilung die herausgehobene Bedeutung der Europäischen Kohäsionspolitik im Allgemeinen und des Europäischen Sozialfonds im Besonderen dargestellt ist. Die von der Kommission vorgestellten strategischen mittelfristigen Leitlinien, die sich auf die beschäftigungspolitischen Ziele der Strategie Europa 2020 beziehen, erscheinen angemessen. Der Versuch der Kommission, die Arbeitsmarktpolitik der Mitgliedstaaten, bei deren inhaltlicher Ausrichtung und Finanzierung der Europäische Sozialfonds vor allem für die deutschen Länder von wachsender Bedeutung ist, in eine Gesamtstrategie der aktuellen Krisenintervention einzubeziehen, wird begrüßt.
- 9. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass dem Netzwerk der Europäischen Arbeitsverwaltungen (EURES) eine große Bedeutung bei der Schaffung eines europäischen Arbeitsmarktes zukommt und dass die Möglichkeiten, die EURES hinsichtlich der Förderung der Mobilität von Beschäftigten bietet, noch besser genutzt werden können. Gleichwohl sieht der Bundesrat die von der Kommission angedachte Fokussierung von EURES auf die Abstimmung von Angebot und Nachfrage und Arbeitsvermittlung als zu kurz gegriffen. Vielmehr muss auch in Zukunft die Beratungsleistung der EURES-Berater zu praktischen Fragen des Arbeitens und der sozialen Absicherung im Ausland, wie zum Beispiel Arbeitslosigkeit, Krankheit, Besonderheiten bei Leiharbeit, Wiedereingliederungsmaßnahmen, sowie die Absicherung bei Invalidität und Arbeitsunfällen, im Vordergrund stehen.
- 10. Der Bundesrat betont, dass das Gelingen von Übergängen nicht nur für junge Menschen von der Ausbildung ins Berufsleben, sondern vor allem auch für Frauen und Männer nach einer Familienphase der Kinderbetreuung oder der Pflege von Angehörigen gilt. Gerade auch hier liegt ein hohes Potenzial an qualifizierten Arbeitskräften, deren Probleme im Übergang wie Einbußen/Ungleichheit in der Entlohnung und fehlende Betreuungsmöglichkeiten auch im europäischen Kontext noch stärker thematisiert werden sollten.
- 11. Der Bundesrat stimmt der Aussage zu, dass der Bereich der Erneuerbaren Energien sowie die Gesundheits- und Sozialbranchen ein hohes Beschäftigungspotenzial bergen. Im Rahmen der Energiewende gilt es allerdings auch, möglicherweise wegfallende Beschäftigung zu berücksichtigen und diese Entwicklung entsprechend zu begleiten.
- 12. Der Bundesrat teilt insbesondere die Auffassung der Kommission, dass im Gesundheits- und Sozialwesen in den kommenden Jahren neue Arbeitsplätze entstehen werden und dass es eine erhebliche Herausforderung für die Mitgliedstaaten darstellen wird, den Fachkräftebedarf in diesen Bereichen zu decken.
- 13. Der Bundesrat begrüßt die Mobilität von Fachkräften. Er ist allerdings nicht der Ansicht, dass eine erhöhte Mobilität innerhalb der EU allein bereits eine tragfähige Lösung zur Vermeidung des Fachkräftemangels im Gesundheitswesen ist. Angesichts einer insgesamt recht ähnlichen demografischen Situation stehen alle Mitgliedstaaten vor der Herausforderung, in einer alternden Gesellschaft medizinische Versorgung und Pflege, die zunehmend weniger durch Familienangehörige gewährleistet werden kann, durch das Gesundheits- und Sozialsystem abzusichern. Daher stehen die Mitgliedstaaten bei der Fachkräftegewinnung in Konkurrenz zueinander. Es besteht die Gefahr, dass die Abwanderung von einheimischen Fachkräften in finanzstärkere Gesundheitssysteme die medizinische und pflegerische Versorgung in einigen Mitgliedstaaten gefährdet.
- 14. Insbesondere in den Gesundheits- und Sozialbranchen ist neben den Auswirkungen der immer älter werdenden Bevölkerung auf den Bedarf an Personal im Gesundheitswesen auch der steigende Anteil an älteren Beschäftigten zu berücksichtigen. Um die künftigen Fachkräftebedarfe zu sichern, müssen die Arbeitsplätze es den Beschäftigten durch eine entsprechend alternsgerechte Ausgestaltung ermöglichen, länger im Erwerbsleben zu verbleiben. Hierzu gehören insbesondere Maßnahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung und des Arbeitsschutzes. Eine entsprechend angepasste Arbeitsplatzgestaltung und Arbeitsorganisation darf dabei nicht erst bei älteren Mitarbeitern ansetzen, vielmehr muss die Leistungsfähigkeit bereits in jüngeren Jahren vor einem vorzeitigen Verschleiß bewahrt werden.
- 15. Der Bundesrat hält den intensiven Austausch zwischen den Mitgliedstaaten zu bewährten Verfahren und tragfähigen Konzepten für sinnvoll. Die beteiligten Akteure können Instrumente, die innerhalb ihrer Gesundheits- und Sozialsysteme sinnvoll einsetzbar sind, erproben und übernehmen. Der Erlass von zentralen Leitlinien zum Austausch von Ausbildungskapazitäten fällt allerdings nicht in die Kompetenz der Kommission und ist angesichts der Unterschiedlichkeit der Gesundheits- und Sozialsysteme auch nicht sinnvoll.
- 16. Der Bundesrat hat Bedenken gegen die Sammlung von Daten, deren Relevanz für die Deckung des Fachkräftebedarfs nicht erkennbar ist. Es ist bekannt, dass zuverlässige Prognosen über branchenbezogene Fachkräftebedarfe nur mit einem sehr kurzen Zeithorizont erstellt werden können und sehr spezifische Daten erfordern, die teilweise selbst auf regionaler Ebene nicht zur Verfügung stehen. Eine aussagekräftige Prognose auf EU-Ebene ist angesichts der methodischen Schwierigkeiten nicht denkbar. Es darf kein hoher Aufwand für die Sammlung von Daten betrieben werden, die keine sinnvolle Funktion erfüllen können.
- 17. Der Bundesrat unterstützt grundsätzlich die Forderung an die Mitgliedstaaten, dem Vorschlag der Modernisierung der Richtlinie 2005/36/EG über Berufsqualifikationen zu folgen und damit die dringend notwendige Anerkennung von Berufsqualifikationen zu erleichtern. Es ist ein weiter Schritt, das europäische Fachkräftepotenzial optimal nutzbar zu machen und die Freizügigkeit in Europa zu verbessern. Entsprechende Vorschläge wurden vom Bundesrat im Vorfeld eingebracht.
- 18. Der Bundesrat weist darauf hin, dass er sich nachdrücklich gegen einige Punkte des Vorschlags der Kommission zur Novellierung der Richtlinie über die Anerkennung von Berufsqualifikationen ausgesprochen hat, insbesondere gegen eine zwölfjährige allgemeine Schulbildung als Zugangsvoraussetzung für die Krankenpflege- und Hebammenausbildung. Die Erhöhung dieser Voraussetzungen als Bedingung für den Verbleib insbesondere der deutschen Gesundheits- und Krankenpflegerinnen und -pfleger im System der automatischen Anerkennung ist geeignet, die Nachwuchsprobleme im Bereich der Pflegefachkräfte erheblich zu verschärfen.
- 19. Wie oben erwähnt, ist vorgesehen, im Bereich des Systems der automatischen Anerkennung die Zugangsvoraussetzungen für die Ausbildung in der Krankenpflege und für Hebammen von einer zehnjährigen auf eine zwölfjährige allgemeine Schulbildung anzuheben. Im Hinblick auf die geplante generalistische Pflegeausbildung in Deutschland wäre mittelbar auch die Altenpflegeausbildung davon betroffen. Das lehnt der Bundesrat ab. Mit dem Vorhaben würden die Bemühungen, die Ausbildungszahlen der genannten Berufsbilder zu erhöhen, weiter erschwert - das ist vor dem Hintergrund des Fachkräftebedarfs kontraproduktiv.
Eine Anerkennung von Berufsqualifikationen, die in Drittstaaten erworben wurden, ist ein Beitrag - löst jedoch die Herausforderung der Fachkräftesicherung im EU-Raum nicht. Die Qualifikationspotenziale im EU-Bildungsraum selbst sind bisher noch nicht annähernd ausgeschöpft worden. Sie bilden daher die wichtigste Quelle und Grundlage für die Fachkräftesicherung in der EU, die jedoch weitere Bildungsanstrengungen in den Mitgliedstaaten erforderlich macht. Dazu gehören auch Maßnahmen zur Verbesserung der Mobilität der Fachkräfte und zur Förderung der Freizügigkeit.
- 20. Die Einführung eines europäischen Berufsausweises ist daher positiv zu bewerten. Der Bundesrat hebt allerdings die Einführung auf freiwilliger Basis hervor und sieht zudem erhebliche Bedenken hinsichtlich des mit Vorlage des Berufsausweises verbundenen Ersatzes des Anerkennungsverfahrens. Der Berufsausweis darf nicht Ersatz für ein durchzuführendes Anerkennungsverfahren sein. Auch bei Vorlage des Berufsausweises muss grundsätzlich die Qualifikation durch die Anerkennungsbehörde geprüft werden können.
- 21. Der Bundesrat spricht sich für die Analyse des Kompetenzbedarfs der Pflegefachkräfte als Voraussetzung für eine Novellierung der Bedingungen für die automatische Anerkennung von Pflegefachkräften aus. Den Plan der Kommission, einen Europäischen Qualifikationsrat einzurichten, der den Kompetenzbedarf unter Berücksichtigung des Vorschlags zur Novellierung der Berufsanerkennungsrichtlinie analysiert, lehnt der Bundesrat ab und fordert, zunächst den Kompentenzbedarf zu analysieren und darauf aufbauend die Voraussetzungen für die Teilnahme am System der automatischen Anerkennung in der Krankenpflege zu novellieren. Da der Kompetenzbedarf der Berufsgruppen im Gesundheitswesen unmittelbar mit den Aufgaben, die ihnen im Gesundheitssystem übertragen werden, zusammenhängt, kann die Festlegung der erforderlichen Kompetenzen nicht allein den berufspolitischen Vertretungen überlassen werden. Vielmehr sind die zuständigen staatlichen Organe zu beteiligen.
- 22. Der Bundesrat spricht sich nachdrücklich gegen Empfehlungen der Kommission zu Ausbildungserfordernissen für Assistenzberufe im Gesundheitswesen aus, da sie in den vertraglich geschützten Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten eingreifen. Da das Bundesverfassungsgericht entschieden hat, dass die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes nach Artikel 74 Absatz 1 Nummer 19 des Grundgesetzes (Zulassung zu den Heilberufen) nicht die Regelung der Ausbildungsanforderungen an die Assistenzberufe in der Pflege umfasst, sind die Länder dafür zuständig. Nicht nur aus kompetenzrechtlichen Erwägungen, sondern auch wegen mangelnder Praktikabilität sind von allen Mitgliedstaaten anzuwendende Rahmenvorgaben für die Ausbildung in der Pflegeassistenz und die Weiterbildung in den Pflegeberufen angesichts der Unterschiedlichkeit der Systeme nicht denkbar.
- 23. In formaler Hinsicht bedauert der Bundesrat, dass die Mitteilung der Kommission aufgrund der neun dazugehörigen Arbeitsdokumente sehr unübersichtlich ist. Ferner erachtet er es für äußerst problematisch, dass nur zwei der neun Arbeitsdokumente in deutscher Sprache verfügbar sind. Dies erschwert eine effektive inhaltliche Auseinandersetzung mit den Vorschlägen der Kommission.
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- 24. Der Ausschuss für Frauen und Jugend, der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und der Wirtschaftsausschuss empfehlen dem Bundesrat, von der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG Kenntnis zu nehmen.