Der Bundesrat hat in seiner 854. Sitzung am 13. Februar 2009 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
I. Zur Vorlage allgemein
- 1. Der Bundesrat begrüßt die auf der Grundlage der Richtlinie 86/609/EWG ergriffene Initiative der Kommission, die 22 Jahre alte Richtlinie 86/609/EWG zum Schutz der für Versuche und andere wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere zu überarbeiten und diese dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse anzupassen und EU-weit zu harmonisieren. Die Kommission trägt damit aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und dem Protokoll über den Tierschutz und das Wohlergehen der Tiere zum EGV vom 10. November 1997 Rechnung.
- 2. Der Bundesrat teilt die Auffassung, dass dem Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere eine große Bedeutung zukommt. Der Bundesrat unterstützt daher mit Nachdruck die vorgesehene Förderung der Entwicklung, Validierung und Einführung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden zum Tierversuch auf Ebene der EU und darüber hinaus, zu der die Forschungssysteme und -einrichtungen aller Mitgliedstaaten ihren Beitrag leisten müssen, und begrüßt die in der Bundesrepublik Deutschland bereits aufgelegten Programme.
- 3. Der Bundesrat sieht die Notwendigkeit, EU-weit gleiche Rahmenbedingungen für Forschung und Industrie zu schaffen und zum Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten durch Präzisierung von Zulassungs-, Unterbringungs- und Pflegeanforderungen für Versuchstiere einheitliche Ziele und Mindeststandards sicherzustellen. In diesem Zusammenhang verweist der Bundesrat auf die in der Bundesrepublik Deutschland bereits aufgelegten Programme zum Tierschutz sowie die im deutschen Tierschutzgesetz getroffenen Regelungen, die bereits jetzt im internationalen Vergleich als sehr weitgehend anzusehen sind und mit denen ein sehr hoher Standard etabliert wurde.
- 4. Der Bundesrat ist jedoch der Ansicht, dass der Vorschlag der Kommission einer grundlegenden Überarbeitung bedarf. Der Bundesrat bittet daher die Bundesregierung, bei den Beratungen des Richtlinienvorschlags im Rat insbesondere dafür Sorge zu tragen, dass folgende Änderungs- und Ergänzungsvorschläge berücksichtigt werden und die dringend gebotene qualifizierte sprachliche Überarbeitung der deutschen Fassung erfolgt. Der Richtlinienvorschlag ist mit dem Ziel eines fachlich begründeten, systematischen Aufbaus der Inhalte sowie einer wesentlichen Straffung zu überarbeiten.
- 5. Die Richtlinie sollte ferner eine angemessene Abwägung zwischen den Belangen des Tierschutzes und der Forschungsfreiheit vornehmen. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung daher, im Rahmen der Beratungen auf EU-Ebene auf die aus der Sicht des Bundesrates dringend erforderlichen Änderungen und Ergänzungen der Vorlage in enger Abstimmung mit den Ländern hinzuwirken.
- 6. Im Einzelnen nimmt der Bundesrat zu den vorgeschlagenen Maßnahmen wie folgt Stellung:
II. Zu den Artikeln
- 7. Die Definitionen und Bezeichnungen sind zum Teil nicht ausreichend bestimmt oder fachlich unpräzise und deshalb zu überarbeiten. Beispielsweise sind die Begriffe "Fischlarven", "Praktiken, die für anerkannte Zwecke der Tierhaltung angewandt werden", "nicht invasive Verfahren" oder der "Artbegriff" nach Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe b und Anhang I eindeutig zu definieren.
- 8. Alle Regelungen sind im Hinblick auf die vorgesehenen Verwaltungs- und Kontrollverfahren darauf zu überprüfen, ob sie notwendig, auf Grund des zu erwartenden Aufwands bei ihrer Umsetzung gerechtfertigt, fachlich sinnvoll und aufeinander abgestimmt sind.
- 9. Dies gilt insbesondere hinsichtlich folgender Punkte:
- - Der Geltungsbereich der Richtlinie ist eindeutig zu bestimmen. In Artikel 2 (Geltungsbereich) sind z.B. "Eingriffe zu Lehrzwecken" nicht genannt, in Artikel 5 (Zwecke der Verfahren) ist jedoch unter Nummer 6 die "Hochschul- oder Berufsbildung" aufgeführt.
- - Die Einbeziehung von Larven sowie von embryonalen und fötalen Formen (Artikel 2) in den Geltungsbereich der Richtlinie sollte nochmals auf die Durchführbarkeit hin überprüft werden.
- - Die Unterscheidung zwischen genehmigungspflichtigen und anzeigepflichtigen Tierversuchen bzw. Eingriffen und Behandlungen hat sich in der Bundesrepublik Deutschland bewährt und muss weiterhin in Anlehnung an das deutsche Tierschutzgesetz möglich sein.
Ein Großteil der gesetzlich vorgeschriebenen Tests wird über die Anzeigepflicht gehandhabt. Der Anzeigepflicht sollten in Anlehnung an das deutsche Tierschutzgesetz weiterhin - gesetzlich vorgeschriebene Versuche,
- - Eingriffe und Behandlungen nach erprobten Verfahren (z.B. Diagnostik),
- - Eingriffe und Behandlungen zur Gewinnung von Stoffen,
- - Gewebe- oder sonstige Probeentnahmen,
- - Parasitenzyklushaltung in lebenden Tieren und
- - Eingriffe und Behandlungen zur Aus-, Fort- und Weiterbildung unterliegen. Für das Töten von Wirbeltieren (Versuchstieren) zu wissenschaftlichen Zwecken ist ebenfalls eine Anzeigepflicht notwendig.
In diesen Fällen ist die Einbeziehung der vorgesehenen "Ethikkommissionen" in der Regel verzichtbar. Es bedarf jedoch auch hier in Entsprechung zu den Erwägungsgründen 37 und 38 einer ethischen Bewertung durch den Antragsteller und einer Prüfung durch die zuständige Behörde.
- - Der Bundesrat erkennt das Bemühen der Kommission an, mit Artikel 15 ein Verfahren einzuführen, das den Schweregrad von Eingriffen und Behandlungen in den Mittelpunkt der Prüfung stellt.
Die Festlegung von Definitionen der Belastungskategorien ist jedoch so maßgeblich für die Wirkungen und Konsequenzen der Richtlinie, dass sie auch formal Teil des Beschlusses über die Richtlinie sein muss. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die sich daraus ergebenden Auswirkungen auf die Zulässigkeit und Häufigkeit von biomedizinischen Versuchen, die für die Humanmedizin unerlässlich sind.
Der Bundesrat hält dies für einen möglichen Ansatz zur Weiterentwicklung des Tierschutzrechts, sieht jedoch noch Beratungsbedarf.
- - Der Bundesrat begrüßt das Bemühen, die Anzahl der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere zu verringern. Das in Artikel 16 vorgesehene Absehen von einer erneuten Verwendung von Versuchstieren ist jedoch hinsichtlich der Geeignetheit zum Erreichen dieses Ziels zu überprüfen.
- - Unabhängig von den im Richtlinienvorschlag genannten Ethikkommissionen der Einrichtungen (Artikel 25 und 26) und dem nationalen Ausschuss für Tierschutz und -ethik (Artikel 47) ist eine bei den Genehmigungsbehörden angesiedelte, beratende Kommission analog zu § 15 Absatz 1 des deutschen Tierschutzgesetzes vorzusehen (Artikel 37).
- - Die Vorgaben zu ethischen Bewertungen (Häufigkeit und Inhalt) und den hierfür zuständigen Gremien sind zu überarbeiten und zu präzisieren. Die im deutschen Tierschutzgesetz ( § 15 TierSchG) vorgesehene Einbeziehung von Ethikkommissionen bei der Genehmigungsbehörde in die Beurteilung von Eingriffen und Behandlungen hat sich in Deutschland über viele Jahre bewährt. Nicht nachvollziehbar ist, welche Aufgaben "lokalen Ethikkommissionen" in den Einrichtungen, insbesondere in Zucht- und Liefereinrichtungen übertragen werden sollen (Artikel 25 und 26). Die vorgeschlagenen Aufgaben im Rahmen der Tierhaltung bzw. im Zusammenhang mit der Durchführung von Eingriffen und Behandlungen liegen in der Verantwortung der für die Tierhaltung verantwortlichen Person bzw. des Versuchsleiters und des Tierschutzbeauftragten.
Die Einrichtung eines "nationalen Ausschusses für Tierschutz und -ethik" (Artikel 47) kann grundsätzlich sinnvoll sein; es ist jedoch festzulegen, welche (beratenden) Aufgaben dieser haben soll (wissenschaftliche Ausrichtung, z.B. qualifizierte Bewertung von Versuchsmethoden einschließlich Alternativmethoden zum Tierversuch, Unterstützung der lokalen Behörden insbesondere als Anlaufstelle für fachliche Fragen).
- - Sachkundenachweise und personenbezogene Erlaubnisse (Artikel 20) sind grundsätzlich unbefristet, ggf. mit Beschränkung auf eine bestimmte Einrichtung und die Art der Tätigkeiten zu erteilen. Sie können bei Wegfall der Voraussetzungen oder bei Zuwiderhandlungen entzogen werden.
Die Sachkunde und die Zuverlässigkeit sind anhand einer geeigneten beruflichen Qualifikation (Ausbildung/Tätigkeit) oder einer erfolgreich abgeschlossenen, geeigneten Fort-/Weiterbildung ohne ergänzende Bescheinigung durch die zuständige Behörde nachzuweisen. Die Voraussetzungen hierfür sind im Rahmen von Leitlinien im Ausschussverfahren gemäß Artikel 51 auszugestalten.
- - In jeder Einrichtung, die Tierversuche durchführt (Verwendereinrichtung), und in Zuchteinrichtungen ist ein Tierschutzbeauftragter analog der Regelung im deutschen Tierschutzgesetz zu bestellen (Artikel 24). Für die Tätigkeit sind klare Vorgaben bezüglich der Rechte und Pflichten entsprechend § 8b des deutschen Tierschutzgesetzes zwingend geboten.
- - Die Frequenz behördlicher Kontrollen in den Einrichtungen (Artikel 33) ist auf der Grundlage einer Risikobewertung individuell festzulegen. Die Einrichtungen sollten dabei im Regelfall zweimal jährlich kontrolliert werden. Über die Kontrolle einzelner Projekte ist ebenfalls risikoorientiert im Einzelfall zu entscheiden.
Darüber hinaus sieht der Bundesrat neben den vorgesehenen Behördenaudits durch die Kommission keine Notwendigkeit für staatenübergreifende zusätzliche Kontrollen. Deshalb ist Artikel 33 Abs. 6 zu streichen.
- - Die Zielrichtung für eine zusätzliche rückwirkende Projektbewertung (Artikel 38) ist nicht klar definiert, so dass nicht eindeutig festgelegt werden kann, welcher Zweck beabsichtigt ist und welcher praktische Nutzen daraus für den Tierschutz gezogen werden kann.
- - Der Bundesrat spricht sich gegen die Veröffentlichung von Projektdaten gemäß Artikel 40 aus. Insbesondere bei der Forschung im Zusammenhang mit der Entwicklung neuartiger Produkte ist der Datenschutz zu beachten, so dass Betriebsgeheimnisse geschützt werden, und der Schutz der Wettbewerbsfreiheit sicherzustellen. Der Bundesrat lehnt zudem den in diesem Zusammenhang zu erwartenden erheblichen administrativen Aufwand ab. Detaillierte Informationen der Öffentlichkeit zu einzelnen Forschungszwecken und ggf. zu den Einrichtungen, in denen bestimmte Versuche durchgeführt werden, sind nach Auffassung des Bundesrates zur Umsetzung des Zwecks dieser Richtlinie nicht erforderlich. Die bereits bestehenden Statistiken bieten eine ausreichende Grundlage für die Information der Öffentlichkeit.
- - Der Bundesrat ist der Auffassung, dass eine Festlegung von Bearbeitungsfristen (Artikel 43) auf EU-Ebene nicht erforderlich ist. Derartige Regelungen sollten den Mitgliedstaaten überlassen bleiben. Sollte dies nicht durchsetzungsfähig sein, weist der Bundesrat darauf hin, dass im Hinblick auf das erforderliche Verwaltungsverfahren die Entscheidungsfristen für die Genehmigung von Tierversuchen mit maximal 30 bzw. in Ausnahmefällen 60 Tagen zu kurz sind und auf drei Monate festgelegt werden sollten. Nach den Erfahrungen in Deutschland ist eine qualifizierte Bearbeitung von Genehmigungsanträgen mit Beteiligung externer Sachverständiger (Ethikkommission) innerhalb von 30 bzw. 60 Tagen nicht möglich.
- - Die Regelungen zu Primaten und anderen, artenschutzrechtlichen Beschränkungen unterliegenden Arten oder sonstigen, der Natur entnommenen Tieren sind zu präzisieren, zu straffen und zusammenzuführen (Artikel 7 bis 10, 27, 30, 31, 49 bis 51 sowie Anhang III). Der diesbezügliche Regelungsbedarf in der Richtlinie sollte auch unter Berücksichtigung bestehender natur- und artenschutzrechtlicher Regelungen überprüft werden.
- 10. Für die Forschung zum Arterhalt sowie in besonders begründeten Fällen im Rahmen der Grundlagenforschung sollten - unter besonderer Berücksichtigung der Belange des Tierschutzes - Ausnahmen zugelassen werden.
- 11. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, sich bei den Beratungen zu dem Richtlinienvorschlag dafür einzusetzen, dass die Verwendung von Menschenaffen in Verfahren zukünftig nur noch zu Forschungszwecken erlaubt wird, die der Erhaltung dieser Arten oder den Menschenaffen selbst dienen.
Mit ihrer genetischen Nähe sind Menschenaffen die dem Menschen am ähnlichsten Tiere. Sie haben hochentwickelte kognitive Fähigkeiten, zeigen ein ausgeprägtes, komplexes Sozialverhalten und besitzen ein eigenständiges Bewusstsein.
Auf Grund ihrer hochentwickelten sozialen Fähigkeiten bestehen bei der Verwendung von Menschenaffen in Versuchen nicht nur ethische Fragen, sondern auch Probleme, den verhaltens- und umweltbedingten sowie den sozialen Bedürfnissen unter Laborbedingungen gerecht zu werden, so dass ihr besonderer Schutz und das grundsätzliche Verbot ihrer Verwendung für Experimente gerechtfertigt sind.
III. Zu den Anhängen
- 12. Die Mindeststandards des am 15. Juni 2006 geänderten Anhangs A des Europäischen Übereinkommens zum Schutz von Versuchstieren sind vollständig in den Anhang IV zu übernehmen. Die Inhalte des Anhangs A wurden mit der Empfehlung der Kommission (2007/526/EG) vom 18. Juni 2007 mit Leitlinien für die Unterbringung und Pflege von Tieren, die für Versuche und andere wissenschaftliche Zwecke verwendet werden, EU-weit umgesetzt. Die Vorgaben in Anhang IV des Richtlinienvorschlags der Kommission enthalten jedoch nur einen Teil der Regelungen des geänderten Anhangs A. So wurden aus dem artspezifischen Teil lediglich die Tabellen für die einzelnen Tierkategorien übernommen, nicht aber die im Zusammenhang mit einer tiergerechten Unterbringung unerlässlichen Informationen zur artgemäßen Haltung. Damit fällt der wichtige Faktor "Refinement/Enrichment" beinahe komplett aus den Regelungen heraus. Die vollständige Aufnahme aller relevanten Informationen aus der Entscheidung in die überarbeitete Richtlinie, soweit diese nicht bereits im Vorschlag der Kommission oder in anderen Rechtsakten der EU, wie z.B. für den Transport, übernommen wurden, wird für unerlässlich erachtet.
- 13. Die Vorgaben in Anhang V zur Tötung von Tieren wurden bislang nicht eingehend fachlich bewertet. Nach erster Einschätzung ist eine vertiefte Prüfung der Darstellung und Bewertung bestimmter Tötungsmethoden erforderlich.
So sind einige der genannten Methoden voraussichtlich in der beschriebenen Form nicht geeignet (z.B. kann nur eine Bestrahlung mit fokussierten Mikrowellen tierschutzgerecht sein; der Betäubungsschlag ist ein unsicheres Verfahren und stark vom Tier und der Ausführung abhängig).
- 14. Die Auflistungen in Anhang VII sind in der vorliegenden Form inhaltlich und in der systematischen Abfolge nicht nachvollziehbar. Artikel 36 in Verbindung mit Anhang VII ist stärker auf die Regelungen des Artikels 37 abzustimmen.
IV. Zur Folgenabschätzung
- 15. Der Bundesrat stellt fest, dass durch die Vorgaben des Richtlinienvorschlags erhebliche Mehrkosten zu erwarten sind.