Der Bundesrat hat in seiner 885. Sitzung am 8. Juli 2011 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt die Initiative der Kommission, den Binnenmarkt durch die Formulierung europäischer Standards für eine gute Unternehmensführung (Corporate Governance) zu stärken. Er teilt die Ansicht, dass solche Standards ebenso wie die soziale Verantwortung von Unternehmen wesentliche Faktoren für das - durch die Wirtschafts- und Finanzkrise beschädigte - Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in den Binnenmarkt sind. Der Bundesrat hat deshalb bereits das im Juni 2010 vorgelegte Grünbuch zur Corporate Governance in Finanzinstituten und Vergütungspolitik unterstützt - vgl. BR-Drucksache 337/10(B) - und darauf hingewiesen, dass unverhältnismäßige Risikobereitschaft auch im Finanzsektor häufig auf das Fehlen wirksamer Kontrollmechanismen zurückzuführen ist.
Zu Recht greift die Kommission dieses Thema nunmehr generell auf.
- 2. Der Deutsche Corporate Governance Kodex (DCGK) richtet sich in erster Linie an börsennotierte Gesellschaften; eine Beachtung des Kodexes wird auch nicht börsennotierten Gesellschaften empfohlen. Die gesetzliche Pflicht zur Abgabe einer Entsprechenserklärung (vgl. § 161 AktG) trifft allerdings grundsätzlich nur börsennotierte Unternehmen. Eine derartige Differenzierung befürwortet der Bundesrat auch auf europäischer Ebene, um den besonderen Anforderungen an börsennotierte Gesellschaften Rechnung zu tragen. Eine Ausdehnung auf nicht börsennotierte Gesellschaften ist nach Auffassung des Bundesrates derzeit nicht geboten.
- 3. Der Bundesrat unterstützt die von der Kommission beabsichtigte Stärkung der internen Kontrolle des Unternehmens durch die Verwaltungsräte. Die personelle Trennung von Geschäftsführung und Verwaltungsrat, wie sie im deutschen Gesellschaftsrecht umgesetzt wurde, kann die Wahrnehmung dieser Aufgabe fördern. In diesem Zusammenhang sollte auch überlegt werden, wie einer Beeinträchtigung der Kontrollfunktion des Verwaltungsrates durch "Über-Kreuz-Verflechtungen" von Geschäftsführungs- und Verwaltungsratsmandaten in unterschiedlichen Unternehmen begegnet werden kann.
- 4. Der Bundesrat sieht in der gleichzeitigen Wahrnehmung mehrerer Verwaltungsratsposten in verschiedenen Gesellschaften eine Gefahr für die wirkungsvolle Arbeit des Verwaltungsrates und die umfassende Wahrung der Unternehmensinteressen, weil sie eine hinreichende Befassung mit dem jeweiligen Unternehmen erschwert und zu Interessenkollisionen führen kann. Es sollte deshalb erwogen werden, die in dem Grünbuch "Corporate Governance in Finanzinstituten" angedachte Begrenzung der Anzahl gleichzeitig wahrnehmbarer Mandate von Verwaltungsratsmitgliedern auf maximal drei als allgemeine Vorgabe zu übernehmen.
- 5. Die Überwachungsfunktion des Verwaltungsrates umfasst im deutschen Recht nicht nur die vergangenheitsbezogene Kontrolle, sondern auch eine präventive Beratung des Geschäftsführungsorgans über die künftige Geschäftspolitik. Dem Verwaltungsrat kommt dadurch auch Verantwortung für ein nachhaltiges Wirtschaften und die dauerhafte Rentabilität der Gesellschaft zu. Die von der Kommission erwogene Einbeziehung des Verwaltungsrates in die Risikopolitik der Gesellschaft wird demnach im deutschen Recht bereits praktiziert. Allerdings sollten die Risikoverantwortlichkeiten der zuständigen Organe möglichst klar gegeneinander abgegrenzt werden, um zu vermeiden, dass die Funktion des Verwaltungsrates als Kontrollorgan aufgeweicht wird und die nach hiesiger Auffassung notwendige Trennung von der Geschäftsführung verloren geht.
- 6. Der von der Kommission vorgeschlagene Mechanismus des "comply or explain" ermöglicht eine Selbstkontrolle der Unternehmen und ist zudem geeignet, die Information der Kapitalmarktteilnehmer über das Unternehmen sicherzustellen und ihnen eine Beurteilung von Abweichungen zu ermöglichen, die sich in der Bewertung der Unternehmensanteile niederschlagen kann. Durch das Prinzip des "comply or explain" kann deshalb eine effektive Sanktionierung durch den Kapitalmarkt und die Öffentlichkeit erreicht werden. Es erscheint deshalb nicht erforderlich, Aufsichtsbehörden mit der Überwachung von Corporate-Governance-Regeln zu betrauen; auch einer staatlichen Überprüfung der Informationsqualität der Erläuterungen bedarf es nicht. Zudem wäre die Einrichtung einer staatlichen Aufsicht mit dem Empfehlungscharakter von Corporate-Governance-Regeln und deren Wirkmechanismus schwerlich vereinbar. Sie würde außerdem zu unerwünschter Bürokratisierung führen.
Aus den gleichen Gründen sollte die Zuziehung externer Berater grundsätzlich den Unternehmen überlassen bleiben.
- 7. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.