Punkt 2 der 866. Sitzung des Bundesrates am 12. Februar 2010
Der Bundesrat möge beschließen:
- 1. Nach dem schweren Einbruch der deutschen Wirtschaft im Winterhalbjahr 2008/09 hat mittlerweile ein Erholungsprozess eingesetzt.
Insgesamt sind die Rückschläge durch die schwere Finanz- und Wirtschaftskrise aber bei Weitem noch nicht überwunden. Angesichts fortdauernder Risiken bleibt unsicher, ob sich die konjunkturelle Stabilisierung als nachhaltig erweisen wird. So ist in Anbetracht der nach wie vor starken Unterauslastung der gesamtwirtschaftlichen Produktionskapazitäten mit einer Verschlechterung der Lage auf dem Arbeitsmarkt zu rechnen. Die öffentlichen Haushalte befinden sich infolge der starken Abschwächung der gesamtwirtschaftlichen Aktivität in einer äußerst angespannten Situation.
- 2. Der Bundesrat stellt fest, dass die Stabilisierungstendenzen in der deutschen Wirtschaft nicht zuletzt durch umfangreiche konjunkturstützende Maßnahmen des Staates angestoßen worden sind. Mit den beiden beschlossenen Konjunkturprogrammen und dem weitgehenden Wirkenlassen der automatischen Stabilisatoren haben Bund und Länder einen maßgeblichen Beitrag zur Bewältigung des Konjunktureinbruchs geleistet. Neben einer konjunkturellen Belebung zielen die Maßnahmen auch darauf ab, dass Deutschland aus der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise gestärkt und zukunftsfest hervorgeht. Die vorübergehenden Belastungen in den öffentlichen Haushalten sind daher auch mit den längerfristigen Zielen der Finanzpolitik kompatibel.
- 3. Der Bundesrat erkennt vor diesem Hintergrund an, dass die aktuelle Wirtschaftskrise einen starken Anstieg der Nettokreditaufnahme des Bundes auch im Jahr 2010 erforderlich macht. Die im Bundeshaushalt vorgesehene Nettokreditaufnahme beläuft sich auf mehr als 85 Mrd Euro und erreicht damit eine für die Geschichte der Bundesrepublik beispiellose Höhe. Allerdings beruht nur ein Teil dieser Kredite auf konjunkturbedingt zu erwartenden Ausfällen bei den Steuereinnahmen und den Mehrausgaben für den Arbeitsmarkt und die soziale Sicherung.
- 4. Die vorübergehende Inkaufnahme höherer Finanzierungsdefizite ändert jedoch nichts an dem Erfordernis, die Dynamik der Staatsverschuldung zu bremsen und bei konjunktureller Normallage und abseits krisenhafter Ausnahmesituationen einen strukturellen Haushaltsausgleich ohne die Aufnahme neuer Kredite sicherzustellen. Der Bundesrat stellt fest, dass die Bundesregierung dieser Zielsetzung im Bundeshaushalt 2010 lediglich unzureichend nachkommt. Stattdessen wird die Einnahmebasis von Bund, Ländern und Kommunen durch die im sogenannten Wachstumsbeschleunigungsgesetz enthaltenen - wachstumspolitisch verfehlten und verteilungspolitisch bedenklichen - Maßnahmen zusätzlich auf Dauer geschwächt. In diesem Zusammenhang erwartet der Bundesrat, dass die notwendige Verbesserung des Bundeshaushalts nicht durch die Verschiebung von Einnahmepotenzialen und/oder Ausgabenverpflichtungen auf Kosten anderer staatlicher Ebenen realisiert wird.
- 5. Vor diesem Hintergrund betont der Bundesrat mit Nachdruck, dass angesichts der angespannten Haushaltslage für weitere Steuersenkungen auf absehbare Zeit kein Spielraum besteht. Auf Seiten der Bundesregierung erhobene Forderungen in diese Richtung nehmen eine Verfehlung der Vorgaben der neuen Schuldenregel in Kauf und ignorieren die Vorgaben aus dem Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt. Auch die gravierenden wirtschaftlichen und finanzpolitischen Probleme der Länder würden dadurch nicht gelöst, sondern verschärft. Der Bundesrat erinnert daran, dass die seit dem Herbst 2008 beschlossenen Steuererleichterungen die Einnahmebasis des Staates dauerhaft um mehr als 34 Mrd Euro schwächt, wovon auf den Bund rund 16 Mrd Euro und auf Länder und Kommunen rund 18 Mrd Euro entfallen. Auf längere Sicht wird damit eine Entwicklung vorgezeichnet, die unausweichlich in einer Einschränkung der Handlungsfähigkeit des Staates - gerade bei der Sicherung einer wachstumsfreundlichen Infrastruktur, bei Investitionen in notwendige zukunftsrelevante Bereiche und bei der Vermeidung krisenhafter Entwicklungen - besteht. Der Bundesrat bekennt sich vor diesem Hintergrund ausdrücklich zu dem auf dem Qualifizierungsgipfel am 22. Oktober 2008 vereinbarten Ziel, den Anteil der Aufwendungen für Bildung und Forschung bis zum Jahr 2015 gesamtstaatlich auf 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen. Der Bundesrat verweist gleichzeitig darauf, dass unter den Bedingungen der neuen Schuldenregel und den aktuellen finanz- und wirtschaftspolitischen Gegebenheiten die Finanzierung von Seiten der Länder mit den vorhandenen Ressourcen nicht sichergestellt werden kann und dass es deshalb im Rahmen der verfassungsrechtlichen Kompetenzordnung einer Unterstützung der Länder durch den Bund in Form zusätzlicher Umsatzsteuermittel bedarf.
- 6. Die Bundesregierung hat sich auf haushaltspolitische Grundsätze festgelegt.
Nach Auffassung des Bundesrates bleibt die Bundesregierung mit der Vorlage des Bundeshaushalts 2010 weit hinter ihren eigenen Ansprüchen und Ankündigungen zurück. Insgesamt bietet die Haushalts- und Finanzpolitik der Bundesregierung ein in höchstem Maße inkonsistentes und in sich widersprüchliches Bild: Auf der einen Seite werden umfangreiche neue Abgabensenkungen angekündigt. Auf der anderen Seite sind die Konsolidierungszwänge im Bundeshaushalt mit Blick auf die angestrebte Einhaltung der neuen Schuldenregel und die Vorgaben des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts enorm, ohne dass die Bundesregierung die ins Auge gefassten Konsolidierungsmaßnahmen bislang auch nur ansatzweise verdeutlicht und konkretisiert hätte. Gleichzeitig wird das strukturelle Defizit im Bundeshaushalt 2010 - das als Referenzgröße für die notwendigen Konsolidierungsschritte des Bundes hin zur Einhaltung der neuen Schuldenregel im Jahr 2016 dient - im Vergleich zum vorangegangenen Entwurf um mehr als 25 Mrd Euro ausgeweitet. All dies widerspricht fundamental den Grundsätzen der neuen Schuldenregel, stellt die Glaubwürdigkeit der fiskalischen Regeln insgesamt in Frage und trägt bereits heute zu einer erheblichen Verunsicherung der privaten Haushalte und Unternehmen bei.
- 7. Die Finanzlage der Kommunen hat sich infolge des konjunkturellen Einbruchs, aber auch wegen der Steuersenkungspolitik der Bundesregierung dramatisch verschlechtert. In einer Vielzahl von Gemeinden droht die Entlassung von Beschäftigten, die Einschränkung elementarer Dienstleistungen und die Erhöhung der Gebühren für Kindergärten sowie Kultur- und Sporteinrichtungen. In dieser schwierigen Situation fordert der Bundesrat die Bundesregierung auf, ein kurzfristig wirksames Maßnahmenpaket zur Stützung der Kommunalhaushalte aufzulegen, das unter anderem eine vollständige Kompensation der Kommunen für die durch das so genannte Wachstumsbeschleunigungsgesetz entstandenen Einnahmeausfälle enthält.
Zur Stabilisierung der Finanzlage der Kommunen ist es ferner notwendig, dass der Bund kurzfristig seine Beteiligung an den Kosten der Unterkunft befristet erhöht. Darüber hinaus spricht sich der Bundesrat dafür aus, im Interesse der notwendigen Entlastung der Kommunalhaushalte die Anpassung der Bundesbeteiligung an den Kosten der Unterkunft nicht länger an der Entwicklung der Zahl der Bedarfsgemeinschaften, sondern an den tatsächlich entstandenen Unterkunftskosten zu orientieren.