Punkt 6 der 878. Sitzung des Bundesrates am 17. Dezember 2010
Der Bundesrat möge beschließen, zu dem vom Deutschen Bundestag am 12. November 2010 verabschiedeten Gesetz zu verlangen, dass der Vermittlungsausschuss gemäß Artikel 77 Absatz 2 des Grundgesetzes mit dem Ziel der Aufhebung des Gesetzes einberufen wird.
Begründung:
I. Der Bundesrat lehnt das vorliegende Gesetz aus folgenden Gründen ab:
- 1. Das Gesetz gefährdet die Grundlagen der Gesetzlichen Krankenversicherung, indem es das Grundprinzip der solidarischen Finanzierung aufgibt.
- 2. Das Gesetz verpasst den wichtigen Einstieg in eine gerechte Lastenverteilung, da andere Einkommensarten wie Miet- und Kapitaleinkünfte nicht berücksichtigt werden.
- 3. Das Gesetz trägt zur Spaltung unserer Gesellschaft bei, indem die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer künftig allein die Lasten steigender Gesundheitsausgaben tragen. Das ist sozial ungerecht und hemmt die volkswirtschaftliche Entwicklung.
- 4. Das Gesetz verschärft das soziale Ungleichgewicht, da es kleine Einkommen mehr belastet als große. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bzw. Rentnerinnen und Rentner mit einem Einkommen in Höhe von 800 Euro werden bei einem Zusatzbeitrag in Höhe von 16 Euro mit 10,2 Prozent ihres Einkommens zur Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung herangezogen - ein Anstieg um 29 Prozent gegenüber heute -, während Personen mit einem Einkommen an der heutigen Beitragsbemessungsgrenze nur 8,6 Prozent ihres Einkommens für den Krankenversicherungsschutz aufwenden müssen.
- 5. Das Gesetz vermindert angesichts der zusätzlichen finanziellen Belastungen vor allem für Geringverdiener die Attraktivität sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung. Das ist arbeitsmarkt- und sozialpolitisch kontraproduktiv.
- 6. Das Gesetz hat sozialpolitisch absurde Folgen, wenn Personen mit sehr hohen Kapitaleinkünften bei geringem sozialversicherungspflichtigem Einkommen einen "Sozialausgleich" beanspruchen können. Zudem können sogar Versicherte, die gar keinen Zusatzbeitrag zahlen oder sogar eine Beitragserstattung erhalten, unter bestimmten Umständen einen Sozialausgleich beanspruchen.
- 7. Das Gesetz setzt die Klientelpolitik der Bundesregierung fort, indem es die Private Krankenversicherung zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung stärkt. Durch den erleichterten Wechsel in die Private Krankenversicherung bereits nach einmaligem Überschreiten der Jahresarbeitsentgeltgrenze gehen der Gesetzlichen Krankenversicherung einkommensstarke Versicherte und damit Finanzmittel in beträchtlichem Umfang verloren. Auch daher kann von einer nachhaltigen Reform der Finanzierung nicht die Rede sein. Nicht zuletzt mindert auch die Ausweitung der Zusatzbeiträge die Attraktivität der Gesetzlichen Krankenkassen für freiwillig Versicherte.
- 8. Das Gesetz schafft mehr Bürokratie, da die Ausweitung der Zusatzbeiträge und die Umsetzung eines "Sozialausgleichs" den Verwaltungsaufwand für Arbeitgeber, Krankenkassen und Bürgerinnen und Bürger erhöhen.
- 9. Das Gesetz ist ein Schuldenaufbauprogramm, da die Finanzierung des "Sozialausgleichs" vor allem langfristig nicht gesichert ist. Weder wird deutlich, wie sich der Mittelbedarf für den Sozialausgleich bei steigenden Gesundheitsausgaben entwickelt, noch ist geregelt, wie die Mittel aufgebracht werden können. Es ist angesichts eines nach internationalen Erfahrungen stark steigenden Mittelbedarfs und der Verpflichtung zur Schuldenbremse zu erwarten, dass der dann notwendige Steuerzuschuss nicht bewältigt werden kann und die Belastungen der Versicherten weiter steigen werden.
- 10. Das Gesetz ist eine reine Kostendämpfungsmaßnahme, die keine strukturverbessernden und effizienzsteigernden Wirkungen entfaltet. Es belastet die Leistungserbringer in unterschiedlichem Maße und gefährdet im Zuge eines drohenden Personalabbaus die Qualität der Patientenversorgung in den Krankenhäusern.
- 11. Das Gesetz liefert keine Antwort auf schon bestehende und absehbar wachsende Probleme der Primärversorgung, besonders im ländlichen Raum. Es trägt nicht dazu bei, die hausärztliche Versorgung zu stärken.
II. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, unverzüglich einen neuen Gesetzentwurf vorzulegen.
Dabei
- 1. ist sicherzustellen, dass der Charakter der Gesetzlichen Krankenversicherung als ein bundesweites Solidarsystem erhalten bleibt,
- 2. ist das System der Zusatzbeiträge in ein für Versicherte und Krankenkassen praktikables und gerechtes System zu überführen und generell zur paritätischen Finanzierung zurückzukehren,
- 3. muss von der Einführung einer unsozialen Kopfpauschale Abstand genommen und am System einkommensabhängiger Beiträge grundsätzlich festgehalten werden,
- 4. sind neue finanzielle Risiken und Belastungen für die Gesetzliche Krankenversicherung sowohl auf der Einnahmen- als auch auf der Ausgabenseite zu vermeiden,
- 5. sind neue bürokratischen Lasten für alle Beteiligten im Gesundheitswesen zu vermeiden; dazu zählen besonders Maßnahmen, die die Verwaltungsausgaben der Gesetzlichen Krankenkassen automatisch in die Höhe treiben, wie zum Beispiel der Sozialausgleich und die vorgesehene Einzelkontenführung für Zusatzbeiträge,
- 6. muss am Sachleistungsprinzip, das sich zum Schutz der Versicherten vor finanzieller Überforderung bewährt hat, festgehalten werden,
- 7. ist am morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich festzuhalten, um auch zukünftig gleiche Wettbewerbschancen der Krankenkassen, unabhängig von ihrer Versichertenstruktur, zu gewährleisten,
- 8. ist auf Klientelpolitik zugunsten der Privaten Krankenversicherung und bestimmter Leistungserbringer zu verzichten,
- 9. sind die Voraussetzungen für die Schaffung eines einheitlichen Versicherungsmarktes und für die Verbreiterung der Einnahmenbasis der Krankenkassen im Sinne einer Bürgerversicherung zu schaffen,
- 10. sind auch Regelungen aufzunehmen, die - ergänzend zu bereits gegangenen Schritten - zu einer Sicherung einer bedarfsgerechten hausärztlichen Versorgung auch in der Fläche beitragen, denn diese dulden keinen Zeitaufschub,
- 11. muss der Bedeutung der gesundheitlichen Prävention für die Sicherung einer nachhaltigen Finanzierbarkeit der Gesetzlichen Krankenversicherung angemessen Rechnung getragen werden.